Bei den Sondierungen haben Union und SPD innerhalb von wenigen Tagen einige alte Gewissheiten abgeräumt: Die Schuldenbremse soll aufgeweicht werden, um Geld für die Bundeswehr zu organisieren. Und 500 Milliarden Euro Sondervermögen sollen die Infrastruktur auf Vordermann bringen.
Bereits eine Woche nach Beginn der Sondierungsverhandlungen trommelten die üblichen Friedensgruppen zur großen Protestkundgebung vor dem Reichstagsgebäude. Doch die Wiese vor dem Sitz des Deutschen Bundestages blieb an diesem Mittwochmittag weitgehend leer. Keine Heerscharen von Friedensbewegten bevölkerten den Platz der Republik. Der Aufruf der Anmelder kam dann doch etwas zu plötzlich, ebenso wie der Anlass: das neue „Deutschlandtempo“ unter dem voraussichtlich nächsten Bundeskanzler Friedrich Merz.
Mehrheit für Ausgabenpläne
Erst am Abend vorher hatten die Sondierenden von Union und SPD einen finanziellen Doppel-Wumms verkündet, der die Eine-Billion-Euro-Grenze innerhalb der nächsten zehn Jahre sprengen dürfte: 500 Milliarden Euro Sondervermögen für marode Brücken, Autobahnen, Eisenbahnstrecken, Schulen und Kitas und was noch alles so an Infrastruktur in die Jahre gekommen ist. Das wurde dann nach nur fünf Verhandlungstagen noch getoppt mit der geplanten Aufhebung der Schuldenbremse für Verteidigungsausgaben. Die soll nämlich nicht gelten, wenn die Kosten für Verteidigung mehr als ein Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) betragen, also über rund 40 Milliarden Euro liegen. Das wäre dann allerdings sozusagen unlimited, oder wie es Merz ausdrückt: „whatever it takes“. Die Rüstungskosten könnten also, neben den 500 Milliarden Sondervermögen Infrastruktur, noch mal mit 400, vielleicht auch 500 Milliarden Euro zu Buche schlagen. Diese Aussicht trieb dann doch einige friedensbewegte Aktivisten vor den Bundestag.
Dass sich für diese Spontan-Friedensdemo nur eine überschaubare Anzahl versammelte, lag sicher an der Kurzfristigkeit, aber nicht nur. Der Grundtenor in der Bevölkerung geht nämlich eher in eine andere Richtung. Passanten entlang der kleinen Protestdemo verstanden die Aufregung nicht. Ganz im Gegenteil zollten sie dem gigantischen Rüstungsvorhaben eher Zustimmung. Viele finden die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit der Bundeswehr – und um nichts anderes geht es – richtig. Meistgehörtes Argument vor dem Reichstag: „Wir haben neben der Bahn auch die Bundeswehr total kaputtgespart, aber wir müssen jetzt wieder verteidigungsfähig werden.“ Dass dies sehr viel Geld kostet, liegt in der Natur der Sache, sollte es uns aber wert sein, meinten die Passanten fast durchgängig. Und das ist nicht nur der Tenor der Umstehenden vor dem Bundestag, sondern nach mehreren Umfragen sehen das zwei Drittel der Deutschen so.

Ein Grund dürfte sein: Es gibt tatsächlich wieder eine Kriegsangst in Deutschland. Auch dies wird nicht nur vor dem Reichstag bei der Friedenskundgebung deutlich, sondern ebenfalls durch Umfragen bestätigt. Dabei gibt es diesmal allerdings eine Umkehr der Argumente, im Vergleich zur Situation vor 40 Jahren, als der sogenannte Nato-Doppelbeschluss Millionen Menschen zu Protesten auf die Straße brachte. Anfang der 1980er fürchteten sich die Menschen vor noch mehr Atomraketen auf deutschem Boden. Damals waren die Bundesrepublik und die DDR zusammen das größte Waffenarsenal der Welt auf engsten Raum, und es ging die Angst vor einem Atomkrieg um. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde dieses mit Atomraketen gespickte Arsenal weitgehend aufgelöst. Doch in den aktuellen Entwicklungen treibt die Menschen die Angst vor einem Angriff um.
Bereits seit dem russischen Angriff auf die Ukraine vor drei Jahren mahnten sowohl externe Militärexperten als auch Bundeswehrgeneräle davor, unsere Armee stehe im Ernstfall „blank“ da. Trotz des Hundert-Milliarden-Sondervermögens Ende Februar 2022 für die Bundeswehr hat sich die Situation nicht entscheidend verbessert, die Verteidigungsfähigkeit ist eher noch fragiler geworden. Was an funktionierenden Waffensystemen, vor allem aber an Munition verfügbar war, wurde an die Ukraine oder im Rahmen des Ringtauschs an andere Nato-Partner geliefert. Diese Bestände sind bis zum heutigen Tag nicht einmal ansatzweise aufgefüllt worden. Die bedrohliche Situation ist offenbar vielen Bundesbürgern erst so richtig klar geworden, nachdem Donald Trump am 20. Januar das Weiße Haus in Washington wieder übernommen hat und seitdem den Europäern ganz unverhohlen damit droht, ihnen die schützende Hand des US-Militärs zu entziehen.
Darum nun plötzlich auch die Kehrtwende von CDU-Chef Merz, die aber auch von der SPD unterstützt wird. Doch die Kritik muss der zukünftige Kanzler allein einstecken.
Massiver Investitionsbedarf
Wahr ist: Die Union, allen voran Friedrich Merz, hatte im Wahlkampf immer die Schuldenbremse gepriesen und versichert, dass sich die anstehenden Aufgaben durch Kürzungen und Umschichtungen im laufenden Haushalt finanzieren ließen, vor allem durch Einsparungen bei Bürgergeld und Migration. CDU/CSU räumten eine Reform der Schuldenbremse nur im äußersten Notfall ein. Doch spätestens nach dem Selenskyj-Trump-Eklat im Weißen Haus war klar, dass die vor drei Jahren von Noch-Kanzler Olaf Scholz ausgerufene Zeitenwende, selbst wenn sie bei der Bundeswehr in vollem Umfang ankommen würde, bei Weitem nicht ausreichen wird. Mit einer Schuldenbremse lassen sich diese Herausforderungen, vor denen gerade bei der Verteidigung die Deutschen lange die Augen fest verschlossen hatten, nicht begegnen. Dass zur Aushebelung der Schuldenbremse für die Verteidigung gleich noch das Sondervermögen Infrastruktur dazu kommen soll, war da nur folgerichtig. Fast könnte man sagen, auch im Sinne der Verteidigung. Was nützen neue Panzer und Feldhaubitzen, wenn diese nicht durchs Land transportiert werden können, da die Brücken aufgrund ihres maroden Zustands nicht mehr die Traglast dafür haben.
Ähnlich wie bei der Verteidigung, wurde auch bei der Infrastruktur seit Jahren von Ländern und Kommunen Geld gefordert. In der letzten, von beiden Seiten gleichermaßen ungeliebten Großen Koalition (2017–2021) unter Kanzlerin Angela Merkel wurde geflissentlich weggehört und vertagt. In der Ampel hatten zumindest Kanzler Scholz und Wirtschaftsminister Habeck die Notwendigkeit sofortigen Handelns in Sachen Infrastruktur erkannt. Die entsprechenden Infrastruktur-Finanzierungsmodelle scheiterten in der Ampel an der FDP, die stoisch die Schuldenbremse verteidigte. Und bei der entsprechenden Reform der Schuldenbremse, die eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament erfordert, verweigerten CDU/CSU beharrlich ihre Zustimmung.
Nun soll bei der Infrastruktur mit dem Sondervermögen die neue Zeit beginnen. Die Union hatte keine andere Wahl, wenn sie tatsächlich einen Politikwechsel und damit den Wirtschaftsaufschwung hinbekommen will. Die CDU/CSU hatte obendrein politisch, wenn man so will, auch Glück. Durch sein unkontrollierbares außenpolitisches Wüten allein in den ersten sechs Amtswochen lieferte US-Präsident Donald Trump die notwendige Argumentation für das plötzliche Umdenken von Friedrich Merz und weiten Teilen der Union.
Die Pläne lösten einerseits Erleichterung aus bei denen, die schon lange auf mehr Investitionen drängten, aber andererseits ebenso heftige Proteste bei denen, die vor zügelloser Geldverschwendung warnten.
Um das alles mit der erforderlichen Zwei-Drittel-Mehrheit durchzukriegen, sollte noch der alte Bundestag entscheiden. Bis Redaktionsschluss war nicht klar, ob die Grünen, die man dafür braucht, mitmachen. Sie pochten auf Nachbesserungen und hatten noch einige eigene Forderungen.