Die Kurden gelten mit mehr als 30 Millionen Menschen weltweit als die größte Ethnie ohne eigenes Land. Die meisten leben in der Türkei. Doch die akzeptiert seit Staatsgründung keine Minderheiten – sagt die Ethnologin und Linken-Politikerin Elke Dangeleit.
Frau Dangeleit, der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg hat eine Städtepartnerschaft mit der nordsyrischen Stadt Dêrik, in der viele Kurden leben – mitten in einem militärischen Konfliktgebiet. Wie kam es zu dieser ungewöhnlichen Städtepartnerschaft?
Dêrik ist eine multikulturelle Stadt im Gebiet der Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien, auch Rojava genannt. Ein selbstverwaltetes, demokratisches Gebiet, das sich 2011 in Abgrenzung zum Assad-Regime gegründet hat. Seit 2014 suchten wir nach einer Möglichkeit, diese Region zu unterstützen, inspiriert von der Solidaritätsbewegung für Nicaragua in den 1980er-Jahren, als viele deutsche Städte Partnerschaften eingingen, welche zu einem Umdenken der ablehnenden Haltung der Bundesregierung beitrugen.
Wie verhält sich die Türkei gegenüber den Kurden?
Das kurdische Volk ist mit über 30 Millionen weltweit die größte Ethnie ohne eigenen Staat. Die meisten leben in der Türkei. Die Türkei akzeptiert seit Staatsgründung 1924 keine Minderheiten in ihrem Land. Kurden wurden einer enormen Assimilierungspolitik unterzogen, ihre Sprache, Feste und Musik verboten und diejenigen, die sich dagegen wehren, werden bis heute als Terroristen verfolgt. In Syrien ist das ähnlich, dort sind alle Menschen per Definition Araber. Das Erdogan-Regime, wie auch das syrische Regime, bekämpfen daher die Selbstverwaltung.
Beschreiben Sie die Situation vor Ort. Was bewegt die Menschen?
Das Gebiet und deren Infrastruktur werden trotz der Erdbebenkatastrophe von der Türkei fast täglich mit Artillerie oder bewaffneten Drohnen attackiert. Zudem unterliegt die Region einem „Rundum-Embargo“: Weder von der Türkei noch vom syrischen Regime oder dem Nordirak gibt es Unterstützung. UN-Hilfen kommen nicht an, weil Damaskus bestimmt, wohin die Hilfslieferungen fließen. Viele sitzen auf gepackten Koffern und wollen nach Europa.
Wie ist die kurdische Selbstverwaltung strukturiert?
Die Selbstverwaltung ist basisdemokratisch orientiert. Alle wichtigen Führungspositionen sind mit einem Mann und einer Frau besetzt, der Frauenanteil in den Gremien beträgt mindestens 40 Prozent. Alle Ethnien und Religionsgemeinschaften müssen prozentual entsprechend ihrem Bevölkerungsanteil in den verschiedenen Regionen in den Gremien vertreten sein. Der Städtepartnerschaftsverein informiert darüber mithilfe von Veranstaltungen, Filmabenden und Ausstellungen und unterstützt mit Spenden und Fördergeldern ökologische und soziale Projekte.
Der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan rechtfertigt militärische Attacken oder Drohnenangriffe mit dem Argument, das Gebiet von kurdischen Terroristen befreien zu wollen. Hat er Recht?
Die türkische Regierung hat große Angst davor, dass das demokratische Modell der Selbstverwaltung auf die Türkei überschwappt. Ähnliche Strukturen gab es dort bis 2015. Nach den letzten Wahlen 2015 in den kurdischen Gebieten wurden diese Strukturen zerschlagen, die gewählten Bürgermeister der einzigen Partei, die sich für Minderheiten einsetzt, HDP, wurden abgesetzt, inhaftiert und durch Zwangsverwalter ersetzt. In Nordsyrien unterstützt die Türkei die konservativ-islamistische Opposition und den IS aktiv. Von der Selbstverwaltung geht keinerlei Gefahr für die Türkei aus, es gibt keine Angriffe auf türkisches Territorium, wie die Türkei behauptet. Die Selbstverwaltung ist vielmehr damit beschäftigt, von der Türkei unterstützte IS-Schläferzellen ausfindig zu machen, um die Bevölkerung zu schützen. Die Menschen in der Region wünschen sich Frieden mit der Türkei, möchten ihre Verwandten in der Türkei besuchen. Erdogan setzt die Selbstverwaltung mit der PKK gleich, für ihn sind alle Kurden dort Terroristen: Frauen, Kinder, Alte.
Wie stehen Sie zur Listung der PKK als Terrororganisation und dem Verbot der kurdischen Arbeiterpartei in den westeuropäischen Staaten und den USA?
In den USA gibt es Diskussionen, die PKK von der Liste der Terrororganisationen zu streichen. Das würde den Konflikt entschärfen und die Türkei zum Umdenken und zu Verhandlungen mit der PKK zwingen. Meiner Meinung nach haben wir es hier mit einer Befreiungsorganisation wie damals in Südafrika, dem ANC, zu tun. Dessen Vorsitzender, Nelson Mandela, saß damals, wie heute der Vorsitzende der PKK, Abdullah Öcalan, in Isolationshaft, weil er für die Abschaffung der Apartheid kämpfte. Die PKK kämpft für die Anerkennung der Kurden als ethnische Minderheit.
Was bedeutet das Verhalten der Türkei für die Machtverhältnisse in der Region?
Die Türkei ist ein destabilisierender Faktor. Erdogan bangt derzeit um seine Mehrheit für die nächsten Wahlen. Siegt die Opposition, droht ihm die Inhaftierung aufgrund zahlreicher Verfassungsbrüche. Und mit ihm würde der korrupte und mafiöse AKP-Sumpf untergehen. Die zunehmende Islamisierung durch die türkische Regierung spaltet die Bevölkerung in der Türkei. In Syrien stärkt das Verhalten der Türkei die Islamisten. Gleichzeitig ist Erdogan um eine Annäherung zu Assad bemüht, um die Selbstverwaltung zu zerschlagen und die Arabisierung der kurdischen Siedlungsgebiete voranzutreiben. Dies wiederum ist auch im Interesse Russlands, da die Türkei die europäischen Sanktionen gegen Russland umgeht.
Welche Interessen verfolgen Russland, die USA oder das syrische Regime in der Region?
Russland will seinen Einfluss im Nahen Osten halten und unterstützt Assad. Das syrische Regime möchte sowohl die von türkischen Besatzern und Dschihadisten regierten Regionen als auch das Gebiet der Selbstverwaltung wieder unter seine Herrschaft bekommen und die Assimilierung der ethnischen Minderheiten weiterführen. Die USA möchten einen Regimewechsel in Syrien und ihre Präsenz in der Region gegen den Iran ausbauen.
Die Türkei erpresst die Nato und knüpft den Beitritt von Finnland und Schweden an die Bedingung, Kurden auszuliefern. Wie stehen Sie dazu?
Die Türkei nutzt den Ukrainekrieg für ihre Interessen. Der Kampf gegen die Kurden steht auch in der Diaspora ganz oben auf der Agenda Erdogans.
Wie schätzen Sie die innertürkische Situation ein?
Die türkische Gesellschaft ist gespalten. Die Metropolen sind westlich ausgerichtet und unterstützen mehrheitlich die säkulare Oppositionspartei CHP. Die ländliche Bevölkerung ist islamisch-konservativ und unterstützt die Regierung Erdogans. Was die Kurden betrifft, sind sich bis auf die HDP alle Parteien einig: Sie haben kein Existenzrecht als Ethnie.
Eigentlich müsste Deutschland für das Thema sensibilisiert sein. Im Januar hat der Bundestag offiziell die systematische Verfolgung und Ermordung der Jesiden im Nordirak, eine religiöse Minderheit unter den Kurden, als Völkermord eingestuft.
Das zeigt die Doppelmoral der Bundesregierung. Wirtschaftliche und geostrategische Interessen werden über Menschenrechte und das Völkerrecht gestellt. Der Völkermord an den Armeniern 1915/16 wurde erst 2016 anerkannt. Die eigenen Interessen in der Türkei sind wichtiger. Man will die Türkei unbedingt in der Nato halten, daher wird bei der Diskriminierung von ethnischen und religiösen Minderheiten in der Türkei weggeschaut.
Was erwarten Sie von der Bundesregierung?
Ich erwarte da leider nichts. Sie wird sich weiter von Erdogan am Nasenring durch die Arena ziehen lassen.