Gitarren-artige Saiten in den Türen, konfliktarme Batterie im Boden: Der chinesische Autokonzern BYD macht mit dem „Atto 3“ einiges anders als die Konkurrenz. Nur an der Ladesäule braucht man Geduld.
Schon mal was von BYD gehört? Den meisten Deutschen dürfte die Buchstaben-Kombination noch fremd sein. In China ist „Build Your Dreams“ – was so viel heißt wie „Verwirkliche deine Träume“ – so bekannt wie VW in Deutschland. Immerhin handelt es sich um den zweitgrößten Elektroauto-Hersteller des Landes und einen der größten Batteriehersteller weltweit. Wo wir auch schon bei einer wichtigen Besonderheit wären. Anders als die meisten Autobauer stellt BYD nämlich seine Batterien gleich selbst her.
Vom fernen China in die Kölner Innenstadt: Hier hat BYD im Dezember 2022 einen Showroom eröffnet, ausgerechnet in einer ehemaligen Tesla-Filiale. Genau wie einst Tesla geht es BYD erst einmal darum, die Marke überhaupt bekannt zu machen. Junge Männer in Turnschuhen und weißen Hemden umschwärmen potenzielle Interessenten und erzählen ihnen, dass sogar Sixt inzwischen BYD-Fahrzeuge vermietet – „aber Sie können auch gerne eine Probefahrt bei uns machen“. Der Filialleiter selbst hat früher bei Mercedes gearbeitet, fast schon ein Symbol für den Zustand der Branche. Im Segment der Elektroautos holen die Chinesen mit riesigen Schritten auf. Die deutschen Autobauer, die alternative Antriebe lange belächelt haben, müssen kämpfen.
Konkurrent für EQA, NIro und ID.4
Während oben im Ausstellungsraum die Limousine „Han“ und der große SUV „Tang“ stehen, hängt mein Testfahrzeug an der Wallbox in der Garage. Es handelt sich um den „Atto 3“, einen Mittelklasse-SUV, der es mit Konkurrenten wie dem Mercedes EQA, dem Kia Niro EV oder dem VW ID.4 aufnehmen will. Optisch fügt er sich mit seinen flachen Scheinwerfern und einer durchgezogenen Heck-Lichtleiste geradezu unscheinbar ins europäische Straßenbild ein. „Keine Experimente“ lautete wohl das Motto, das bei der Entwicklung des Atto 3 zum Einsatz kam. Chefdesigner Wolfgang Egger ist Deutscher und hat zuvor bei Alfa Romeo und Audi gearbeitet.
Ganz anders der Innenraum. Hier geht es geradezu verspielt zu, und das im doppelten Sinn. In den Türen sind Gitarren-artige Saiten eingebaut, die als Gepäcknetz dienen und sich auch tatsächlich spielen lassen. Die vertikal angeordneten Lüftungsschlitze erinnern an Schallplatten und das geschwungene Armaturenbrett sieht – mit etwas Fantasie – wie eine Geige aus.
Damit findet die melodische Harmonie jedoch ihr Ende. Die aus der Tür hervorstehenden Lautsprecher wirken wie angeklebt, der Gangwahlgriff sieht aus wie ein Schubhebel und der lange Türgriff wie ein Schraubstock. Alles witzige Ideen, aber durch die Vielzahl der Motive wirkt das an sich hochwertige Interieur unnötig unruhig. Die sportlichen Vordersitze wiederum sind aus einem Guss, wodurch einzeln verstellbare Kopfstützen fehlen – eine Unart, die man sich lieber nicht bei den Wettbewerbern abgeschaut hätte.
Viele Assistenten serienmäßig
Aber was ist nun eigentlich das Thema dieses Interieurs? Musik? Luftfahrt? Rennsport? Ich spiele ein paar Saiten auf der „Tür-Klampfe“ und weiß trotzdem keine Antwort.
Bevor ich Vollstrom geben kann, muss ich die engen Gassen der Kölner Innenstadt hinter mich bringen. Der Atto 3 wirkt hier ganz schön massig, SUV eben. Erschwerend hinzu kommt die schlechte Sicht nach hinten, trotz des großzügigen Glasdachs. Ist da auch wirklich kein Fahrrad? Der Totwinkel-Assistent in den Seitenspiegeln sollte es anzeigen, aber ein mulmiges Gefühl bleibt trotzdem. Auch die Energierückgewinnung beim Bremsen (Rekuperation) spürt man kaum, obwohl sie zweistufig zuschaltbar ist. Seltsam.
Auf der Landpartie durch die Eifel kann der Atto 3 seine Stärken besser ausspielen. Er fährt ruhig und leise, zieht ordentlich durch und hat eine im Alltag völlig ausreichende Höchstgeschwindigkeit von 160 km/h. Beim Cruisen zeigt sich, dass „Made in China“ längst nicht mehr für billige B-Ware steht. Alle gängigen Assistenten sind serienmäßig an Bord – Kollisionswarner, Verkehrszeichen-Erkennung, Notbremssystem, Querverkehrserkennung beim Ausparken. Beim EuroNCAP-Crashtest hat der Atto 3 die Höchstwertung von fünf Sternen erzielt. Anders als etwa bei VW oder Kia gibt’s jedoch keine Anhängerkupplung. Auch eine Lenkradheizung ist nicht bestellbar.
Der riesige 15,6-Zoll-Bildschirm lässt sich auf Knopfdruck drehen – noch so eine Spielerei, die witzig, aber für den praktischen Gebrauch unnötig ist. Stellt man das Display nämlich hochkant, schränkt das die Sicht durch die Frontscheibe deutlich ein. Überhaupt stellt sich die Frage, ob man wirklich einen so großen Bildschirm braucht oder ob die hochauflösende Landkarte mit ihren zahlreichen Details nicht eher ablenkt. Wer nicht gerade protzen möchte, ist mit der 12,8-Zoll-Variante der einfachen Ausstattungslinie bestens versorgt.
Bedienen lässt sich der Atto 3 über App-Felder wie bei einem Smartphone, sehr intuitiv also. Nur bei manchen Einstellungen muss man sich umständlich durch diverse Untermenüs quälen: Wo war noch mal die Sitzheizung?
Suchen muss ich auch beim Aussteigen, denn – kein Witz! –ich finde den Türknauf nicht. Nach zwei Minuten endlich die Erkenntnis: Es sind die hervorstehenden Lautsprecher!
Beim Navi ist händisches Tippen angesagt, denn aktuell versteht das System nur englische Sprachbefehle. Auch bei der Aussprache hadert das Navi manchmal mit deutschen Begriffen („Schule vor-au“). Leider bietet der Atto 3, wie viele E-Autos in diesem Segment, keine Ladestopp-Planung. Gibt man ein Ziel ein, das mit der aktuellen Batteriefüllung nicht erreichbar ist, erscheinen weder eine Warnung noch ein Vorschlag, wo man unterwegs laden kann. Der VW-Konzern, der wegen seiner Software gerne mal belächelt wird, ist auf diesem Gebiet inzwischen besser.
Einstiegspreis bei 42.000 Euro
Und das wichtigste Bauteil? Hier setzt BYD auf eine selbst entwickelte LFP-Batterie (Lithium-Eisen-Phosphat), die ohne Nickel und Kobalt auskommt, also mit weniger Konflikt-Rohstoffen. 420 Kilometer weit soll die sogenannte „Blade-Batterie“ reichen. Während der Testfahrt zeigt sich, dass 300 bis 350 Kilometer im Sommer möglich sind, wenn man’s beim Stromgeben nicht übertreibt. Sie wieder aufzuladen, dauert allerdings eine Weile: An Schnellladestationen schafft der Atto 3 nur maximal 88 Kilowatt, was eine Dreiviertelstunde Warten bedeutet. Ich finde diese Zeit in Ordnung, weil ich an der Raststätte ohnehin gerne etwas essen gehe. Doch klar ist auch: Andere SUVs sind hier deutlich schneller.
Bestellen kann man den Atto 3 in zwei Varianten: Die günstigere „Comfort“-Linie kostet knapp 42.000 Euro; die teurere „Design“-Ausstattung rund 5.000 Euro mehr. Dafür ist der Bildschirm größer und die Kofferraumklappe öffnet sich elektrisch. Außerdem lassen sich in der Design-Variante externe Geräte an den Atto 3 anschließen, wodurch sich das Auto in eine riesige Powerbank verwandelt. Der Einstiegspeis liegt unter dem von Mercedes und Kia und etwa auf gleichem Niveau wie bei VW. Das ist mutig für einen Hersteller, den in Deutschland bislang kaum jemand kennt.
„Build Your Dreams“ bedeutet in diesem Fall: Der Traum vom konkurrenzlos günstigen China-Stromer ist fürs Erste geplatzt. Trotz kleinerer Schwächen hat der Atto 3 aber durchaus Potenzial, sich langfristig in Europa zu etablieren. Viel mehr als ein Software-Update braucht er dafür nicht – vorausgesetzt natürlich, man mag das Innenraum-Design.
Hinweis: Die Langstrecken-Tauglichkeit des Atto 3 konnte nur bedingt getestet werden, da der Verleiher eine Strecke von maximal 500 Kilometern erlaubt hat.