Einst als Ungetüme der Meere verschrien und gejagt, gelten Pottwale heute als gefährdete Art. Einer, der zu ihrem Schutz beitragen will, ist Nino Pierantonio. Im Mittelmeer erforscht er das Verhalten der Tiere – über ihren einzigartigen Gesang. Unterwegs mit einem, der das Klicken der Pottwale liebt.
Eingezwängt zwischen Schreibtisch und holzgetäfelter Wand hört Nino Pierantonio dem Meer zu. Falten ziehen sich über seine Stirn, während er den Geräuschen aus dem Kopfhörer lauscht. Die Augen zusammengekniffen, den Blick auf den Monitor gerichtet, verfolgt er die Tonspur, die sich als gezackte grüne Linie über den Bildschirm bewegt. „Im Moment höre ich nur die Fähre, das ist dieser Graph“, sagt Pierantonio und zeigt auf den Monitor. Im Bauch des Segelbootes „Pelagos“ aber wartet er auf ein anderes Geräusch.
Es ist ein Warten mit ungewissem Ausgang – manchmal passiert den ganzen Tag gar nichts. Dann werden die Messgeräte eingepackt, das Boot unverrichteter Dinge im Hafen von Sanremo geparkt. Pierantonio horcht in seinen Kopfhörer. Um zu erklären, worauf er eigentlich wartet, schnalzt er dreimal mit der Zunge. Es klingt wie eine Art Klicken. Dieses Geräusch, das ist es, was er hören will. Das Geräusch eines singenden Pottwals.
„Pottwale sind sehr kommunikative Tiere, 80 Prozent der Zeit machen sie Geräusche“, sagt der Forscher. Bis zu 200 Klicks kann der größte aller Zahnwale pro Sekunde produzieren, je näher er seinem Futter kommt, desto häufiger wird geklickt, eine kurze Pause bedeutet: Er frisst.
Jahrhundertelang wurden Pottwale gejagt, ihre Zahl für Tran, Speck und Ambra, ein Stoff aus dem Darm, der zur Parfümherstellung genutzt wurde, dezimiert. Bis heute hat sich die Population nicht erholt. Die International Union for the Conservation of Nature and Natural Resources (IUCN) listet die Spezies als „vulnerable“, im Mittelmeer seit 2006 sogar eine Stufe schärfer: „endangered“, gefährdet.
Zudem drohen neue Gefahren: Geisternetze, Kollisionen mit Schiffen, steigende Meerestemperaturen. Vor allem aber der zunehmende Lärm stört die Tiere. Das Brummen von Schiffsmotoren, das Surren von Windfarmen, das Wummern militärischer und seismischer Erkundungen. Sie stören die Kommunikation der Wale und ihre Nahrungssuche.
Pierantonio will etwas zum Schutz der gefährdeten Tiere beitragen, doch dazu muss er verstehen, wie sie ticken. Oder besser: klicken.
1953 wurde der erste Pottwal von der US Navy auf Tonband aufgenommen. Niemand wusste bis dahin, dass Pottwale Geräusche machen, sagt Pierantonio. Nino Pierantonio, 42 Jahre alt, folgt dem Klicken der Pottwale. Vier Monate im Jahr verbringt er auf dem Segelboot im Mittelmeer, leitet die Feldforschung für die italienische NGO Tethys. Den Rest des Jahres lebt er mit seiner Frau, ebenfalls Meeresbiologin, und den Kindern in England.
Sechs Minuten zum Auftauchen
Odontoceti, Zahnwale, das sind für ihn die interessantesten Wale. Die impulsiven Sounds wie „klick klick klick“ sind es, die Pierantonio faszinieren. Er spricht schnell, seine Hände wirbeln im Takt seiner Worte. Die Geräusche funktionieren ähnlich wie ein Sonar, über das Echo können die Wale navigieren, kommunizieren, Nahrung orten. Er wolle verstehen, warum die Wale das Klicken nutzen, wann und wie sie es einsetzen. So ließen sich Rückschlüsse auf Alter und Verhaltensweise ziehen. Anders als andere Wale nutzen Pottwale nämlich keine Pfeiftöne zur sozialen Interaktion. Für Pierantonio sind Pottwale die Könige der Wale. Wellen schaukeln das Schiff hin und her, die Sonnenspiegelung blendet selbst durch das kleine Bullauge. Unter Deck staut sich die Hitze, auf Pierantonios Stirn haben sich Schweißperlen gebildet. Plötzlich: ein Geräusch. Pierantonios Augen weiten sich. Es klickt. Erst leise, dann lauter werdend. Das Geräusch ist sanft, es klingt wie eine Art Melodie. Klick, klick, klick höre ich durch den Kopfhörer, den Pierantonio mir reicht. Eine Sekunde liegt zwischen den einzelnen Klicks.
Das Besondere: Pottwale erzeugen die Töne nicht mit dem Kehlkopf, sondern mit der Nase. Rechts und links unterhalb des Blaslochs befinden sich eine Art Lippen, durch die sie die Luft pressen. Für menschliche Ohren klingt es wie Klicken. Unterdessen wird der Pottwal lauter, sein Gesang schneller – dann verstummt er. Das Zeichen, dass der Wal auftaucht.
Auf dem Segelboot geht jetzt alles ganz schnell. Pierantonio zieht sich den Kopfhörer vom kahlrasierten Kopf, zwängt sich aus der Sitzecke, greift nach Fernglas und Kamera und spurtet an Deck. „Das Klicken hat aufgehört“, ruft er auf Italienisch übers Boot. Sein Team aus fünf angehenden Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen, die meisten studieren Biologie und nutzen die Zeit an Bord zur praktischen Forschung, macht sich bereit. Die gesamte Crew sucht jetzt das Meer nach einem Zeichen ab: einer Rückenflosse, einer Blaswolke, einer Bewegung. Einmal hätten sie eine ganze Familie Pottwale gesichtet, öfter treffe man aber junge Bullen.
Gut sechs Minuten dauert es, bis der Wal von seinem halbstündigen Tauchgang in bis zu 1.000 Metern Tiefe an die Oberfläche kommt. Sechs Minuten, in denen die Forscher und Forscherinnen dem Tier möglichst nahe kommen wollen. „Der Wal kommt relativ gerade nach oben, aber er macht in der Zeit keine Geräusche. Wir können nur schätzen, wo er auftaucht“, hatte Pierantonio zuvor erklärt.
Das Gesicht mit der Hand gegen die Sonne schirmend, steht er nun am Bug. „Da!“, ruft er laut, „30 Grad Nordwest!“ Eine Blaswolke, Hunderte Meter entfernt. Im 45-Grad-Winkel steigt die Atemwolke in die Höhe, damit ist klar: Es ist ein Pottwal. Der Skipper dreht das Boot und beschleunigt; ein Rochen hüpft erschrocken zur Seite. Wieder atmet der Wal, diesmal ist die Wolke näher. Pierantonio verfolgt sie durchs Fernglas, dann bedeutet er dem Skipper langsamer zu werden.
Das Boot schaukelt nur noch, als steuerbords ein gigantischer Schatten auftaucht, dann bläst er seinen Atem in den Himmel: der Pottwal. So nah, dass man meint, nur die Hand ausstrecken zu müssen. Fischig müffelnder Geruch wabert herüber. Pierantonios Kamera klickt ununterbrochen. Der Koloss – Pottwale werden bis zu 50 Tonnen schwer – ist offenbar entspannt. Neun Minuten bleibt der Wal an der Wasseroberfläche; jede Bewegung wird fotografiert, jedes Ausatmen notiert. Alle 20 Sekunden nimmt der Wal einen Atemzug. Dann zeigt er seine Fluke und taucht ab. Mit einem langen Kescher in der Hand beugt sich Pierantonio über die Reling und fischt auch noch die letzten Reste, die das Tier zurückgelassen hat, aus dem Wasser. Kleine schwarze Brocken landen im feinmaschigen Netz des Keschers. „Der Walkot ist groß wie ein Basketball“, sagt Pierantonio, „er zerfällt aber sofort.“ Im Labor wird später analysiert, was dieser Pottwal gefressen hat. Auch Mikroplastik ließe sich so nachweisen.
Lauter als ein Düsenjet
Mittagspause auf dem Meer. Es gibt Pasta und Salat im Schatten des Sonnensegels. Seit dem frühen Morgen kreuzt der Segler im Dienst des Tethys Research Institute vor der italienisch-französischen Küste. Es ist das Gebiet des Pelagos Sanctuary, einem 87.500 Quadratkilometer großen Meeresschutzgebiet. Es umfasst das nördliche Mittelmeer zwischen Monaco, Norditalien und Korsika, reicht bis an die Nordküste von Sardinien und ist einer der wichtigsten Futtergründe des Mittelmeers. Entsprechend hoch ist die Konzentration an Walen und Delfinen. 1999 auf Bestreben von Tethys, Greenpeace und der Universität Barcelona gegründet, gehört das Schutzgebiet inzwischen zum Umweltprogramm der UN.
Bevor Pierantonio zu den Pottwalen kam, betreute er ein Delfinprojekt vor der Westküste Griechenlands. „Delfine singen auf einer hohen Frequenz“, sagt Pierantonio und pfeift ein paar Töne, „Pottwale klingen ähnlich.“ Mit höchstens 24 Kilohertz singen sie aber eher die tiefe Alt- und Bassstimme im Chor der Meerestiere. Diese aber laut, bis zu 190 Dezibel wurden schon gemessen. Damit können Pottwale lauter als ein startender Düsenjet sein.
Pierantonios Ohr unter Wasser ist ein unscheinbares Messgerät. Das Hydrophon hängt an einem 200 Meter langen, orangenen Kabel hinter dem Boot im Meer, wandelt Unterwasserschallwellen in für den Menschen hörbare Signale und auf dem Bildschirm ablesbare Kurven um. Das Singen der Finnwale, die Rufe der Delfine, den Gesang der Grindwale. Und das Klicken der Pottwale.
In der Zwischenzeit tippt Pierantonio unter Deck die Daten der Walbegegnung in die Datenbank. Geo- und Wetterdaten, Uhrzeit, Aufenthaltszeit des Wals an der Oberfläche, Atemstöße, die Tonaufnahme des Tiers. Verknüpft mit den Fotos, die das Team geschossen hat, erhält man ein Walporträt mit der Fluke als Passfoto. Sie ist so etwas wie der Fingerabdruck eines Wals, individuell und einzigartig: Farbe, Noppen, Verletzungen.
Unseren Wal schätzt Pierantonio auf gut zwölf Meter Länge, allein der Kopf sei vier Meter lang. Es sei vermutlich ein Männchen. Wie alt? Schwer zu sagen, Pottwale hätten ein verrücktes Wachstum, erst langsam, dann schnell. Auch sind Pottwale im Mittelmeer kleiner als ihre Artgenossen im Atlantik. Warum, ist eine offene Frage.
Über das Klicken weiß die Wissenschaft mehr: Es entsteht im Kopf, an der Nasenspitze. „Pottwale sind ehrliche Tiere, sie können einfach nicht lügen“, sagt Pierantonio. Im 30-Grad-Winkel senden sie ins Meer, recyceln dabei einen Teil der dafür nötigen Energie. Die wandert in Form eines Tons von der Nase durch den Kopf zurück und wird von dem konkaven Knochen, der den Kopf vom Körper trennt, zurückgeworfen, tritt am vorderen unteren Kopfende wieder aus. Misst man diese Zeitspanne, lassen sich Kopf- und Körpergröße bestimmen.
Verschiedene Dialekte
Manche der Wale kennen die Forscher und Forscherinnen von Tethys seit Mitte der 90er-Jahre. Langzeit-Datenreihen helfen ihnen, die Wale zu verstehen. So hat man beispielsweise herausgefunden, dass Mittelmeer-Pottwale im sogenannten 3+1-Dialekt kommunizieren, der im Pazifik nicht nachgewiesen werden konnte. Die Bedeutung dieses Dialekts kenne man nicht, so Pierantonio. Auch Wanderrouten und Winterplätze im Mittelmeer seien weitgehend unerforscht. Geld gibt es für solch langandauernde Projekte wenig. Tethys finanziert sie zum großen Teil über Citizen Science: Jede und jeder kann sich, gegen Geld, eine Woche auf dem Forschungssegler einmieten und Pierantonio über die Schulter schauen.
Unter Deck klickt der Forscher durch Fotos vergangener Wal-Sichtungen und findet die Fluke unseres Wals in der Datenbank. Dieser Wal wurde schon einmal gesichtet, mehrfach sogar. Das erste Mal vor 20 Jahren. Und: Der hellgraue Pottwal ist ein Weibchen und heißt Sabina. Pierantonio ruft die frohe Kunde durchs Boot, das inzwischen gen Westen segelt. Ziel ist ein Unterwassercanyon vor der Küste Monacos, aufgrund seines Mikroklimas ist das Meer hier besonders nähstoffreich.
Pierantonio greift wieder nach seinem Kopfhörer, die grün gezackte Linie wandert vor ihm über den Bildschirm. Schweißperlen laufen über seine Schläfen, das T-Shirt klebt an seinem Rücken. Er lauscht – ganz leise hat ein Pottwal wieder mit dem Klicken begonnen.