Es ist fast ein kompletter Neuanfang bei der Nationalmannschaft. Obwohl der Bundestrainer derselbe ist. Und der Kern des Teams auch. Doch Hansi Flick will vieles ändern auf dem Weg zur Heim-EM 2024.
Zu leicht genommen habe man das erneute Vorrunden-Aus bei der WM in Katar nicht, versicherte Bundestrainer Hansi Flick. „Wir haben die WM intensiv aufgearbeitet und analysiert und sind dabei hart mit uns ins Gericht gegangen“, sagte er im Interview mit dem „Kicker“. Danach sei er in Urlaub gegangen, und die erste Zeit dort sei „schon hart“, gewesen: „Ich habe gemerkt, dass das Turnier an mir genagt hat, auch körperlich. Ich musste einen Ausgleich finden und wieder Energie tanken.“ Wie er das gemacht hat? „Morgens in Ruhe Atemübungen zu machen, statt aufs Handy zu schauen – das kann ich nur empfehlen“, sagte er in einem Interview der „Süddeutschen Zeitung“. Schon im Weihnachtsurlaub habe er „viel gelesen, Yoga gemacht, mich gut ernährt, auch meditiert“. Über seine Motivation müsse sich niemand Gedanken machen: „Ich liebe es unvermindert, diesen Job auszuüben.“ Deshalb sei ein Rücktritt auch kein Thema gewesen.
Dennoch: Ein „Weiter so“ kann und darf es nicht geben. Nachdem die WM nun das dritte enttäuschende Turnier in Folge war – nach dem Vorrunden-Aus bei der WM 2018 und dem Scheitern im Achtelfinale bei der EM 2021 – würde ein frühes Aus beim nächsten Turnier nicht verziehen. Denn die Euro 2024 findet in Deutschland statt. Bis dahin hat Flick keine Pflichtspiele. Weil Deutschland als Gastgeber qualifiziert ist und man auf die Teilnahme an einer Quali-Gruppe außer Konkurrenz verzichtet hat. Man habe die Sorge gehabt, dass die Gegner dann oft nicht mit der besten Mannschaft antreten würden, erklärte Flick. Wie will der Bundestrainer also die Kurve kriegen bis zum Eröffnungsspiel am 14. Juni 2024? FORUM beantwortet die wichtigsten Fragen.
Was wird aus Manuel Neuer?
Wer wird nicht mehr dabei sein? Grundsätzlich gab es nach der WM keinen Rücktritt aus der Nationalmannschaft. Über 30 waren in Katar von den Feldspielern auch nur Mario Götze, Jonas Hofmann (beide 30), Ilkay Gündogan (32) und Thomas Müller (33). Letzterer wird bei den ersten Länderspielen am 25. März in Mainz gegen Peru und drei Tage später in Köln gegen Belgien wie bei den drei Länderspielen im Juni erst mal nicht dabei sein. „Das ist mit ihm besprochen, ich möchte jüngeren Spielern bei der Nationalmannschaft eine Chance geben“, sagte Flick: „Das bedeutet aber nicht, dass er für die EM kein Thema ist!“ Auch Müller hat die EM noch nicht abgehakt. Ansonsten kommt sicher alles und jeder auf den Prüfstand. Das gilt auch für scheinbar etablierte Spieler. Niklas Süle, Antonio Rüdiger, Leroy Sané und Hofmann sind im März im Gegensatz zu Götze nicht nominiert. Auch Serge Gnabry, Thilo Kehrer oder Nico Schlotterbeck, der zwar tolle Anlagen und viel Herz zeigt, aber einfach seine Fehler nicht in den Griff bekommt, werden sich beweisen müssen. Verletzt fehlen die Dortmunder WM-Teilnehmer Julian Brandt, Karim Adeyemi und Youssoufa Moukoko.
Wer ist während der Verletzung von Manuel Neuer Stammtorhüter? Und wer danach? Mindestens für den Rest der Saison und damit wohl auch für die Juni-Spiele fällt Kapitän und Stammtorhüter Neuer nach seinem Skiunfall aus. Sein Stellvertreter ist erst einmal Marc-André ter Stegen, der seit Jahren Stammtorhüter beim Weltclub FC Barcelona ist und lange auf seine Chance warten musste. Er sei „aktuell vorne“, sagte Flick, „aber wir haben mit ihm, Kevin Trapp und auch Bernd Leno und Oliver Baumann vier Torhüter auf Topniveau“. Grundsätzlich müsse man sich auf der Position im Tor aber „am wenigsten Sorgen machen“. Im Fall von Neuer, geht er davon aus, dass dieser zu alter Stärke zurückfinde. Doch auch hier gilt: „Es ist nichts in Stein gemeißelt – Manu weiß das.“
Wer wird in Abwesenheit von Neuer Kapitän? Im März erst einmal Joshua Kimmich, weil er derjenige mit den meisten Länderspielen ist. Demnach wird er die Binde abgeben müssen, falls Müller zurückkehrt.
Wer ist neu dabei? Gleich sechs potenzielle Debütanten hat Flick Ende März dabei. Viele der Namen überraschen. Aber es sind Spieler für die Problem-Positionen. Der in Dortmund zuletzt starke Marius Wolf und der bei Abstiegskandidat Stuttgart nicht mal regelmäßig spielende Josha Vagnoman als Außenverteidiger. Der Augsburger Mergim Berisha, der für Brentford spielende Ex-Freiburger Kevin Schade und der Wolfsburger Felix Nmecha für die Offensive. Dazu wurde der für Milan spielende Ex-Schalker Malick Thiaw für die Defensive nachnominiert. Manch einer rechnete nicht mit dem Anruf des Bundestrainers. Während Nmecha gerade „in meinem Zimmer betete“, verpasste Berisha den Anruf. Als echter Neuner hat er sicher die besten Chancen, sich festzuspielen, dazu vielleicht Wolf. Und sonst? Flicks Nominierung wurde durchaus hinterfragt. Der Sportjournalist Frank Hellmann brachte es auf den Punkt. Flicks Nominierungen wirkten teilweise „ein bisschen aktionistisch. Oder will Flick mit dem Mut zur Erneuerung kaschieren, dass er selbst bei der WM in Katar ohne jeden Kompass unterwegs war? Der Bundestrainer hatte nach Katar ja nicht die falschen Spieler mitgenommen, sondern die falschen Leitplanken gesetzt.“ Rückkehrer sind Leno im Tor, der Dortmunder Emre Can auf der Sechs und Florian Wirtz und Timo Werner nach Verletzungen.
Was ist die Lehre auf der Diskussion um die „One Love“-Binde in Katar? Als Ausrede will die Ablenkung vom Fußball durch die politischen Themen offiziell niemand nehmen. Und doch wird sie indirekt immer wieder so benutzt. Und es ist ja auch nicht von der Hand zu weisen, dass dies für Unruhe gesorgt hat. „So viel Druck darf es nie mehr geben – weder auf einen einzelnen Spieler noch auf eine Mannschaft“, sagte Flick. Es gebe sportliche Gründe für das Aus. Doch die Spieler seien „bei dieser Thematik zumindest teilweise von außen getrieben worden. Für die Zukunft heißt das, dass wir uns fragen müssen, welche Themen bei der EM abseits des Sports aufkommen können. Und ob und inwieweit wir zulassen, dass diese Themen der Mannschaft aufgedrückt werden.“ Der neue Sportdirektor Rudi Völler erklärte in der „Sport Bild“: „Aus dem Bauch heraus würde ich sagen: Wir sollten mit einer Kapitänsbinde in den Deutschland-Farben auflaufen. Damit würde man alles ein bisschen beruhigen.“ Er verstehe, dass man ab und zu ein Zeichen setzen muss. „Aber jetzt geht es wieder um Fußball.“
Wie will die Nationalmannschaft die Fans zurückgewinnen? Das ist in der Tat eine der spannendsten Fragen. Manager Oliver Bierhoff galt lange als Personifizierung der Entfernung von der Basis. Nach der WM musste er gehen. Nun wird sich zeigen, ob er tatsächlich eher Spaltpilz oder eher Sündenbock war. Das erste Zeichen muss aber von der Mannschaft kommen. „Es ist wichtig, dass man spürt, da ist eine Mannschaft, die fightet und die den Zuschauern etwas zurückgeben will. Wer das will, kann gerne dabei sein auf unserem Weg zur Euro 24“, sagte Flick. Man müsse „eine solche Leidenschaft an den Tag zu legen, dass sich alle mit der Mannschaft identifizieren können. Wenn der Fan merkt, dass wir für Deutschland alles geben und mit Herz spielen, kann die Stimmung schnell wieder umschwingen.“
Wie will die Nationalmannschaft mehr Fannähe zeigen? Mit dem Sportlichen alleine ist es natürlich nicht getan. Denn durch das Sportliche alleine war es ja auch nicht zur Entfremdung gekommen. Völlers Hauptaufgabenbereich ist es deshalb auch, in vielem zurück zu den Wurzeln zu kommen. „Wir wollen wieder näher an den Fans sein. Wir wissen, dass das zuletzt ein wenig verloren gegangen ist“, sagte Völler. Und da geht es um viel mehr als die Kapitänsbinde. Die Hauptpunkte: Mehr Fannähe und frühere Anstoßzeiten. Letzteres gestaltet sich schwierig. Doch alle im DFB sind sich einig. „Ich habe schon Enkelkinder und werde oft von deren Mitschülern und Mitschülerinnen gefragt: Warum spielt ihr immer so spät?“, erzählte Flick. Zumindest gelegentlich müssten frühere Anstoßzeiten möglich sein. „Da müssen wir schauen, dass wir eine Lösung finden, dass wir vielleicht nicht jedes Spiel früher spielen, aber zumindest ab und zu mal eines haben, bei dem die ganze Familie zuschauen kann.“ Auch Völler hat das auf der Agenda. „Wir haben da an eine Zeit zwischen 19 und 20 Uhr gedacht“, sagte er.
Derzeit werden manche Spiele erst um 21 Uhr angepfiffen. Künftig solle ermöglicht werden, „dass auch jüngere Fans die Nationalmannschaft wieder im Stadion oder vor dem Fernseher erleben können“. So sieht es auch DFB-Präsident Bernd Neuendorf, der aber auf die Hürden wie bestehende TV- und Sponsorenverträge verweist. „Da sind viele Player involviert“, sagte er. Er sei aber zuversichtlich, „dass wir es punktuell hinbekommen“. Und da man Fannähe auch leben muss, gab es in Frankfurt ein öffentliches Training. Und Flick versprach: „Ich bin für die Fans immer da und schreibe gerne Autogramme, mache Selfies. Ich weiß, was das bedeutet. Ich habe selbst als Kind Autogramme gesammelt und werde nie vergessen, wie ich mich als 13-Jähriger mal in den Mannschaftsbus des FC Bayern geschlichen und dort von Kalle Rummenigge mit pochendem Herzen ein Autogramm bekommen habe.“
Ist die EM daheim eher Druck oder eher Antrieb? Grundsätzlich sicher beides. Doch Flick will es klar in die positive Richtung kanalisieren. „Wir müssen diese Konstellation als Glücksfall begreifen“, sagte er: „Als große und seltene Chance, aus der wir Kraft, Energie und Freude ziehen. Diesen Geist wollen und werden wir verinnerlichen und ausstrahlen.“
Wer sind die deutschen Hoffnungsträger: Grundsätzlich gibt es drei Ausnahme-Talente: Wirtz (19), Jamal Musiala (20) und Kai Havertz (23). Das Problem: Alle spielen am liebsten auf derselben Position, zentral hinter der Spitze. „Ich glaube, dass sie sehr gut zusammenpassen“, sagte Flick. Das Trio zusammenzuführen wird eine seiner wichtigsten Aufgaben.