München will Autos aus seiner Innenstadt verdrängen. Anwohner und Einzelhändler protestieren, fürchten um Parkplätze und Kundschaft. Testweise hat die Stadt die Weißenburger Straße im Stadtteil Haidhausen für ein Jahr zur Fußgängerzone gemacht. Ein Ortsbesuch.
Trixi Obermaier führt eine kleine Modeboutique an der Weißenburger Straße im innenstadtnahen Münchner Stadtteil Haidhausen – früher ein Kleine-Leute-Viertel, heute weitgehend gentrifiziert: hohe Mieten in schick restaurierten Gründerzeit-Altbauten. Dennoch haben sich einige kleine inhabergeführte Geschäfte gehalten. Manche sind seit Generationen da.
Angst vor fehlenden Kunden
Händlerin Trixi Obermaier will nicht, dass die Stadt die Straße vor ihrem Laden zur Fußgängerzone macht. „Geldverschwendung“, schimpft sie. Viele Kundinnen kämen nicht mehr, und auf der Straße sei auch viel weniger los. „Da ist ja kein Mensch unterwegs“, schimpft die Dame zwischen bunten Blusen, die eher eine ältere Kundschaft ansprechen. Eine Kundin stimmt ihr zu: Die Fußgängerzone sei unnütz. „Wir haben viele Kinderspielplätze in der Stadt. Brauchen wir die jetzt auch noch? Haben wir dafür Geld, dass wir Straßen zu Spielplätzen machen?“ Die Stadt, sagt sie, sei doch „eh pleite“. Tatsächlich sind die goldenen Zeiten auch in München vorbei. Die Einnahmen sinken und die Kosten steigen.
Wenn Städte Straßen zu Fußgängerzonen machen, jammern die Besitzer der anliegenden Geschäfte. Das war schon in den 60er- und 70er-Jahren so, als Städte und Gemeinden die ersten autofreien Zonen in ihren Innenstädten ausweisen wollten. Heute zählen die Fußgängerzonen der Großstädte wie die Kaufinger Straße und die Theatiner Straße in München oder die Mönkebergstraße in Hamburg zu den teuersten und meistfrequentierten Eins-a-Lagen. Die Mieten dort können sich nur Luxusgeschäfte und große Handelsketten leisten.
„Jede Veränderung, die wir im öffentlichen Raum vornehmen, führt zu brutalen Emotionen in alle Richtungen.“ Das hat Georg Dunkel immer wieder erlebt. Als Mobilitätsreferent der Landeshauptstadt München verantwortet er die Umsetzung der Münchner Verkehrspolitik. „Wenn Leute das Gefühl haben, sie werden vor vollendete Tatsachen gestellt, reagieren sie mit Abwehr“, erklärt der parteilose Referent. Entscheidend ist für ihn deshalb die Kommunikation mit den Anliegern. Eigentlich sollte man, so Dunkel, schon während der Planung von Tür zu Tür gehen, mit den Ladeninhabern die Pläne besprechen und Einwände ernst nehmen. Das erhöhe den Aufwand, aber man spare auch Zeit und Ressourcen, wenn „der Prozess dann dafür mit weniger Emotionen vonstattengeht“. In der Weißenburger Straße hatte die Stadt in Bürgerversammlungen und im Stadtteil-Parlament über die Verkehrsberuhigungspläne informiert. Damit hat sie jedoch längst nicht alle erreicht.
„Veränderung führt zu Emotionen“
Auch in den Verwaltungen gibt es noch eine Menge zu tun. Verkehrsplanung sieht Georg Dunkel als interdisziplinäre Gemeinschaftsaufgabe. Bisher jedoch arbeiten die unterschiedlichen Fachleute in den verschiedenen städtischen Referaten (Dezernaten) noch zu oft nebeneinanderher. „Da müssen wir“, gibt er zu, „uns noch besser aufstellen“. Wenn das nicht klappt, kann es teuer werden: In der Kolumbusstraße, einer ruhigen Wohnstraße, musste die Stadt einen ähnlichen Verkehrsversuch vorzeitig abbrechen, nachdem ein Anwohner dagegen geklagt hatte. Er wollte seinen Parkplatz in der Nähe der Haustür wieder haben. Inzwischen sind die Hochbeete, Pflanzkästen und der Spielplatz dort wieder abgebaut. Es sieht wieder aus wie vor der Verkehrsberuhigung: Autos am Straßenrand und auf der Fahrbahn.
In der Münchner Innenstadt wurde die Sendlinger Straße von 2017 bis 2019 zur Fußgängerzone umgebaut. Auch dagegen protestierten Anwohner und Ladenbesitzer. Inzwischen sind die meisten mit der autofreien Straße zufrieden. Eine Untersuchung der Universität habe ergeben, dass „eine deutliche Mehrheit solche Veränderungen befürwortet“, berichtet Mobilitätsreferent Dunkel. Der Umbau habe „nachweislich die Fußgängerfrequenz und die Umsätze der anliegenden Geschäfte erhöht“, sorge aber auch für steigende Mieten, die kleinere Geschäfte oft nicht mehr erwirtschaften können.
Insgesamt wächst die Stadt München. Vor 50 Jahren zählte die bayerische Hauptstadt eine Million Einwohner, aktuell fast 1,6 Millionen. Schon jetzt wohnen hier 4.861 Menschen auf einem Quadratkilometer, mehr als in jeder anderen deutschen Stadt. In Hamburg sind es nur gut halb so viele (2.530). Die Münchner Straßen sind enger als in anderen Großstädten. Für dichten Autoverkehr sind sie nicht gebaut. Auf den schmalen Rad- und Fußwegen drängen sich immer mehr Radler und Fußgänger. Autofahrende verbringen zunehmend mehr Zeit damit, einen Parkplatz zu finden, ein Problem vor allem für Lieferfahrer, Handwerker und Pflegedienste sowie deren Kunden. Die Stadt richtet ihnen deshalb sogenannte 3-L-Zonen ein: Laden, Liefern, Leisten – Parkflächen für Lieferanten und Handwerker im Einsatz. Dazu will die Stadt ein neues Netz von Mietfahrrädern und Carsharingautos aufbauen. Für diese und die zahlreichen E-Roller gibt es immer mehr eigene Abstellflächen. Dafür fallen Parkplätze für die Anwohner weg. Das Ziel formuliert Mobilitätsreferent Dunkel so: „Wenn es uns gelingt, die Anzahl der zugelassenen Pkw nicht mehr weiter zu steigern, im Idealfall zurückzufahren, dann bekommen wir das Problem gelöst.“
„Die Menschen haben wieder mehr Zeit“
In der Weißenburger Straße hat die Stadt einen provisorischen Radweg angelegt und Blumenkästen aufgestellt. Von 22.30 Uhr bis zum Folgetag 12.45 Uhr dürfen Lieferanten mit dem Auto in die Fußgängerzone fahren, danach nur noch Fahrräder und E-Roller auf der dafür markierten Fläche. „Unser Cappuccino-Verkauf hat sich verdreifacht, seit hier die Fußgängerzone ist“, freut sich Melanie Ottens. Sie leitet in der Weißenburger Straße die Filiale einer italienischen Feinkost- und Kaffeehauskette. Die Geschäftsfrau beobachtet, wie die Passanten in den letzten Monaten mit mehr Ruhe durch die Straße schlendern und „sich auch mal die Zeit nehmen, in den Laden zu kommen. Die Fußgängerzone entschleunigt.“ Gut nicht nur für ihr Geschäft und ihre Seele. Auch Anwohner Florian fühlt sich an der verkehrsberuhigten Straße wohl. Er empfiehlt, nach Daten statt nach „gefühlten Wahrheiten“ zu entscheiden. Bevor der Autoverkehr hier leiser geworden ist, hätten Jugendliche auch an der Straße gefeiert und schon mal eine Flasche auf den Boden geworfen. Das sei jedoch – im Gegensatz zu jetzt – im Verkehrslärm untergegangen. Heute beschweren sich die Anwohner über den Lärm der Feiernden, den sie früher nicht gehört hätten. Florian ist aus dem Münchner Umland hierher gezogen. Er stellt gerne grundsätzlichere Fragen. Welchen Sinn hat es noch, mit dem Auto in die Innenstadt zu fahren? Statt sich nur zu beschweren, könnten sich die Händler doch etwas einfallen lassen: zum Beispiel einen Dienst, der den Kunden die gekaufte Ware zum Parkplatz jenseits der Fußgängerzone bringt. Tatsächlich steht am Straßenrand ein Lastenrad mit der Aufschrift „Wir liefern täglich für Euch nach Hause“ und einer Telefonnummer dazu.
Begeistert ist Isabelle Schmied von der Verkehrsberuhigung vor ihrer Ladentür. Vor einem Jahr hat sie hier ihr Geschäft „Glore“ für nachhaltige Mode aus fairem Handel eröffnet, weil die Straße zur Fußgängerzone geworden ist. Der Erfolg bestätigt ihre Entscheidung: „Die Menschen haben Zeit, durch die Straße zu gehen, die Schaufenster werden wahrgenommen. Ich bin sehr zufrieden. Läuft gut.“ Sie würde gern Sitzgelegenheiten vor ihrem Laden aufstellen und vielleicht einen Trinkbrunnen. Wie viele denkt die junge Frau über Lösungen nach, die allen entgegenkommen. Die Stadt Graz habe am Stadtrand zahlreiche Park-and-Ride-Plätze gebaut. In der Innenstadt könne man kostenlos mit Bus und Bahn fahren. So kämen weniger Auswärtige mit dem Auto in die Stadt.
Einige spanische Städte sperren manche Straßen nur für den Durchgangsverkehr oder nur zu bestimmten Zeiten. Bekannt geworden sind die Kiezblocks oder Superblocks (auf Katalanisch: Superilles) in Barcelona. Dort versperren Pfosten Autos den geraden Weg durch einzelne Wohn- und Mischgebiete. So sperrt man den Durchgangsverkehr aus. Die Häuser sind aber weiterhin mit dem Auto erreichbar. Ein ähnliches Projekt im Berliner Gräfe-Kiez will die schwarz-rote Stadtregierung wieder zurückbauen, weil es angeblich den Autoverkehr benachteiligt. Mit solchen Regeln könnte sich sogar Trixi Obermaier anfreunden. Die Modehändlerin meint, man solle aus der Weißenburger Straße eine Fahrradstraße mit Kurzzeitparkplätzen für die Einzelhändler machen. Abends könnten dort dann die Anwohner ihre Autos abstellen.
Mobilitätsreferent Georg Dunkel ist für Vorschläge offen. Die Fußgängerzone in der Weißenburger Straße war ein Versuch, der wie geplant am 31. Juli endet. Die Einstellung zur Verkehrsberuhigung scheint auch eine Frage des Alters zu sein. Viele Jüngere freuen sich über die Entschleunigung, bessere Luft, mehr Ruhe und den Gewinn an Lebensqualität, während Ältere eher schimpfen. Sie sind das Auto vor der Tür gewöhnt.