Es war eine turbulente Woche im Bundestag und danach Hunderttausende Menschen bei Demos. Aber der Wahlkampf hat viele Gesichter.

Martin Kobler ist seit über 30 Jahren grünes Parteimitglied, aber erst seit fünf Jahren für die Grünen im Straßenwahlkampf aktiv. Vorher hatte der 71-Jährige, ehemals hochdekorierter Beamter im Auswärtigen Amt, nur wenig Zeit dafür. Was auch dem Umstand geschuldet ist, dass er über zwei Jahrzehnte gar nicht in Deutschland war. Kobler war unter anderem Deutscher Botschafter in Ägypten, Pakistan und dem Irak, dazu führte er als deutscher Vertreter Uno-Missionen in Palästina oder Afghanistan an.
Wahlkampf kann auch respektvoll sein
Nun steht er an diesem trüben, regnerischen Samstagvormittag vor dem Rathaus Schöneberg und wahlkämpft für seine Grünen, denen er beruflich sehr viel zu verdanken hat. „Das war bisher eher nicht so erquicklich, die letzten drei Regierungsjahre haben auch meiner Partei erheblich zugesetzt, und das haben wir hier auf der Straße zu spüren bekommen. Klima und Umwelt kommen bei uns nicht mehr vor, viele kündigten an, lieber Volt oder die Tierschutzpartei wählen zu wollen. Doch nach der letzten Bundestagssitzungswoche habe ich jetzt ein prima Argument, doch Grün zu wählen: Wer alternative Splitterparteien wählt, stärkt die AfD“.
Ob das tatsächlich so ist, bleibt dahingestellt. Parteienforscher streiten seit Jahrzehnten trefflich darüber, doch für Kobler ist das einerlei, er hat endlich wieder ein griffiges Argument für seine Grünen und muss nicht weiter mit den möglichen, potenziellen Wählern über den oft kritisierten Schlagwortwahlkampf seiner Partei diskutieren. Seine Beobachtung weicht aber völlig von der allgemeinen Aufregung über die gemeinsame Abstimmung von Union, FDP und AfD im Bundestag ab: „Das spielt hier bei mir auf der Straße bei den Bürgern und Bürgerinnen eigentlich keine Rolle. Natürlich ist die Stimmung gerade hier bei uns in Schöneberg klar gegen die AfD, wir haben es mit einem klassischen, liberalen und grünen Bürgertum zu tun. Doch die Menschen bewegt mehr, dass sie gefühlt immer weniger in ihrem Geldbeutel haben und dass Klima- und Umweltthemen nur noch am Rande behandelt werden.“
Der ehemalige Chefdiplomat des Auswärtigen Amtes scheint nicht ganz unglücklich über den plötzlich doch noch heißen Wahlkampf zu sein.
Ähnlich ergeht es auch einem Mitstreiter der SPD, einige Straßenecken weiter. Auch für Matthias Geisthardt geht es in diesem Bundestagswahlkampf um kein Mandat oder sonstige persönliche Ambitionen, er ist für seine Sozialdemokraten einfach nur dabei und hilft mit, wo er kann. „Das war den ganzen Januar für uns doch ein sehr zähes Geschäft. Immer wieder ging es hier an unserem Stand nur um den Zustand der Partei und ob Olaf den Wahlkampf noch rumreißen kann. Doch nach dieser Tumult-Woche im Bundestag ist der Wahlkampf endgültig ins Rollen gekommen“, freut sich der 51-Jährige. Auf die Nachfrage, ob das dann nun endgültig ein Lagerwahlkampf geworden ist, wird Matthias Geisthardt nachdenklich. „So richtig eigentlich nicht. Die angesprochenen Probleme betreffen schließlich alle Wählerschichten aus der bürgerlichen Mitte, und man darf dann auch nicht vergessen, nach der Wahl müssen diese Parteien dann auch wieder zusammenfinden, um eine neue Regierung zu bilden.“ Klingt dann doch so ein bisschen nach Wahlkampf mit angezogener Handbremse, oder? „Nein absolut nicht, sondern wir sollten jetzt von uns aus nicht noch mehr politisches Porzellan zerschlagen, als das Friedrich Merz ohnehin schon getan hat“, so der SPD-Straßenwahlkämpfer Geisthardt mit etwas Zurückhaltung.
Diskussionen haben sich verändert
Neben ihm haben sich am belebten Breslauer Platz im gutbürgerlichen Friedenauer Kiez CDU und FDP mit ihren Ständen aufgebaut. Trotz turbulenter Sitzungswoche im Bundestag ist die Begrüßung unter den Wahlkämpfern über alle Parteigrenzen hinweg auffallend freundlich, und wenn es um ein Stück Klebeband für die Plakate geht, hilft man sich untereinander auch mal aus.
Wohl nicht ganz von ungefähr stehen Christdemokraten und Liberale an diesem Vormittag Seite an Seite zusammen, fast als wollte man hier schon mal eine zukünftige Koalition im Bundestag zumindest andeuten. So ganz wohl ist es Christian Schoeler von der CDU am Anfang sichtlich nicht. Der 47-jährige Heizungsbauer befürchtet mögliche Pöbeleien, nachdem drei Tage lang die Bundeszentrale seiner Partei immer wieder von Demonstranten für einige Stunden belagert wurde. Doch hier, gut fünf Kilometer entfernt vom Bundestag und der großen Aufregung, geht es auch für den CDU-Mann gemächlich zu. „Man kennt sich und geht pfleglich miteinander um. Entscheidend für mich: Nicht wir haben einem Antrag der AfD zugestimmt, sondern umgekehrt. SPD und Grünen hätten auch zustimmen können, und dann wäre die ganze Aufregung gar nicht nötig gewesen.“ Doch diese Argumentation von Christian Schoeler interessiert an diesem Samstagvormittag beim Straßenwahlkampf eigentlich niemanden so richtig. Und wenn, dann sind die Reaktionen positiv. Immer wieder gibt es anerkennende Worte, dass dieser Wahlkampf mit dem Merz-Vorstoß nun tatsächlich mal Inhalte bekommen hat und klar Positionen, zumindest der Union, bestimmt. Ob die Wohlmeinenden auch tatsächlich ihr Kreuz am 23. Februar bei der CDU machen, kann auch der Heizungsbauer nicht sagen.

Plötzlich kommt dann doch noch Unruhe auf. Ein Mann, Ende 60, beschimpft plötzlich FDP-Wahlkämpfer André Byrla. „Warum habt ihr nicht mitgestimmt und die Gesetzesinitiative der CDU unterstützt? Das wäre doch eure Aufgabe gewesen!“, schimpft der Mann. Der 39-jährige FDP-Wahlkämpfer versucht den aufgebrachten Mann zu beruhigen und die Abstimmungsniederlage am Freitag auch mit Abwesenheit von FDP-Bundestagsabgeordneten bei der Parlamentsentscheidung zu erklären. André Byrla ist erstaunt. „Ich kenne den Herren, das ist ein Stammwähler von uns, und noch letztes Wochenende habe ich mich mit ihm lange unterhalten. Mit dieser Reaktion hätte ich nicht gerechnet, aber offensichtlich haben wir einen empfindlichen Nerv getroffen“.
Es bleibt bei dieser kleinen Aufregung im sonst gemächlichen Wahlkampf in diesem eher bürgerlichen und leicht links-liberalen Quartier.
Die drei Genossen von der Linken haben unterdessen ihren Stand schon zusammengepackt. Sie hatten sich mehr Auftrieb für ihre Partei von der Anti-AfD-Empörung versprochen. Aber in diesem Stadtteil ist für ihre Partei ohnehin nicht allzu viel zu holen.
Einen Tag später, am Sonntag, sollte sich der Protest gegen die Vorgänge im Bundestag aber deutlich manifestieren. Geschätzt 160.000 Menschen haben allein in Berlin für eine Brandmauer demonstriert.