Jahrzehntelang wies die Kurve der weltweiten Lebenserwartung stetig nach oben. Doch ab 2011 änderte sich dies. Das liegt nicht nur an der Zunahme der Herz-Kreislauf-Erkrankungen, sondern auch an einem zunehmend ungesunden Lebensstil.

Die Menschen werden immer älter. Spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts stieg die Lebenserwartung kontinuierlich an – lediglich unterbrochen durch Phasen hoher Sterblichkeit aufgrund der beiden Weltkriege, der verheerenden Grippe-Seuche des Jahres 1918 und zuletzt der Corona-Pandemie. Der wohl wichtigste Grund für ein längeres Leben war der medizinische Fortschritt, dem ein Rückgang der Säuglingssterblichkeit und eine erfolgreiche Bekämpfung der vormals häufig tödlich verlaufenden Infektionskrankheiten wie Tuberkulose oder Cholera zu verdanken war. Auch Verbesserungen bezüglich Hygiene, Ernährung, Lebens- und Arbeitsbedingungen und generell des materiellen Wohlstands trugen zum Anstieg der Lebenserwartung in reicheren Staaten der Erde bei. In den vergangenen Jahrzehnten waren dafür vor allem auch sinkende Sterberaten aufgrund nicht übertragbarer Krankheiten, insbesondere Herz-Kreislauf-Beschwerden und einigen Krebsarten, verantwortlich. Nicht zu vergessen die Verringerung von Risikofaktoren wie Rauchen oder Bluthochdruck.
Deutschland etwas abgeschlagen
Weltweit lag die durchschnittliche Lebenserwartung 2023 bei 73,2 Jahren, in der EU hingegen war der Wert mit 81,5 Jahren deutlich höher. Deutschland dümpelt leicht abgeschlagen trotz massiver Investitionen in den Gesundheitssektor mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 81,2 Jahren (79,4 Jahre bei Männern, 84,2 Jahre bei Frauen) etwas dahin, lag damit erstmals 2023 unter dem EU-Durchschnitt und konnte im internationalen Longevity-Ranking nur den 38. Platz belegen. Deutschland liegt damit laut OECD-Angaben bis zu drei Jahre hinter den Bestwerten von westeuropäischen Ländern wie der Schweiz (84,2), Spanien (84) oder Italien (83,8). Europäische Spitze sind die beiden Kleinstaaten Monaco und San Marino mit einer Lebenserwartung von 86,4 und 85,7 Jahren. Malta kann mit der höchsten durchschnittlichen Lebenserwartung für Männer in der EU punkten (81,8 Jahre), Spanien mit der höchsten Lebenserwartung in der EU für Frauen (86,7 Jahre).
Wie rasant sich die Lebenserwartung in Deutschland in den zurückliegenden 150 Jahren entwickelt hat, ist bestens dokumentiert. Ab der ersten allgemeinen landesweiten Sterbetafel der Jahre 1871/1881 für das damalige Reichsgebiet, mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung für Männer von 35,6 und für Frauen mit 38,5 Jahren, ging die Kurve steil nach oben. In den Jahren 1949/1951 hatte sich die durchschnittliche Lebenserwartung für Männer um 29 Jahre und für Frauen um 30 Jahre erhöht. Bis 2018/2020 waren für Männer weitere 14 Jahre und für Frauen weitere 14,9 Jahre hinzu gekommen. Im Vergleich zur ersten Erhebung hat sich damit die Lebenserwartung der Deutschen also mehr als verdoppelt.
Allerdings hat sich seit Ende der Nullerjahre des 21. Jahrhunderts der Anstieg der Lebenserwartung nicht mehr ganz so deutlich nach oben bewegt wie in den früheren Jahrzehnten. Dabei haben sich zahlenmäßige Unterschiede zwischen den Bundesländern herauskristallisiert – mit Baden-Württemberg laut der Sterbetafel 2021/2023 als Spitzenreiter in Sachen regionaler Lebenserwartung: für Männer 79,6 Jahre, für Frauen 83,9 Jahre. Die niedrigste Lebenserwartung haben Männer in Sachsen-Anhalt mit 75,5 Jahren und Frauen im Saarland mit 81,9 Jahren. Der global anhaltende Geschlechterunterschied in der Lebenserwartung ist zum einen auf einen biologischen Nachteil der Männer zurückzuführen, hängt zum anderen vor allem auch mit nicht-biologischen Ursachen wie ungesünderen und stärker risikobehafteten Lebensstilen und Arbeitsbedingungen zusammen.
Die Forschung nach dem langen Leben

Da der Anstieg der Lebenserwartung ein weltweites Phänomen ist – zwischen 1950 und 2020 erhöhte sich die durchschnittliche Lebenserwartung global von 47 auf 73 Jahre –, haben internationale Forscher natürlich längst Prognosen über die natürliche Grenze der menschlichen Lebenserwartung publiziert. So ermittelten Wissenschaftler der University of South Florida in Tampa/USA 2023 in einer Studie, dass viele der zwischen 1910 und 1950 Geborenen durchaus ein Alter von 120 Jahren erreichen könnten. Konkret hatten sie die Geschwindigkeit des Alterns anhand der Zahl der Blutkörperchen sowie der täglich zurückgelegten Schritte in Bezug zum Alter ermittelt. Mit dem Ergebnis, dass es dem Körper mit zunehmenden Jahren immer weniger gelingt, sich zu regenerieren und zu erholen – weil die biologische Resilienz gegenüber Krankheiten, Verletzungen oder Stress natürlicherweise nachlasse und ab einem Alter von 120 bis 150 Jahren quasi nicht mehr vorhanden sei. Auf dem Weg zur Lebensverlängerung werden fortschrittliche Medikamente genutzt, auch der Austausch von Blutplasma oder der Einsatz von Stammzellen wurde schon in Tierexperimenten erprobt. Daneben wird aber auch zu alltagstauglichen Maßnahmen geraten, beispielsweise einer gesunden Ernährung, ausreichender Bewegung und dem Verzicht auf schädliche Stoffe wie Nikotin oder Alkohol.
Doch die besonders auch durch die Medien geschürte Euphorie-Welle bezüglich eines vermeintlich immer längeren Lebens erhielt durch eine im März 2025 im Fachmagazin „The Lancet Public Health“ veröffentlichte Studie der Norwich Medical School der britischen University of East Anglia (UEA) unter Federführung von Prof. Nick Steel einen gehörigen Dämpfer. „Fortschritte im Bereich der öffentlichen Gesundheit und der Medizin im 20. Jahrhundert führten dazu, dass sich die Lebenserwartung in Europa Jahr für Jahr verbesserte. Dies ist jedoch nicht mehr der Fall“, sagte Steel. Seit 2011 ist laut der Studie die Lebenserwartung in Europa nur noch unwesentlich angestiegen, überspitzt kann sogar von einer gewissen Stagnation gesprochen werden.
Grundlage der neuen Erkenntnisse war die Auswertung der Daten der „Global Burden of Deseases, Injuries and Risk Factors Study 2021“ des Institute of Health Metrics and Evaluation (IHME), des renommierten Forschungsinstituts für globale Gesundheitsstatistik der University of Washington in Seattle. Das erarbeitete mithilfe von rund 12.000 Mitarbeitern in mehr als 160 Ländern die bislang größte und umfassendste Untersuchung zur Quantifizierung von Gesundheitsverlusten in verschiedensten Regionen der Welt im Laufe der Zeit. Aus diesem Datensatz selektierte das Forschungsteam das Material für 16 europäische Länder, die größtenteils EU-Mitglieder sind, darunter Deutschland, Frankreich, Spanien und Italien, sowie für die vier britischen Nationen. Wobei das Team sein Augenmerk auf Veränderungen der Lebenserwartungen, der Todesursachen und der Exposition der jeweiligen Bevölkerung gegenüber verschiedenen gesundheitlichen Risikofaktoren richtete und dabei Vergleiche zwischen drei Zeiträumen vornahm: 1990 bis 2011, 2011 bis 2019 und die Corona-Jahre 2019 bis 2021, wobei letztere wegen der großen Zahl der Pandemie-Toten einen Knick in der globalen Lebenserwartungskurve haben erwarten lassen. In allen für die Studie herangezogenen Ländern konnte in den Zeiträumen 1990 bis 2011 und 2011 bis 2019 eine jährliche Verbesserung der Lebenserwartung ermittelt werden. Wobei die Verbesserungsrate 2011 bis 2019 mit durchschnittlich 0,15 Jahren niedriger ausfiel als im Zeitraum 1990 bis 2011 mit 0,23 Jahren. Die einzige Ausnahme von dieser Regel lieferte das Land Norwegen, wo sich die Lebenserwartung von 0,21 Jahren für den Zeitraum 1990 bis 2011 sogar auf 0,23 Jahre für 2011 bis 2019 erhöhte. In den Jahren zwischen 2019 und 2021 gab es in allen Ländern einen Rückgang der durchschnittlichen jährlichen Lebenserwartung (Gesamtdurchschnitt – 0,18 Jahre), wobei alle Länder auch einen absoluten Rückgang der Lebenserwartung verkraften mussten – mit Ausnahme von Irland, Island, Schweden, Norwegen und Dänemark, wo sich die Lebenserwartung sogar noch geringfügig verbessern konnte, sowie von Belgien, wo der Wert der Lebenserwartung unverändert geblieben war.
Gesundheit auch eine Sache der Politik
Dem Forscherteam zufolge führte von 1990 bis 2011 vor allem der Rückgang der Todesfälle durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs zu einer erheblichen Verbesserung der Lebenserwartung. „Aber bereits seit 2011 haben die großen Risiken wie Übergewicht, Bluthochdruck und hoher Cholesterinspiegel in fast allen Ländern entweder zugenommen oder sich nicht mehr verbessert“, sagte Steel. Daher haben sich laut den Forschern um das Jahr 2011 die jahrzehntelangen stetigen Erhöhungen der Lebenserwartung deutlich verlangsamt. Hinzu kämen Todesfälle durch Atemwegsinfektionen und andere Folgen der Covid-19-Pandemie, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Neoplasien, Tabakrauch, berufliche Risiken, hohen Alkoholkonsum und andere Risiken, einschließlich geringer körperlicher Aktivität.

Schon einige Jahre vor der Corona-Pandemie hatte sich der Anstieg der Lebenserwartung in Europa daher verlangsamt. Dennoch ist laut den Forschern auch künftig mit einer weiteren Steigerung der Lebenserwartung zu rechnen: „Die Lebenserwartung älterer Menschen verbessert sich in vielen Ländern weiterhin, was zeigt, dass wir die natürliche Lebenserwartung noch nicht erreicht haben“, sagte Steel. Wofür laut dem Wissenschaftler auch die positiven Entwicklungen in einigen der untersuchten Länder mit starker Gesundheitsförderung sprechen: „Länder wie Norwegen, Island, Schweden, Dänemark und Belgien behielten nach 2011 eine steigende Lebenserwartung und verzeichneten geringere Schäden durch die großen Risiken für Herzversagen.“ Was laut Steel auch auf wegweisende politische Entscheidungen und staatliche Maßnahmen in diesen Ländern zurückgeführt werden kann: „Dies deutet darauf hin, dass eine stärkere staatliche Politik erforderlich ist, um die großen Gesundheitsrisiken wie Fettleibigkeit, schlechte Ernährung und geringe körperliche Aktivität zu verringern – um die Gesundheit der Bevölkerung langfristig zu verbessern“, sagt er. Es sei eben nicht nur jeder Einzelne für seine Lebenserwartung verantwortlich, auch der politische Gesamtrahmen müsse mitberücksichtigt werden. Was laut den Forschern am Beispiel Englands und der drei anderen Mitglieder des Vereinigten Königreichs belegt werden kann, wo es „umfangreiche Mittelkürzungen in den Bereichen Gesundheit, Sozialfürsorge und Wohlfahrt seit 2010“ gegeben hat. Denn diese Nationen schnitten in Sachen Lebenserwartung wegen höchster Risiken für Herzkrankheiten und Krebs, vor allem aufgrund ungesunder Ernährung, mit Abstand am schlechtesten ab.
Auf der britischen Insel haben die politisch Verantwortlichen die Zeichen der Zeit erkannt und wollen gegensteuern. „Diese wichtige Studie bestätigt, dass Prävention der Eckpfeiler einer gesünderen Gesellschaft ist. Und das ist genau der Grund, warum sie ein so wichtiger Bestandteil des Zehn-Jahres-Gesundheitsplans sein wird, an dem wir mit der Regierung zusammen arbeiten“, erklärte Sarah Price, National Director of Public Health des für das öffentlich finanzierte englische Gesundheitssystem zuständigen National Health Service. Ähnlich äußerte sich ihr Landsmann Prof. John Newton vom European Centre for Environment and Human Health der University of Exeter: „Diese Ergebnisse geben Anlass zur Sorge, aber auch zur Hoffnung. Wir sollten besorgt sein, weil viele europäische Länder, darunter auch das Vereinigte Königreich, so geringe Fortschritte machen, aber auch hoffnungsvoll, weil die Bekämpfung der Ursachen schwerer Krankheiten wirksam zu sein scheint, wenn nur die Verbesserungen bei den Hauptrisiken aufrechterhalten werden können.“