Von weitem ragen sie kegelförmig aus der überwiegend flachen Landschaft des Nord-Pas-de-Calais empor: die Terrils, die Schlackenberge, die durch jahrhundertelangen intensiven Kohleabbau entstanden. Heute zählen sie mit dem „Bassin Minier“ zum Unesco-Welterbe.
Skifahrer sausen eine scheinbar verschneite Piste hinunter, Snowboarder trainieren Kunststücke. Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich die gut 300 Meter lange Abfahrt allerdings als Kunststoffbahn, die durch feinen Sprühnebel so präpariert ist, dass man hier fast wie auf echtem Schnee hinabgleiten kann. Und das unabhängig von den Wetterverhältnissen. Auch der 129 Meter hohe Hügel, den man mit einem echten Skilift hinauffährt, ist kein natürlicher Berg, sondern eine Halde, auf der Abraum aus Jahrzehnten intensiven Kohleabbaus aufgeschüttet wurde. Der Terril von Noeux-les-Mines ist aber nur einer von zahlreichen kegelartigen Abraumhalden mit neuer kreativer Nutzung im sogenannten Bassin Minier, das sich von der belgischen Grenze rund 100 Kilometer durch den Norden Frankreichs zieht.
Dass in diesem Gebiet extrem viele Kohleschichten verliefen, entdeckte man 1720. Und als man die allerletzte Kohlemine im Norden Frankreichs 1990 stilllegte, waren hier rund 2,4 Milliarden Tonnen Kohle aus der Erde geholt worden. Die in der Region gegrabenen und gebohrten Schächte und Stollen erreichen zusammengenommen eine Länge von rund 100.000 Kilometern, was mehr als dem doppelten Erdumfang entspricht.
Gut 270 Jahre lang hatte der Kohleabbau das Bassin Minier geprägt, die Landschaft geformt. Förderanlagen wurden alle paar Kilometer errichtet, wuchtige Gebäude aus rotem Backstein mit Türmen, die sich wie Stahlkolosse Richtung Himmel reckten. Riesige Hallen, in denen Dampfmaschinen und später Elektrizität die Aufzüge in Bewegung setzten, mit denen die Minenarbeiter Hunderte Meter in die Tiefe transportiert und die dort abgebaute Kohle emporgeholt wurden. Eine gewaltige Industrie, die enorm viele Arbeitskräfte benötigte: In den Kohlegruben arbeiteten im 20. Jahrhundert Kumpel dutzender Nationalitäten.
Einst eine gewaltige Industrie
Doch nachdem ab den 1960er-Jahren die Minen im Norden Frankreichs nach und nach stillgelegt wurden, musste die Region eine neue Identität finden, mit den Folgen des Bergbaus umgehen und zugleich Strategien für die Schaffung neuer Arbeitsplätze entwickeln. Von Helikoptern aus wurden Pflanzensamen über den Terrils abgeworfen, um sie zu begrünen – einige haben sich heute zu Lebensräumen entwickelt, in denen seltene Vogel- oder Amphibienarten zu Hause sind. Um das industrielle Kulturerbe zu retten, nachfolgenden Generationen die besondere Geschichte der Region greifbar vermitteln zu können, bewarb sich das Bassin Minier um die Aufnahme in das Verzeichnis der Unesco-Weltkulturerbestätten. Mit Erfolg. Seit 2012 zählt der einstige „Kohlegürtel“ in Nordfrankreich mit seinen landschaftlichen und architektonischen Besonderheiten zum Welterbe der Menschheit.
Auch Kommunen und Vereine setzten sich für den Erhalt einstiger Kohlegruben und der dazugehörigen Arbeitersiedlungen ein, waren doch viele Anlagen bereits kurz nach ihrer Stilllegung abgebaut, die Gebäude demoliert worden. Anders auf dem Gelände von „9-9bis“ beim Örtchen Oignies. Hier haben ehemalige Kohlekumpel gemeinsam mit dem Verein Accusto Seci und mithilfe staatlicher Förderung alte Gebäude und Maschinen restauriert, die Anlage so aufbereitet, dass nun Führungen mit Besuchern beispielsweise durch die einstige Maschinenhalle möglich sind. Seit 2013 finden im und rund um das sogenannte Métaphone Konzerte statt – von regionalen und internationalen Musikern. Das Gebäude ist dank seiner ausgeklügelt konstruierten „Außenhaut“ aus Holz-, Glas- und rostig wirkenden Stahlelementen selbst ein „Musikinstrument“, nimmt Schwingungen und Windbewegungen auf, leitet sie an verbundene Musikinstrumente weiter, sodass daraus ein Sound entsteht. Gleich nebenan waren früher in einem langgezogenen verwinkelten Gebäudekomplex Umkleiden und Duschen für die Kohlearbeiter untergebracht. In der lichtdurchfluteten Haupthalle mit teilweise gekachelten Wänden baumeln von oben noch Ketten mit den Haken herab, an denen die Straßenkleidung der Arbeiter vor Schichtbeginn hochgezogen wurde, damit sie sauber blieb. Heute finden in dem Saal nicht nur Ausstellungen und Performances statt. Weiter hinten ist auch ein Auditorium eingebaut worden, ebenso wie mehrere Studios. Die können Musikprofis und -amateure aus der Region gegen geringes Entgelt buchen, für Proben oder Aufnahmen, was von Chören, Bands, kleinen Orchestern und Singer-Songwritern gleichermaßen gut angenommen wird. Überhaupt: „9-9bis“ wird mittlerweile nicht nur von Touristen als Industriedenkmal besucht sondern hat sich auch als sozio-kulturelles Zentrum in der Region etabliert.
Nationaldenkmal zum Ersten Weltkrieg
Vom Gelände der einstigen Zeche geht es Richtung Lens. Immer wieder ragen aus der Ebene Terrils empor, Kegel aus angehäuftem Abraum, die beeindruckendsten mit gut 180 Metern Höhe sind die bei dem Örtchen Loos-en-Gohelle, die „Zwillinge“. Ein Aufstieg lohnt, auch wenn er nicht ganz einfach ist. Denn bei gutem Wetter reicht der Blick vom Aussichtspunkt unterhalb der nicht zugänglichen Spitze weit über Teile des ehemaligen Departments Nord-Pas-de-Calais.
Man sieht das beeindruckende kanadische Nationaldenkmal von Vimy, das an die im Ersten Weltkrieg in der Schlacht um die Vimy-Höhen gefallenen kanadischen Soldaten erinnert. Es thematisiert aber unter anderem mit mehreren Figurengruppen auch den Wunsch nach Frieden und die Niederlage des Militarismus. 1936 wurde das aufwendig aus Kalkstein und Stahlbeton errichtete Monument feierlich enthüllt, im Beisein von über 50.000 Menschen, davon Tausende von Kanadiern, Mitglieder einer Veteranenorganisation, die jahrelang auf die Möglichkeit einer solchen Pilgerfahrt zu den einstigen Kampf-Orten in Frankreich und Belgien gewartet hatten.
Von den Terrils blickt man auf das ehemalige Bergwerk 11/19 bei Lens, das ebenso wie die nahegelegene Siedlung der Minenarbeiter einen guten Einblick in die Arbeitsabläufe und den Alltag der Menschen im früheren nordfranzösischen Kohlerevier liefert. In den Blick fällt aber auch die Architektur des Louvre Lens, eines kulturellen Leuchtturms für den gesamten Norden Frankreichs.
Aufwendige Sonderausstellungen
2012 wurde das Museum vom damaligen Staatspräsidenten François Hollande auf dem ehemaligen Gelände der „Zeche Nr. 9“ beim Städtchen Lens eröffnet. Entworfen vom japanischen Architekturbüro „SANAA“ scheint der Gebäudekomplex mit seinen Fassaden aus anodisiertem Aluminium und vor allem Glas die umgebende Landschaft, die Vegetation, ja selbst die Wolken am Himmel zu reflektieren. Eine ringsum mit Bäumen bepflanzte Vertiefung vor dem Museum deutet auf den versiegelten Hauptschacht der einstigen Zeche hin. Über 400 Meter ging es hier in die Tiefe.
Heute betreten Besucher des Louvre Lens eine lichtdurchflutete Eingangshalle, von der es in die Galerien, zu den Sonderausstellungen und ins Untergeschoss zu einem Medienbereich geht. Herzstück des Museumskomplexes ist die „Galerie du Temps“– die „Galerie der Zeit“. Auf 3.000 Quadratmetern Ausstellungsfläche sind hier 200 ausgewählte Meisterwerke aus verschiedenen Abteilungen des Pariser Louvre zu sehen, die einen Überblick über 5.000 Jahre Kunstgeschichte bieten: vom ägyptischen Tierrelief, das ursprünglich vom Tempel in Luxor stammte, über eine mittelalterliche Madonnendarstellung aus dem frühen 14. Jahrhundert bis hin zur Büste des Philosophen Jean-Jacques Rousseau und zur Kutschenuhr mit Wappen des Kardinals Richelieu. Eine unglaublich weit gefasste hochkarätige Auswahl, präsentiert in einer 30 Meter breiten Halle, in der keine Pfeiler oder Stützen den Blick auf die Werke versperren. Kunst mit Wow-Effekt – das gilt auch für die aufwendig gestalteten Sonderausstellungen in einer zweiten Galerie des Louvre Lens. Gerade ist eine multidisziplinäre Schau zum Thema „Unterwelten“ zu Ende gegangen. Die nächste Ausstellung widmet sich ganz aktuell dem Thema Exil – von Künstlern und in der Kunst.