Entlarvende Aufregung um eine missverstandene Begriffsbedeutung
Brauchtum kann manchmal ganz schön herb sein! Auch wenn die Unesco manches sogar zum immateriellen Kulturerbe der Menschheit erklärt. Seit 5. November 2008 erstellt die Unesco eine repräsentative Liste von inzwischen 90 kulturellen Ausdrucksformen über vier Kontinente wie etwa Tanz, Theater, Musik und mündliche Überlieferungen sowie Bräuche, Feste und Handwerkskünste.
Aus Deutschland stehen die Genossenschaften (2016), der Orgelbau und die Orgelmusik (2017), der Blaudruck (2018), die Falknerei (2021), die Flößerei (2022) und die Praxis des Modernen Tanzes (2022) auf der Auflistung. Das Brauchtum zur Geburt eines Kindes, wie es sich in Deutschland in den vergangenen Jahren eingeschlichen hat, steht nicht auf der Liste.
Es ist der vor allem in Südbayern und Österreich anzutreffende Brauch, die Geburt eines Mädchens mit hunderten Blechdosen, entweder aufgereiht am Straßenrand oder an einem Schellen-Baum aufgehängt, den ein Storch krönt, anzuzeigen. Das Ganze aufgestellt im Vorgarten des glücklichen Elternpaares. Wobei dem stolzen Vater sofort bewusst ist, dass solches Werk aus dem Freundeskreis viele Lagen Freibier zur Folge hat.
Anderswo ist der Brauch anders, erfreut sich aber vor allem in Süddeutschland großer Beliebtheit. Da wird oft die Geburt eines Mädchens auf einem Hinweisschild angekündigt mit: „Zur Büchsen- (mundartlich Bixn-)macherei“. Die Blechdose und das Wort Büchse (Bixn) haben in diesem Fall einen allerdings stark negativ behafteten Sinn, wie einschlägige Lexika belegen. Dort ist zu lesen, dass der bis ins 10. Jahrhundert reichende Ausdruck für Büchse unter anderem auch für Mädchen gebraucht werde, allerdings in stark abwertendem Sinne.
Das sehr alte Wort Büchse stand ursprünglich für kleine Schächtelchen für Arzneimittel oder Gewürze, später dann für Handfeuerwaffen. Im 17. Jahrhundert wurde auch ein lebhaftes freches Mädchen abwertend als Büchse bezeichnet. Später mutierte der Begriff zur Vulgär-Umschreibung des weiblichen Geschlechtsorgans und für liederliche Frauen aus dem Spelunken- und Rotlichtmilieu. Auf diese Weise konnte man Tabubezeichnungen umgehen und gleichwohl die machohafte Geringschätzung von Frauen gesellschaftskonform deutlich machen.
In den Köpfen der Brauchausübenden steckt also auch heute immer noch das Vorurteil, dass die Geburt eines Mädchens weniger wert ist als die eines Stammhalters. In diesem Fall kommt es heute gelegentlich noch vor, dass die stolzen Vererber auf Hinweisschildern als Lumpen- oder Zipfelmacher verspottet werden.
Ob es sich beim Büchsenbrauch um eine Gaudi – wie gewollt des Freibiers wegen – oder um eine Geschmacksverirrung – wie vielfach, meist von Intellektuellen bewertet – handelt, ist umstritten: Die einen sagen so, die anderen sagen so! In Süddeutschland überwiegt die Zustimmung und Freude über den Nachwuchs, auch bei Mädchen-Geburten.
Im Übrigen sei darauf verwiesen, dass Mädchen nicht generell in der Meinung männlicher Geschlechtsgenossen niedriger im Kurs standen. Warum hätten Romulus und Kumpane nach Gründung der Stadt Rom im 8. Jahrhundert vor Christus einen Massenraub junger Mädchen aus dem Volk der Sabiner begangen, um Rom lebensfähig zu machen?
Männliche Überheblichkeit ist also seit Jahrtausenden fehl am Platz, der Büchsenbrauch in Deutschland ist auch noch relativ jung und beginnt erst in der frühen Nachkriegszeit. Einem Bericht der Süddeutschen Zeitung zufolge haben im August 1953 Handwerker einem Mädchen-Vater das Haus mit Blechdosen geschmückt, was seinerzeit völlig ungewöhnlich war. Aber mit dem damaligen Aufkommen von Selbstbedienungsläden standen plötzlich Konservendosen haufenweise zur Verfügung – und die Erwartung eines kräftigen Umtrunks tat ein Übriges.
Und schon begann ein Brauch zur Geburt eines Mädchens, der bis zum heutigen Tage vor allem auf dem Land wächst und gedeiht. Junge Leute lassen sich in Zeiten der strikten behördlichen und sozialen Reglementierung aller Lebensbereiche von der Wiege bis zur Bahre den Spaß an derben Bräuchen und Sitten eben nicht nehmen.