Die Demokratie und ihre Institutionen sind seit geraumer Zeit in Bedrängnis. Wie „wehrhaft“ ist die Demokratie? Das liberale Urgestein Gerhart Baum, ehemaliger Bundesinnenminister, liefert eine Vorlage.
Ein Bürgerfest draußen und staatstragende Reden drinnen. Das ist gemeinhin der Rahmen, um wichtige Ereignisse zu würdigen. 75 Jahre Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland sind so ein Anlass, der gleich zweimal in diesem Jahr aufgerufen wurde: am 23. Mai zum Jahrestag der offiziellen Verkündigung 1949, und gleich noch mal vor wenigen Tagen, um an die erste Sitzung des Bundestags (7. September 1949) zu erinnern. So richtig nach fröhlichem Feiern stand dabei kaum einem der Sinn.
Grund sind „Brandherde und mögliche Brandherde“, von denen Gerhart Baum in seiner Rede vor dem Bundestag sprach, und von einer Situation, wie er sie „noch nicht erlebt hat“.
Gerhart Baum, der heute 91-jährige ehemalige Bundesinnenminister, hat einiges erlebt: „75 Jahre Bundestag – das ist ungefähr die Zeit meines aktiven politischen Lebens“, in dem er sich einen Namen als einer der profiliertesten Streiter einer liberalen Gesellschaft gemacht hat, Vertreter des sozialliberalen „Freiburger Kreises“. Kein Wunder, dass ihn vor allem umtreibt, was er beschreibt als „Kampf um eine neue Weltordnung, der Kampf der autoritären Kräfte, denen es um eine autoritäre Weltordnung geht, die sich nicht mehr an dem Prinzip der Menschenwürde orientiert, gegen die freiheitlichen Kräfte“.
„Hinterhältiger Dämon Angst“
Er spricht aber auch vom „Vertrauensverlust in die Kompetenz der parlamentarischen Demokratie“ und einer „Sehnsucht nach einfachen Lösungen“, von einer „diffusen Angst vor dem Unbekannten“, um zu ergänzen: „Angst ist ein ganz hinterhältiger Dämon der freien Gesellschaften“.
Das ist vielleicht der Kernsatz, um die Herausforderung zu beschreiben, in der das Land steht. 75 Jahre nach der großen Errungenschaft stehen nicht nur Fragezeichen hinter den Grundprinzipien und -werten, die Basis des Grundgesetzes sind. Sie werden teilweise nicht nur infrage gestellt, sondern offensiv bekämpft, von außen und im Inneren.
Der Streit um die Asyl- und Migrationspolitik wird vor allem unter Sicherheitsaspekten geführt, so dominant, dass alle anderen Aspekte, die dazu gehören, in Nebensätzen untergehen. Verschärfte Regelungen werden mit dem „Sicherheitsversprechen“ des Staates begründet. Verteidiger einer liberalen, offenen Gesellschaft haben da einen schweren Stand. „Wir haben das Glück, in einer freien Gesellschaft zu leben … Wer kann das auf der Welt?“, sagt Gerhart Baum und erntet dafür beim Festakt Beifall. In den aktuellen politischen Auseinandersetzungen geht der Satz wohl eher unter.
Die freiheitliche Demokratie wird von autoritären Bewegungen unter Druck gesetzt. Dass in Zeiten wachsender Unsicherheiten in selben Maß der Wunsch nach einer starken Führung wächst, ist zunächst nicht sonderlich verwunderlich. Die Frage ist eher, was die freiheitliche Demokratie dagegenzusetzen hat.
Das Wort von der „wehrhaften Demokratie“ taucht in den allermeisten Fällen in Zusammenhängen mit sicherheitspolitischen Reaktionen auf. Natürlich sind Verbote erwiesenermaßen extremistischer Gruppierungen und verfassungsfeindlicher Bestrebungen ein legitimes und notwendiges Mittel. Schwierig wird es aber, wenn der Ruf nach Verboten zur fast schon reflexhaften Reaktion wird. Die Auseinandersetzung um das Verbot von „Compact“ liefert ein Beispiel dafür, auf welch schmalem Grat sich das schnell bewegen kann.
Der Politikwissenschaftler Jens Hacke weist in einem Beitrag für „Aus Politik und Zeitgeschichte“ (Bundeszentrale für Politische Bildung) darauf hin, dass in einer früheren Phase der Bundesrepublik eine Gefahr für die Freiheit durch Maßnahmen des Staates wie Notstandsgesetze oder Radikalenerlass (1972) befürchtet wurde. Genau solche Maßnahmen werden aber aktuell zunehmend stärker eingefordert, um sich als „wehrhafte Demokratie“ zu zeigen.
Wie ernst die Angriffe gegen die Demokratie und ihre Organe genommen werden, zeigt die Diskussion um eine ganz zentrale Institution, das Bundesverfassungsgericht. Die Sorge kommt nicht von ungefähr. In Ungarn und Polen war beziehungsweise ist zu sehen, wie populistisch-extremistische Parteien versuchen, Zugriff auf eine unabhängige Justiz zu bekommen, in Israel haben solche Versuche zu massenhaften Protesten geführt, in den USA ist die Besetzung des Obersten Gerichts immer schon ein absolutes Politikum.
Klares Bekenntnis zu Grundgesetz
Die Funktionsfähigkeit staatlicher demokratischer Institutionen ist für alle populistisch-extremistischen Bewegungen und Parteien ein zentraler Angriffspunkt. In der Bundesrepublik war das Oberste Gericht insofern angreifbar, weil vieles nur in einem einfachen Gesetz geregelt war, folglich auch bei sich ändern Mehrheitsverhältnissen relativ einfach angreifbar war. Um Blockaden zu vermeiden und die Funktionsfähigkeit zu sichern, haben sich die Regierungskoalition und die Union auf eine Änderung des Grundgesetzes verständigt.
Sicherung der Institutionen ist sicherlich eine notwendige, aber kaum hinreichende Antwort, wenn Zweifel an der Problemlösungskompetenz dieser Institutionen zunehmen und deren Akzeptanz in Gefahr gerät, und in der Folge populistische Strömungen Zulauf gewinnen mit einer Stimmung, die sich gegen alles, was als „die da oben“ beschrieben wird, richtet. Verbunden damit, sich in einer „Opferrolle“ zu stilisieren, bei gleichzeitig wachsender Fremdenfeindlichkeit und antiliberalen Haltungen.
Als Antwort darauf „wohlfeile Feinderklärungen vorzunehmen“, wie es in der Kritik der Politikwissenschaft heißt, hat offensichtlich das Gegenteil bewirkt. Zumindest legen das Wahlergebnisse auf kommunaler und Landesebene vor allem in den ostdeutschen Bundesländern, aber nicht nur dort, nahe. Die Vermutung liegt nahe, dass es sich dabei zumindest zu einem gewissen Teil auch um eine Trotzreaktion auf die Ausgrenzungsbemühungen, verstärkt durch die Erzählung einer „Opferrolle“, gehandelt haben dürfte. Es ist zumindest ein Hinweis darauf, dass sich die Demokratie auf einer inhaltlichen und emotionalen Ebene bislang nur als unzureichend wehrhaft zeigt.
Die großen Kundgebungen mit Millionen von Teilnehmerinnen und Teilnehmern quer durch alle Bevölkerungsschichten zu Beginn des Jahres haben dagegen durchaus ein Bild davon gezeichnet, wie „wehrhafte Demokratie“ jenseits der Institutionen aussehen kann. Es war ein unmissverständlicher Ausdruck darüber, in welcher Gesellschaft die eindeutige Mehrheit leben will – und in welcher nicht. Es war ein klares Bekenntnis zu den Werten und Prinzipien, die Basis des Grundgesetzes sind.
Wenn trotzdem bei den folgenden Wahlen populistische und in Teilen extremistische Parteien Zugewinne verzeichnen konnten, ist das in weiten Teilen auch Ausdruck für ein Empfinden, dass „nichts mehr funktioniert“. Jenseits zahlloser konkreter, lebenspraktischer Beispiele, die dafür als Begründung herangezogen werden, spiegeln sich darin auch die „diffusen Ängste“, Unzufriedenheit, Abstiegsängste, die sich zusammenfassen lassen in schwindenden Zukunftsperspektiven. Zugleich liefert die Performance, die der (partei-)politische Betrieb seit geraumer Zeit in weiten Teilen bietet, kaum Anlass dazu, einen optimistischeren Zukunftsblick zu entwickeln.
Derartige Zustandsbeschreibungen sind nun nicht völlig neu. In vielen Teilbereichen ist auch allen klar, was da nicht gut läuft. Es ließe sich nun intensiv analysieren, warum es so schwer fällt, aus der Erkenntnis die praktische Konsequenz zu ziehen.
Demokratie ist ein fragiles Gebilde. Aber eines mit einem höchst attraktiven Kern, dem Ziel einer „Gesellschaft der Gleichen“, gegründet auf der unantastbaren Würde jedes einzelnen, mit der Chance auf Teilhabe in Freiheit, Zukunft zu gestalten. Diese Grundlagen haben sich in den Frühjahrskundgebungen widergespiegelt. Ganz im Sinne von Gerhart Baum: „Wir können streiten über den besseren Weg. Aber es gibt eine Grundlage, die wir gemeinsam verteidigen müssen“.