Der Mensch, heißt es, sei ein soziales Wesen. In Salzderhelden im südlichen Niedersachsen leben junge Leute in der K20, einem Netzwerk mit Gemeinschaftsprojekten von und für Klima-Aktivisten. Sie teilen, was sie haben, und leben zum Teil von dem, was andere wegwerfen.
Im Hof eines alten Fachwerkhauses laden zehn junge Leute Plastikkisten auf ihre selbst gebauten Fahrradanhänger. Über Feld- und Schleichwege und schließlich über die viel befahrene Landesstraße geht es durch ein gesichtsloses Gewerbegebiet zu einem großen Supermarkt. Der Pulk mit den Anhängern nötigt den meisten Autofahrern Respekt ab. Sie überholen mit Abstand.
Statt zum Kundeneingang fahren die jungen Leute zur Tür des Lagers auf der Rückseite des Marktes. Eine Angestellte öffnet die Tür und verschwindet wieder. Man kennt sich. Die Besucherinnen und Besucher klauben aus großen Gitterkörben Lebensmittel: Pilze, Paprika, Lauch, in Folie eingepackter Spitzkohl, Karotten, Salat, Saft in Tetrapaks, Fertigprodukte – alles in tadellosem Zustand.
Der Supermarkt hat die Waren aussortiert. Gründe gibt es viele: eine leicht beschädigte Verpackung, zu viel bestellt oder das Ablaufdatum. Jede Woche retten die Bewohnerinnen und Bewohner des Projekthauses „K20“ noch gut essbare Lebensmittel vor der Müllpresse – und decken damit etwa 90 Prozent ihres Bedarfs. Obwohl hierzulande rund ein Drittel der produzierten Lebensmittel ungenutzt weggeworfen wird, ist das sogenannte Containern verboten: Wer unerlaubt Lebensmittel aus den Mülltonnen von Supermärkten holt, begeht Diebstahl. Zahlreiche Gerichtsurteile bestätigen diese Rechtsauffassung.
Bewohnerinnen und Bewohner sind jung und politisch aktiv
Die Bewohnerinnen und Bewohner der Lebens- und Aktivistengemeinschaft K20 haben den Leiter eines Einbecker Supermarkts davon überzeugt, dass sie sich aus den Müllbergen des Betriebs versorgen dürfen. Damit ist ihr Einsatz legal. Der Name des Marktes soll ungenannt bleiben, damit der Marktleiter keinen Ärger bekommt. Nach einer knappen Stunde radeln die Aktivistinnen und Aktivisten mit ihren vollgepackten Fahrradanhängern wieder zurück nach Salzderhelden. Sie konnten gar nicht alles mitnehmen, was noch gut essbar gewesen wäre.
Elvyn, 26 Jahre alt, wohnt mit derzeit rund 20 anderen in der K20. Die versteht sich als „offenes Projekthaus für politische Aktivistinnen und Aktivisten, als utopischer Freiraum und politische Aktionsplattform“. Ihre Bewohnerinnen und Bewohner sind jung, fast alle unter 30. Die meisten studieren oder haben studiert. Menschen kommen und gehen, schwärmen immer wieder zu politischen Aktionen aus. Viele engagieren sich für Klimagerechtigkeit, beteiligen sich an Protestaktionen wie den Besetzungen im Hambacher Forst gegen den Braunkohle-Tagebau.
Ruben zum Beispiel ist vorübergehend hier untergekommen. Sein Studium hat er abgebrochen, um sich ganz dem politischen Engagement zu widmen. Zeitweise hat er im Dannenröder Forst gelebt, um mit vielen Gleichgesinnten gegen den Neubau der Autobahn 49 durch den Forst zu protestieren. Der 27-Jährige betont, dass er und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter sich nicht nur gegen Dinge engagieren. Jedes Dagegen habe, wenn es sinnig sei, auch ein Dafür: „Dafür, dass wir unseren Planeten hier nicht verstrahlen. Dafür, dass auch noch in 100 Jahren intakte Ökosysteme da sind. Und dafür muss die Atomkraft weg. Und dafür müssen die Autos weg von den Straßen. Und dafür muss die Braunkohle im Boden bleiben.“ In Gießen habe er in einer Initiative Pläne für die Verkehrswende gezeichnet: Straßenbahn-Linien, Fahrradstraßen und eine Seilbahn sollten die Autos aus der Innenstadt verdrängen. Durchgesetzt hätten sie zumindest einen Fahrrad-Ring um die Innenstadt.
„mensch“ statt „er“ oder „sie“
Zur K20 gehören vegane Selbstversorgung, 20 Schlafplätze, Seminarräume, eine Bio-Landwirtschaft und mehrere Wohnprojekte. Wie viele hier versteht Elvyn sich nicht als Mann oder Frau, sondern als nicht binär oder queer – also als Mensch mit nicht eindeutig weiblicher oder männlicher Identität. Dabei sieht Elvyn aus wie ein Mann, kräftig, trainierte Muskeln, Bartansatz. Aber nirgends ist festgelegt, dass das Außen mit dem Innen übereinstimmen muss. Statt man, er oder sie sagen sie hier „es“ oder „mensch“, um alle geschlechtlichen Identitäten ein- und niemanden auszuschließen.
Die K20 versteht sich als „radikal offenes Projekt-Haus für die gelebte Utopie“, wie Elvyn erklärt. Fast alles sei offen und könne frei gestaltet werden, solange „mensch“ sich an ein paar Grundregeln hält: vegan, solidarisch, ökologisch, hierarchiekritisch, drogen- und tauschlogikfrei.
Die Stadt Einbeck hat der K20-Gemeinschaft den Dorf-Bahnhof im Ortsteil Salzderhelden mietfrei überlassen. Dafür halten sie die Toiletten und die Station in Schuss. Von hier fahren jede Stunde Züge nach Einbeck, Göttingen und Hannover. In der Bahnhofshalle steht sogar ein gespendetes Klavier. Wer Lust hat, spielt darauf.
Die Leute aus der K20 betreiben im Bahnhof das „Café Mollie“: Ein heller Raum mit Theke, Tischen und Stühlen, geschmückt mit Plakaten und einem großen Brett für Aushänge und Mitteilungen. Serviert werden Kaffee, Tee und Kleinigkeiten zum Essen: „Regional, saisonal, bio, vegan und verpackungsarm“, wie es auf der großen Tafel über der Tür zur „Mollie“-Küche steht. „Solidarischer Mitmachkiosk“ nennt sich das Café – „tauschlogikfrei“. Jeder nimmt, was er oder sie benötigt. Jeder zahlt oder gibt, was sie oder er kann.
Statt aus Plastik- oder Pappbechern serviert das „Café Mollie“ Tee und Kaffee in gespülten gebrauchten Pötten. Wer einen dieser Humpen übrighat, bringt ihn vorbei. Andere bekommen so ihr müllfreies Getränk und bringen die leere Tasse zurück – oder auch nicht. „Das gleicht sich aus. Wir haben immer genügend Becher hier“, erzählt Tim, der gerade Thekendienst hat und seinen wahren Namen nicht nennen möchte.
Räume und Kleidung werden geteilt
Ob Tassen, Fahrräder, die Werkstatt oder andere Räume: Alles teilen sich die Bewohnerinnen und Bewohner der K20. Wer neu dazukommt, wohnt erst mal im Haupthaus. K20 heißt es nach seiner Adresse, Knickstraße 20 und nach dem Haus die ganze Gemeinschaft. Hier leben sie in funktionalen Räumen. Ein Zimmer mit Betten und einer mit Matratzen ausgelegten Fläche dient als Schlafraum für alle. Im Gemeinschaftsraum stehen alte Sofas, Sessel und Regale, in der Ecke heizt ein Ofen.
Rückzugsräume gibt es auch. Hier kann man die Tür hinter sich schließen, um alleine zu sein. Ein Zettel an der Tür zeigt an, ob der Raum gerade frei ist. Eingerichtet sind die Zimmer klar minimalistisch. Eine Liegefläche mit Matratze, ein Regal, ein leerer Tisch. Elvyn kommt gut damit klar, dass er kein eigenes Zimmer hat. Wenn er mal verreist, muss er keinen Nach- oder Untermieter suchen.
Menschen kommen und gehen, bleiben ein paar Tage, Wochen oder Monate, zum Beispiel, um politische Aktionen vorzubereiten oder sich zu erholen oder neu zu orientieren. Andere wie Elvyn leben dauerhaft hier.
Die Menschen in der K20 gehen achtsam und rücksichtsvoll miteinander um. Woke, würde man neudeutsch sagen, also sensibel für rassistische, sexistische oder soziale Diskriminierung.
Den Dachbodenausbau im Haupthaus definieren sie als „feministische Lernbaustelle“. Alle achten darauf, dass niemand benachteiligt wird, alle mitgestalten können. Das, so Elvyn, erlaube auch forschen, zumeist „männlich gelesenen Personen“, mal unsicher zu sein und nicht den coolen Macker spielen zu müssen.
Im Haupthaus herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Alles ist offen. Wem das zu viel wird, der oder die sucht sich eine Bleibe im Dorf, zum Beispiel im „Blauen Haus“. Auch in dem verwinkelten, mehr als 100 Jahre alten Fachwerkhaus mit seinen steilen Treppen wohnen die Leute in funktionalen Räumen: Schlafraum, Arbeitszimmer, Rückzugsraum, Küche, Gemeinschaftsraum und ein gemeinsamer, begehbarer Kleiderschrank. Hier bringen alle ihre Hosen, Hemden, Jacken, T-Shirts ein, wer mag, auch die Unterwäsche. Mitbewohnerin Laie sieht die Vorteile: Eine große Auswahl für alle und „wenn ich heute ein Glitzer-Top anziehen will, hole ich es mir da“. Außerdem spart sie eine Menge Geld, braucht weniger Platz und weniger Kleidung. So entlasten die Bewohnerinnen und Bewohner Umwelt und Klima.
Weniger ist mehr – auch in der „Urtica“. Tim aus dem „Café Mollie“ wohnt in einem windschiefen Häuschen oben am Berg auf der anderen Seite des Dorfes, noch ein ganzes Stück jenseits der Bahnlinie. Dort betreibt er mit einigen anderen eine „rein vegane Landwirtschaft“. Tim führt vorbei an Beerensträuchern und Obstbäumen, durch Gemüsebeete, zwischen denen Bienenstöcke stehen. Urtica, Brennnessel, nennen sie ihren kleinen, tierfreien Bio-Betrieb.
Gemeinsame Ökonomie leben
In Süddeutschland hatte Tim eine florierende Event-Firma mit 25 Angestellten, mit der er sich „eine Art bedingungsloses Grundeinkommen“ geschaffen habe. Damit sei er „sehr privilegiert“ gewesen und habe die Zeit gefunden, ganz grundlegend über sein Leben nachzudenken. Glücklich sei er mit dem vielen Geld nicht gewesen. So entschloss er sich, das Unternehmen aufzugeben und ganz neu anzufangen. Sein bescheidenes Leben in der „Urtica“ empfindet der 40-Jährige als „Freiheit mit weniger Ballast“. Diese Erkenntnis habe er durch „viel innere Arbeit gewonnen“.
Einige Bewohnerinnen und Bewohner der K20 leben in einer gemeinsamen Ökonomie: Menschen legen alle ihre Einnahmen zusammen und bezahlen alle Ausgaben aus der gemeinsamen Kasse. Joschik zum Beispiel teilt alle ihre Einnahmen und Ausgaben mit sechs anderen, die über ganz Deutschland verteilt leben. Sie trennt bewusst zwischen persönlicher Freundschaft, Wohngemeinschaft und gemeinsamer Wirtschaft. Der Vorteil: Wenn sie Streit in der WG hat, berührt dieser nicht ihre finanzielle Sicherheit. „Und wenn wir in der gemeinsamen Ökonomie Differenzen haben, was sehr, sehr selten vorkommt, ist mein Zuhause nicht betroffen.“ Die gemeinsame Ökonomie ermöglicht ihr und anderen Auszeiten sowie politisches Engagement.
Ihre Existenzangst hat sie überwunden. Sie weiß, dass sechs andere Menschen für sie einstehen – und sie für die anderen. Dass jemand die Unterstützung anderer ausnutzt oder dies auch nur versuchen würde, hat Joschik noch nicht erlebt – im Gegenteil: Alle überlegen sich jetzt noch genauer, wofür sie Geld ausgeben, weil man ja Verantwortung füreinander trage. Das Leben in Gemeinschaft sieht sie wie Tim aus der „Urtica“ vor allem als Forschungsreise mit offenem Ausgang.