Eine immer älter werdende Gesellschaft verlangt nach medizinischer Versorgung vor Ort. Doch diese bricht nicht nur im ländlichen Bereich immer weiter weg, sondern selbst in Großstädten. In Berlin demonstrierten nun die Hausärzte.
Es ist das typische Demonstrationsbild vor dem Brandenburger Tor, Anfang September: Der Platz ist schwarz vor Menschen, ausgerüstet mit Trillerpfeifen und Ratschen, dabei die obligatorische Trommlergruppe. Die Stimmung ist aufgeheizt, das liegt nicht nur am Wetter, strahlender Sonnenschein und 30 Grad, sondern die, die hier angetreten sind, haben Angst um ihre berufliche Existenz. Es sind Hausärzte und ihre medizinischen Mitarbeiter, die aus ganz Deutschland angereist sind und hier gegen das Praxen-Sterben demonstrieren. Das ist nicht nur ein Phänomen, das die medizinische Versorgung in den ländlichen Räumen zunehmend bedroht, sondern selbst in Ballungsräumen wie in Berlin wird es immer mehr zu einem Problem. Und das, obwohl der Bedarf nicht zuletzt aufgrund der immer älter werdenden Gesellschaft eigentlich größer wird. Bis ins Jahr 2030, so die Prognose der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), soll die „Nachfrage nach ärztlicher Versorgung moderat ansteigen, das ärztliche Angebot jedoch sinken“.
Schwierige Suche nach Nachfolgern
Ans Brandenburger Tor ist auch Dr. Hans-Jürgen Koplin gekommen. Der Internist hat eine gut gehende Praxis in einem bürgerlichen Kiez im Westteil der Hauptstadt. 50 Jahre war er Hausarzt mit Leib und Seele. Der mittlerweile bald 80-Jährige musste über zehn Jahre intensiv suchen, bis er in diesem Frühjahr tatsächlich seine Praxis sicher in neue Hände geben konnte. Ein Novum: Er hat eine Nachfolgerin gefunden, die sich nun niedergelassene Ärztin nennen darf. Dass sich Frauen für die hausärztliche Selbstständigkeit entscheiden, ist eher selten, bestätigt auch die Kassenärztliche Vereinigung Berlin (KV). Abgesehen von den mittlerweile erheblichen wirtschaftlichen Risiken liegt das vor allem an der Arbeitsbelastung: Eine vernünftige Familienplanung ist als niedergelassene Ärztin fast unmöglich.
Doch auch beim männlichen Nachwuchs hält sich die Begeisterung an der eigenen Praxis in Grenzen. „Da geht es ebenfalls um die Work-Life-Balance, aber viel mehr um die finanziellen Unwägbarkeiten einer solcher Selbstständigkeit, selbst in einer wachsenden Großstadt wie Berlin“, gibt die KV-Vize Christiane Wessels zu bedenken. Derzeit sind in Berlin 140 Hausärzte-Stellen offen und die Situation wird sich auch hier in den kommenden 10 Jahren weiter verschärfen. Laut KV ist die Hälfte der Berliner Hausärzte 55 Jahre oder älter. Von den derzeit praktizierenden 2.300 Hausärzten in der Hauptstadt gehen in absehbarer Zeit 800 in Rente. Ein Trend, der sich durch ganz Deutschland zieht. Gerade auch in ländlichen Bereichen wie dem Saarland ist der Mangel spürbar: 52,6 Prozent der 5.297 dort behandelnden Ärzte sind 50 Jahre oder älter, nach Zahlen der Kassenärztlichen Vereinigung Saarland sind sogar 18 Prozent älter als 65.

Eine Nachfolge zu finden, wird aber nicht nur aufgrund des finanziellen Wagnisses schwierig, sondern auch bei den Ärzten gibt es einen Fachkräftemangel. Zum einen sind es die Studienplätze. Die KV im Saarland fordert schon länger eine Neuschaffung von mindestens 30 Studienplätzen vor Ort. Die ambulante medizinische Versorgung hat aber auch für fertig studierte Mediziner ernst zu nehmende Konkurrenz: Kliniken. Wer sich als Arzt für die Festanstellung in einer Klinik entscheidet, muss zwar finanzielle Einbußen in Kauf nehmen, hat aber eine halbwegs geregelte Arbeitszeit. Und an den freien Tagen sitzen Frau oder Herr Doktor nicht in ihrer Praxis und versuchen, die überbordende Bürokratie aus Abrechnung und Dokumentationspflicht in den Griff zu bekommen. So betont beispielsweise Dr. Josef Mischo, Präsident der Ärztekammer des Saarlandes: „Eine zunehmende Anzahl von Ärztinnen und Ärzten arbeitet in stationären Einrichtungen in Teilzeit, um Familie und Beruf besser vereinbaren zu können.“
Dass die – noch – vielen Kliniken in Berlin eine erhebliche Konkurrenz bei der Nachfolge für eingeführte Praxen darstellen, bestätigt auch der Hausarzt Dr. Benjamin Möpert vom Brandenburger Hausärzteverband aus dem Berliner Speckgürtel. Der 36-Jährige hat die Hausarzt-Praxis in Halbe von seiner Mutter nach langen Überlegungen übernommen. „Das ist ein ganz deutlicher Trend, lieber fest angestellt in einer Klinik arbeiten, als mit allen unternehmerischen Risiken selber eine Praxis zu übernehmen. Dabei spielt vor allem auch die Work-Life-Balance eine wichtige Rolle. Ich verdiene als angestellter Arzt zwar etwas weniger, doch habe ich in meinem privaten Leben noch halbwegs gestalterischen Raum“, gibt Möpert zu bedenken. Er hat zwei kleine Kinder, die er auch als Hausarzt-Papa regelmäßig sieht, wie er stolz betont. Aber das ist nur möglich, weil er sich mit anderen Ärzten zu einem Team zusammengeschlossen hat. Das heißt, mehrere ärztliche Fakultäten unter einem Dach, ganz nach altem Vorbild. Seine Mutter hatte noch zu DDR-Zeiten in der Poliklinik angefangen. Ein Modell, das nach der Wende vom Westen ganz schnell aufgegeben wurde, doch nun, 33 Jahre nach der Wiedervereinigung, offenbar vor einer Renaissance steht, nicht nur auf dem Gebiet der ehemaligen DDR.
Die Linke beispielsweise sprach nach der umstrittenen Krankenhausreform Lauterbachs im Sommer bereits von „Zentren“, die „ambulante, stationäre und notfallmedizinische Leistungen aus einer Hand“ erbringen. Man betrachte diese Zentren als „zukünftiges Rückgrat einer integrierten, wohnortnahen Versorgung“. Die einstigen Polikliniken in der DDR bestanden aus Ärzten verschiedener Fachrichtungen, die sich in einer Art ambulantem Mini-Krankenhaus zusammenschlossen. Viele dieser Konstrukte gibt es auch nach der Wende noch: Denn einige Ärzte blieben in den damaligen Gebäuden und schlossen sich zu sogenannten „Ärztehäusern“ mit anderen ambulanten Praxen in den Nachbarräumlichkeiten zusammen. Auch in der Praxis findet der Gedanke der Poliklinik durchaus Beachtung: So hatte beispielsweise 2020 die Firma „Ameos“ in Bezug auf die mangelnde ärztliche Versorgung im Nordsaarland ein Konzept vorgelegt, das eine 13 Fachrichtungen starke Poliklinik mit 200 Betten vorsah. Ein Konzept, das auch die zu diesem Zweck gegründete Bürgerinitiative „Nordsaarlandklink“ willkommen hieß. Final geklärt wurde das Projekt Nordsaarlandklinik allerdings noch nicht.
Polikliniken als letzte Rettung?
Denn auch dem Hausärzte-Konkurrenten Klinik geht es alles andere als gut: „Wir stehen am Vorabend eines großen Kliniksterbens“, sagt der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), Gerald Gaß, und betont: „Wenn Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach dieses Kliniksterben nicht verhindern kann, offenbart dies seine Handlungsunfähigkeit!“ Es sei „inakzeptabel, dass sich in einem Bundeshaushalt von 500 Milliarden Euro keine zehn Milliarden zum Erhalt der flächendeckenden Krankenhausversorgung“ fänden. Immer häufiger müssten Städte und Landkreise Defizite ausgleichen. Und das nicht ohne Folgen: Gaß geht davon aus, dass es innerhalb von zehn Jahren bis zu 20 Prozent weniger Klinikstandorte geben werde als heute (Stand 2022: 1.893). Nach einer aktuellen Analyse des Leibniz-Instituts ist das Saarland am stärksten von weiteren Schließungen bedroht: Fünf Krankenhäuser seien „akut insolvenzgefährdet“. Dabei hatten aufgrund wirtschaftlicher Schieflage in den vergangenen Jahren bereits mehrere saarländische Krankenhäuser geschlossen: Wadern (2017), Dillingen (2019), Losheim (2020), Ottweiler (2021), Karlsbrunn (2022) und jüngst das EVK Saarbrücken (2023). Unterstützung aus der Landespolitik gibt es dabei nicht: Das sei Aufgabe des Bundes, sagte Saar-Gesundheitsminister Magnus Jung (SPD). Doch auf die von seinem Bundeskollegen Lauterbach angekündigte „Revolution“ warten viele Mediziner – etwa so wie Bürger auf den nächsten Facharzttermin.