Martin Schulte war früher erfolgreicher Banker und hält heute Gottesdienste. Er sieht darin keinen Widerspruch. Ein Gespräch über die Gegensätze und Gemeinsamkeiten von Religion und Ökonomie.
Herr Schulte, rechnen Sie manchmal nach, ob sich die Predigt lohnt, wenn zu wenige Leute in der Kirche sitzen?
Natürlich nicht.

Sie fragen nie nach Kosten und Nutzen?
Nein. In der Seelsorge führe ich manchmal stundenlange Einzelgespräche. Ich bin sehr dankbar, dass ich da keine Effizienzkriterien anlegen muss.
Bevor Sie 2022 bei der evangelischen Kirchengemeinde Trier anfingen, haben Sie als Banker in Luxemburg gearbeitet. Zum Schluss saßen Sie im Vorstand einer Kapitalverwaltungsgesellschaft. Was war Ihre Aufgabe?
Ich habe dort das Portfoliomanagement von Investmentfonds verantwortet, habe also entschieden, in welche Vermögenswerte wir investieren. Da ging es um Windkraftanlagen, Solarparks und Immobilien. Auf der anderen Seite habe ich mit Investoren dieser Fonds verhandelt.
Da ging es vor allem um Profitmaximierung. Konnten Sie sich später einfach so von ökonomischen Glaubenssätzen trennen?
Viele Menschen begreifen Kirche und Finanzwirtschaft als einen Gegensatz und begegneten mir mit einem gewissen Misstrauen: Was ist das denn für ein Vogel, der jetzt einen auf fromm macht und vorher in einer Welt unterwegs war, die unethisch ist und fern von Gott?
Ist sie das nicht?
So einfach ist es nicht. Ich gebe Ihnen ein Beispiel für ein Dilemma, das ich erlebt habe: Am Tag der Anschläge in den USA am 11. September 2001 stand mein Chef bei mir im Büro und sagte, er würde nun in Staatsanleihen investieren, weil die Kurse stark stiegen. „Da sterben Leute“, habe ich gesagt. „Ich denke doch jetzt nicht darüber nach, daraus Profit zu machen.“ Meine Bank hielt sich daraufhin erst einmal zurück, obwohl sie viel Geld hätte verdienen können. Was ich damit sagen will: Natürlich handeln Banker auch ethisch, da gibt es nicht nur das eine Schema. Genauso wenig, wie bei Glaubensfragen immer alles eindeutig ist.
Erklären Sie!
Wenn Sie ins Alte Testament schauen: Diese schöne Geschichte vom brennenden Dornbusch, aus dem heraus Gott sagt, Mose solle Israel aus der Knechtschaft in die Freiheit führen. Mose fragt dann: Was soll ich sagen, wer mich geschickt hat? Und Gott sagt: Ich bin mit dir. Das ist natürlich keine Antwort auf die Frage. Diese Uneindeutigkeit findet sich immer wieder in der Bibel. Neulich ging es in meiner Predigt um das Buch Kohelet, Kapitel 7. Dort heißt es: „Sei nicht übertrieben gerecht und bemühe dich nicht, überaus klug zu sein! Warum willst du dich selbst zerstören? Handle aber auch nicht allzu gottlos, und tu nicht so, als wärst du dumm!“ Das könnte man so lesen: Wähle den goldenen Mittelweg! Nach dem Gottesdienst kam ein Mann zu mir, der klagte, das sei ihm nicht eindeutig genug. Aber Gott macht es uns eben nicht so leicht. Wir Menschen müssen Ambivalenzen aushalten, auch wenn es uns schwerfällt.
Wie kam es dazu, dass Sie Ihren Job als Banker aufgeben wollten?
Während der Corona-Pandemie habe ich mir die Sinnfrage gestellt. Ich habe tagsüber Verträge verhandelt und um Konditionen gefeilscht. Abends auf dem Weg nach Hause haben mich Polizeibeamte kontrolliert, weil die Grenze zwischen Luxemburg und Deutschland dicht war. Die Welt stand still und ich habe einfach weitergemacht, als wäre nichts. Irgendwann habe ich vom Bildschirm aufgesehen und mich gefragt: Was mache ich hier eigentlich? Worauf kommt es mir an?
Was war die Antwort?
Auf den Menschen. Ich habe es in meinem Berufsleben immer als unglaublich beglückend wahrgenommen, wenn ich Menschen helfen konnte, sich zu entwickeln. Wenn ich einen Berufsanfänger eingestellt habe und irgendwann beobachten konnte, wie souverän er mit Kunden telefonierte und wie selbstbewusst er wurde. Das spüre ich nun sehr viel öfter. Zum Beispiel, wenn nach der Predigt jemand zu mir kommt und sagt, der Text habe ihn zum Nachdenken gebracht. Da merke ich, dass ich in den Menschen etwas bewegen kann.
Sie hätten ja auch Lehrer werden können. Warum haben Sie sich für den Dienst in der Kirche entschieden?
Lehrer bestimmt nicht. Ich hätte Angst, zynisch zu werden, wenn ich Schüler unterrichten müsste, die keinen Bock haben. Ich war ja selbst so einer, saß in der letzten Reihe und spielte Skat im Unterricht. Ich war damals schon in der evangelischen Jugendarbeit sehr engagiert, habe Gruppen geleitet und Zeltlager organisiert. Das war mir wichtiger als Schule. In der Jugendarbeit habe ich dann auch zum Glauben gefunden. Als 14-Jähriger habe ich jeden Morgen in der Bibel gelesen.
Welche Rolle hat der Glaube in Ihrer Familie gespielt?
Meine Eltern waren nicht sehr fromm, sie gingen an Weihnachten oder Ostern in die Kirche, aber sonst selten. Im Alltag hat der Glaube keine Rolle gespielt. Entsprechend skeptisch waren sie manchmal bei meinem kirchlichen Engagement, dass ich mit Leuten rumhing, die sehr fromm waren, nicht tranken und nicht rauchten. Nach der Schule habe ich diese Form des Glaubens auch als eine gewisse Enge erlebt, sie war schon sehr pietistisch.
Sie haben dann BWL studiert und sich zum erfolgreichen Manager hochgearbeitet. Wie hat Ihre Familie 2022 auf den Jobwechsel reagiert?
Der kam für meine Frau und meine beiden Kinder gar nicht so überraschend. Ich hatte mich schon vor Längerem zum ehrenamtlichen Predigthelfer ausbilden lassen, aber immer damit gehadert, dass ich kein Hebräisch oder Bibelgriechisch beherrschte und die Texte im Original nicht lesen konnte. Deshalb habe ich neben dem Job ein Masterstudium in Theologie angefangen. Das war anstrengend, ich opferte meinen Jahresurlaub dafür, saß am Wochenende von morgens 7 Uhr bis abends am Schreibtisch und habe gelernt. Vier Jahre ging das so. Irgendwann dachte ich: Das alles machst du nicht nur fürs Bücherregal.
Was haben Ihre Vorstandskollegen zu Ihrer Kündigung gesagt?
Das war in einer Verwaltungsratssitzung am Gründonnerstag 2022 – ausgerechnet am Tag, an dem wir uns ans letzte Abendmahl Jesu erinnern. Erst mal hat niemand etwas gesagt. Dann fragte jemand: Zu welchem Konkurrenten gehst du? Dass ich die Branche verlassen könnte, um in den Kirchendienst zu wechseln, fanden sie verrückt.
Was war das Schwierigste an der beruflichen Veränderung?
Sie müssen sich vorstellen, ich war 30 Jahre lang in der Finanzindustrie, da hat natürlich niemand meine Kompetenz angezweifelt. Wenn mich jemand nach einer relevanten EU-Finanzrichtlinie gefragt hat, konnte ich die Nummer auswendig und wusste ungefähr, was darin stand. Und jetzt war ich auf einmal wieder Berufsanfänger und hatte keinen Plan. Ich habe mich an Kollegen drangehängt, mir zum Beispiel ihre Bestattungen angesehen, weil ich ja keine Erfahrung damit hatte.
Wie hat der Jobwechsel Sie als Mensch verändert?
Es macht schon einen Unterschied, ob man die Welt vom Steuer eines Dienstwagens aus betrachtet oder ob Sie Menschen aus Fleisch und Blut aus allen Bevölkerungsschichten begegnen. Jetzt sitze ich schon mal Leuten gegenüber, die haben am 21. des Monats schon ihr Geld aufgebraucht. Die Gründe dafür haben die Menschen oft nicht selbst in der Hand. Ich habe gelernt, weniger zu urteilen.
Das klingt nach einem gravierenden Wandel.
Es wäre mir zu radikal, zu sagen, dass dieser Wandel allein durch den Jobwechsel kam. Ich hatte schon Führungskräfteseminare, bei denen ich mich mit der Zusammensetzung von Teams beschäftigt habe. Da habe ich schon eine gewisse Demut vor verschiedenen Lebenswegen entwickelt.
Sie haben kürzlich Ihren Master in Theologie abgeschlossen. In Ihrer Abschlussarbeit vergleichen Sie Religion mit Geldwirtschaft. Wie kamen Sie darauf?
Da gibt es eine gewisse Parallelität. Die Ökonomie tut immer so, als unterliege die Geldwirtschaft quasi naturwissenschaftlichen Gesetzen. Das ist Quatsch. Geld bekommt seinen Wert doch nur durch gesellschaftliche Übereinkunft – ein Glaube, wenn Sie so wollen –, dass das Geld einen Wert hat. Wird dieser Glaube gestört, zum Beispiel bei einer Hyperinflation, wenn die Menschen für ihr Geld nichts mehr bekommen, dann funktioniert die Geldwirtschaft auch nicht mehr. Dann tauschen Menschen wieder Waren aus. Dieser empfindliche Glaube hat doch etwas von Religion.
Ihre Masterarbeit trägt den Titel „Gott und Geld im Widerstreit“. Das lässt eher auf einen Gegensatz von Religion und Geld schließen.
Ich spreche davon, dass Christentum und Ökonomie nach unterschiedlichen Paradigmen funktionieren. Christliche Religion geht davon aus, dass Gott uns eine Fülle an Gütern geschenkt hat. Die Ökonomie nimmt dagegen an, dass Güter immer knapp sind. Das sind entgegengesetzte Denkweisen. Mir geht es darum, dass beide Systeme in Relation zueinander gesetzt werden müssen, damit unsere Welt funktioniert. Natürlich kann ich als Christ nicht die Augen davor verschließen, dass die materiellen Ressourcen auf der Welt begrenzt sind. Aber wenn ich an einen Gott glaube, der im Überfluss schenkt, kann das sehr befreiend sein.
Inwiefern?
Wenn ich als Christ davon ausgehe, dass meine Ressourcen nicht begrenzt sind, kann ich auch noch im höheren Alter einen Neuanfang wagen. Mir gab das die Kraft, noch mit 57 mit dem pastoralen Dienst anzufangen.
Was raten Sie Menschen, die wie Sie noch einmal neu anfangen wollen?
Neulich hatte ich ein Seelsorgegespräch mit einem Mann. Der glaubte, sein Leben verlaufe wie auf Schienen, es gehe nicht nach links und nach rechts. Dann habe ich versucht, sein Bild etwas aufzuweichen. Schienen werden schließlich mit Weichen versehen und können die Richtung ändern. Ich glaube daran, dass Veränderung immer möglich ist, das versuche ich den Menschen zu vermitteln.
Wie machen Sie das?
Es geht darum, davon wegzukommen, Veränderungen als Defizit zu begreifen, und sie positiv wahrzunehmen. Auch in unserer Kirchengemeinde sind die Ressourcen knapp, wir haben jetzt eine Pfarrstelle weniger und mussten zum Beispiel die Zahl meiner Gottesdienste in der Kindertagesstätte unserer Kirchengemeinde reduzieren. Das ist schade, hat aber auch einen positiven Effekt: Ich kann jeden einzelnen Gottesdienst etwas intensiver vorbereiten.
Das heißt, auch jetzt sind Sie ökonomischen Gesetzmäßigkeiten unterworfen. Fragen Sie sich manchmal, ob der Jobwechsel ein Fehler war?
Klar muss ich im pastoralen Dienst auch viele Verwaltungsaufgaben erledigen. Manchmal denke ich, würde ich nur das machen müssen, hätte ich auch in Luxemburg bleiben können. Glücklicherweise ist es nicht nur Verwaltung! Aber in den vergangenen zweieinhalb Jahren habe ich mir kein einziges Mal die Frage nach dem Sinn meiner Tätigkeit gestellt.
Sind Sie als Banker Gefahr gelaufen, Erfolg mit Sinn zu verwechseln?
Natürlich war die Arbeit sehr auskömmlich bezahlt. Ich hatte einen Firmenwagen, bin dienstlich chic essen gegangen. Aber um solche Dinge ging es mir nie.
Sondern?

Die Tätigkeit war intellektuell interessant. Ich hatte mit Investoren aus der ganzen Welt zu tun, mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen. Jeder Fonds war anders, jeden Tag gab es neue Probleme zu lösen. Natürlich war auch der Druck hoch. Die Investoren wollten maximalen Profit und unsere Kunden wollten maximale Handlungsfreiheit und sich nicht an zu enge Bestimmungen halten müssen. Da gab es schon Zeiten, in denen ich nachts hochgeschreckt bin, total durchgeschwitzt.
Das passiert Ihnen heute nicht mehr?
Doch. Ich erinnere mich noch an meinen ersten Gottesdienst in unserer Kindertagesstätte. Ich war mit der Vorbereitung überfordert, das lag gänzlich außerhalb meiner Komfortzone. Die Nacht davor lag ich vor Aufregung wach.
Und wie ist es dann gelaufen?
Bei meinen ersten Gottesdiensten in der Kita habe im Grunde nur ich geredet, dann ein Lied, dann ein Gebet. Das ging immer zack, zack, zack. Heute gebe ich viel mehr Kontrolle an die Kinder ab. Sie können erzählen, worüber sie sich freuen und wofür sie dankbar sind. Dann kriegen sie eine Blüte in die Hand, die sie auf den Altar legen können. Ein schönes Ritual am Anfang.
Gibt es etwas, das Sie an Ihrem alten Job vermissen?
Jedes Wochenende frei, das hatte was.