Europa strebt nach mehr Souveränität, vor allem wirtschafts- und sicherheitspolitisch. Es geht um eine eigene Rolle in einer neuen Weltordnung. Gleichzeitig sind die inneren Fliehkräfte ein Hemmnis, eine gemeinsame Politik entschiedener voranzutreiben.
Ein Jahr nach der Europawahl werden die Konturen einer neuen europäischen Politik zunehmend deutlicher. Quer durch alle Politikfelder steht im Vordergrund, Europas Souveränität zu stärken und Abhängigkeiten zu reduzieren. Am deutlichsten wird das bei Außen-, Sicherheits-, Wirtschafts- und Energiepolitik.
Zugleich zeigt sich in der EU eine offensichtlich widersprüchliche Entwicklung: In vielen Mitgliedsstaaten haben Rechtspopulisten und rechtsnationale Parteien großen Zuspruch.
Gleichzeitig zeigt aber das aktuelle Eurobarometer auch, dass die Zustimmung zur EU ebenso wie die Zustimmung zur aktuellen Politik der Europäischen Kommission in diesem Frühjahr langjährige Höchstwerte erreicht.
Über die Hälfte der (befragten) Europäer vertrauen der EU (Höchstwert seit 2007), ebenso hoch ist das Vertrauen in die Arbeit der EU-Kommission. Und über 60 Prozent blicken optimistisch auf die Zukunft der EU – bei allen Herausforderungen, vor denen die Gemeinschaft steht. Die größte ist nach Ansicht der Befragten die Sicherheitslage. Über 80 Prozent sprechen sich deshalb für eine gemeinsame Sicherheit- und Verteidigungspolitik aus.
Gefragt nach den wichtigen Themen, bei denen die EU aktiv werden und Maßnahmen ergreifen soll, ergibt sich ein ziemlich klares Bild: Für knapp 40 Prozent ist Sicherheit und Verteidigung das wichtigste Thema. Für knapp 30 Prozent folgt das Thema Wirtschaft, und dann erst auf Platz drei die Themen Migration und Klima (jeweils von 24 Prozent der Befragten genannt).
Damit ist für ein Viertel der befragten Europäer Migration ein drängendes Problem. In den öffentlichen Debatten scheint es aber gelegentlich, als sei es das Thema Nummer eins schlechthin.
Das wiederum hat viel mit den nationalen Maßnahmen zu tun, insbesondere Grenzschließungen und Zurückweisungen, und die wiederum haben viel mit der Zustimmung rechtspopulistischer und nationaler Parteien zu tun.
In den Niederlanden ist die (ohnehin fragile) Regierungskoalition an den Forderungen des Rechtspopulisten Geert Wilders gescheitert. In Polen hat der Kandidat der rechtsnationalen PiS-Partei die Präsidentschaftswahl (knapp) gewonnen. In Rumänien konnte sich dagegen der pro-europäische Kandidat bei der Präsidentschaftswahl durchsetzen. Bei vorgezogenen Neuwahlen in Portugal konnten zwar die Konservativen gewinnen, die extreme Rechte erzielte aber deutliche Zugewinne. In Frankreich darf zwar Marine Le Pen voraussichtlich bei der nächsten Präsidentschaftswahl aufgrund eines Gerichtsurteils nicht antreten, aber Parteichef Jordan Bardella steht mit guten Chancen für RN an ihrer Stelle bereit.
Zustimmung zur EU erreicht höchste Werte
In Italien gibt sich Regierungschefin Meloni zwar in der Europapolitik eher gemäßigt zurückhaltend, betreibt aber im Inneren einen Umbau des politischen Systems zur Stärkung der eigenen Macht.
Und in Deutschland ist inzwischen Dänemark mit seiner Migrationspolitik zum Vorbild geworden. Kanzler Merz lobte gegenüber der dänischen Ministerpräsidentin Mette Frederiksen: „Was Dänemark in den letzten Jahren geleistet hat, ist wirklich vorbildlich, und gemeinsam bewegen wir uns auch in der Europäischen Union in Richtung neuer und strengerer Asylregeln.“
Das alles gleichzeitig, während man sich im kleinen luxemburgischen Grenzort Schengen auf den 40. Geburtstag eines historischen Abkommens vorbereitete, das allen Menschen (sowie Gütern und Dienstleistungen) in der EU Freizügigkeit zusicherte. Ein Kontinent der offenen Grenzen, in dem jetzt vielerorts Grenzkontrollen und -schließungen als bevorzugtes Mittel der Wahl Konjunktur haben. Allerdings nicht ohne Widerstand. Am Ende wird der Europäische Gerichtshof gefragt sein.
Mit dem Erstarken und den Erfolgen rechtspopulistischer und nationalistischer Parteien haben sich aber auch quer durch Europa Debatten nicht nur um die Migrationspolitik, sondern auch in der Klimapolitik und bei gesellschaftspolitischen Debatten verschärft.
Dass auf europäischer Ebene das Aus des Verbrenner-Aus ein Dauerbrenner ist, ist nur ein Beispiel für Bestrebungen, Fortschritte in Klima-, Umwelt- und Naturschutzpolitik wieder einzukassieren.
Genauso geht es an anderer Stelle um das Einkassieren gesellschaftspolitischer Fortschritte. Die Auseinandersetzung um die Pride Parade in Budapest ist nur ein besonders prominentes aktuelles Beispiel. Ungarns Regierung hat die Veranstaltung verboten und zur Begründung Kinder- und Jugendschutz angeführt (wofür eigens im Frühjahr ein Gesetz verabschiedet wurde).
Nun ist Ungarn unter Victor Orban sicher ein spezieller Fall, aber einer, der Bewunderer findet, die dem gern nachfolgen wollen. Was für die meisten Rechtspopulisten quer durch Europa gilt. Ein Großteil hat sich im Europaparlament (EP) nach der Wahl in der Fraktion „Patrioten für Europa“ zusammengeschlossen, die die drittstärkste Kraft im EP ist, nach den Konservativen und den Sozialisten/Sozialdemokraten.
Gleichzeitig teilen viele ihre Bewunderung für US-Präsident Trump ebenso wie für den russischen Präsidenten Putin. Damit ist die Herausforderung klar für ein Europa, dessen Hauptaugenmerk aktuell und in den kommenden Jahren vor allem darauf liegt, die eigene Souveränität zu stärken. Auf alte Freunde ist nicht mehr unbedingt Verlass, und die Bedrohungen von anderer Seite sind ohnehin unübersehbar. Und da ist von China und anderen, die ebenfalls ihren Platz und Einfluss in einer neuen globalen Ordnung suchen, noch gar nicht die Rede. Angesichts der äußeren Bedingungen ist es nicht übertrieben, von den größten Herausforderungen der EU zu sprechen. Und im Inneren gilt das in ähnlicher Weise.
Die grundsätzliche Unterstützung bei Bürgerinnen und Bürgern ist mit klaren Mehrheiten da, auch wenn Ergebnisse bei nationalen Abstimmungen oder Wahlen daran gelegentlich Zweifel aufkommen lassen. Das ist eine – durchaus nicht neue – Herausforderung an die Politik in den Mitgliedsstaaten.