Winston Churchill war ein unermüdlicher Vordenker, dessen Ideen die Zukunft der Alten Welt prägte. In einer Rede an der Zürcher Universität rief er zur Bildung einer „Europäischen Familie“ auf – ein Appell, der nicht unbeachtet verhallen sollte.
Nachdem Churchill der britischen Bevölkerung mit seinen inspirierenden Reden Hoffnung und Zuversicht vermittelte, verlor der Premierminister die Wahlen am 5. Juli 1945 für eine erneute Amtszeit. Die Fähigkeit, genau vorherzusagen, wie sich künftige Ereignisse entwickeln würden, kam ihm allerdings nicht abhanden. Dies bewies er über die Zeit bis zu seinem letzten Comeback 1951 in mehreren eindrücklichen Reden, wie etwa der in Fulton im US-Bundesstaat Missouri, in der er über die Bedrohung durch den sowjetischen Kommunismus sprach und den bekannten Ausdruck „Eiserner Vorhang“ prägte. Prägend war ebenfalls die im Jahr 1946 an der Universität von Zürich gehaltene Rede, in der er die Europäer aufforderte, die Gräuel der Vergangenheit hinter sich zu lassen und den Blick in die Zukunft zu richten. Churchill betonte, dass Europa es sich nicht leisten könne, weiterhin in Hass und Rachsucht gegenüber den Wunden der Vergangenheit zu verharren. Der erste Schritt müsse daher die Wiederherstellung einer „Europäischen Familie“ sein, die von Gerechtigkeit, Nachsicht und Freiheit geprägt ist. Nur so könnten hundert Millionen Arbeiter die einfachen Freuden und die Hoffnung auf ein lebenswertes Leben zurückgewinnen.
Neue Ordnung aus den Trümmern des Krieges
Doch woher kam diese Eingebung, und wie hat sich die Überzeugung Churchills über die Jahre, in der er zwei Weltkriege erlebte, manifestiert? Seine europäische Vision war tief in den politischen und geschichtlichen Entwicklungen des 19. und 20. Jahrhunderts verwurzelt. Mit einem klaren Bild über die geopolitische Dynamik Europas und seiner Rolle in der Weltgeschichte war der Vordenker zeitlebens bestrebt, die Zukunft des Kontinents zu gestalten und das Erbe des europäischen Imperialismus und der Kriege zu überwinden. Schon während des Ersten Weltkriegs (1914 – 1918) bekam er einen direkten Einblick in die zerstörerische Macht der militärischen Auseinandersetzung – zuerst als First Lord of the Admiralty und später als Minister für Kriegsangelegenheiten – und damit die Erkenntnis über die Notwendigkeit, Europa zu stabilisieren.
Der Vertrag von Versailles (1919), der das Ende des Ersten Weltkriegs markierte, schuf nicht nur ein neues geopolitisches Gleichgewicht, sondern legte auch den Grundstein für zukünftige Spannungen. Nach dem Ersten Weltkrieg stellte Churchill fest, dass die bestehende europäische Konstellation nicht länger tragfähig war. Insbesondere die zerfallenden Imperien wie das Deutsche, das Österreichisch-Ungarische und das Osmanische Imperium hinterließen ein Vakuum, das von neuen Nationalstaaten und politischen Bewegungen ausgefüllt werden musste. Churchill war der Ansicht, dass Europa aus den Trümmern des Krieges eine neue Ordnung aufbauen musste, die auf Zusammenarbeit und gemeinsamen Interessen basierte, anstatt auf nationalem Egoismus und territorialen Ambitionen.
Entgegen dieser Auffassung mündeten die von zunehmender Instabilität geprägten Nachkriegsjahre im Zweiten Weltkrieg (1939 – 1945). Churchill trat als Premierminister Großbritanniens an die Spitze, um sein Land durch die düsterste Periode der Geschichte zu führen. Doch auch während des Krieges hatte er eine klare Vorstellung davon, wie Europa nach dem Sieg der Alliierten wieder aufgebaut werden sollte. Im Gegensatz zu den isolierten nationalen Interessen vieler europäischer Länder vertrat er die Auffassung, dass nur durch eine enge Zusammenarbeit zwischen den europäischen Nationen eine dauerhafte Friedensordnung sichergestellt werden könne. Dabei war Churchill zuerst skeptisch gegenüber einer vollständigen politischen Union, wie sie nach dem Krieg in Form der Europäischen Gemeinschaft und später der Europäischen Union verwirklicht wurde. Dennoch verstand er die Notwendigkeit, die Alte Welt nach den verheerenden Kriegen auf ein neues Fundament zu stellen.
Barriere gegen eine sowjetische Expansion
Churchill legte seine Vision erstmals in einer Rede an der Zürcher Universität am 19. September 1946 dar. In dieser plädierte er für eine engere Zusammenarbeit zwischen den europäischen Ländern und stellte die Idee eines „Vereinigten Europas“ vor. Er sprach sich dafür aus, dass Europa eine Organisation bilden sollte, die nicht nur die militärische Sicherheit garantierte, sondern auch wirtschaftliche Zusammenarbeit und kulturellen Austausch förderte. Dabei war Churchills Vorstellung eines vereinten Kontinents zunächst eher eine lockere Föderation der westlichen Demokratien. Er setzte auf ein „Europa der Vaterländer“, bei dem jedes Land seine nationale Identität bewahren könnte, während es gleichzeitig von den Vorteilen einer gemeinsamen Zusammenarbeit profitierte. Er war ein entschiedener Befürworter der Idee, dass die Vereinigten Staaten von Amerika und Großbritannien als „zivile Führer“ eine zentrale Rolle in diesem Prozess spielen sollten.
Zugleich ging es ihm darum, das aufstrebende kommunistische Russland von einem solchen Projekt fernzuhalten. Der ehemalige Premierminister setzte sich in seiner Zürcher Rede für die Schaffung einer westlichen Union ein, die schließlich zur Gründung der Westeuropäischen Union (WEU) und der Nato führte. Diese Institutionen sollten eine militärische und politische Zusammenarbeit zwischen den westlichen Ländern gewährleisten und eine Barriere gegen die sowjetische Expansion bilden.
Mit seiner Forderung nach einer vereinten europäischen Zukunft gehörte Churchill zu den Pionieren der europäischen Integration, die darauf abzielte, eine Wiederholung der Gräuel der beiden Weltkriege zu verhindern. Ein erster Schritt in diese Richtung war die Gründung des Europarats. Als 1948 in Den Haag 800 Abgeordnete aus ganz Europa zusammenkamen, übernahm Churchill den Vorsitz dieser Versammlung als Ehrenpräsident – beim großen Europa-Kongress.
Nur ein Jahr später, am 5. Mai 1949, wurde der Europarat offiziell gegründet, und Churchill nahm an seiner ersten Sitzung teil. Sein Aufruf zur europäischen Zusammenarbeit wurde als wesentliche Triebkraft für die Integration betrachtet, die 1955 auf der Konferenz von Messina konkretisiert wurde. Dies mündete zwei Jahre später in die Unterzeichnung der Römischen Verträge.
Skeptisch gegenüber vollständiger Union
Auch die Idee einer „Europäischen Armee“ stammt aus Churchills Vision, die dem Schutz des Kontinents und der Förderung der Diplomatie innerhalb Europas dienen sollte. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, 1959 ins Leben gerufen, ging ebenfalls auf seine langjährige Unterstützung dieser Idee zurück.
Trotz seiner Skepsis gegenüber einer vollständigen politischen Union war Churchill dennoch ein frühes Mitglied des europäischen Einigungsprozesses, da er die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) in den 50er-Jahren unterstützte. Diese Institutionen legten den Grundstein für die spätere Europäische Union, und Churchill selbst erkannte die Bedeutung dieser Entwicklungen.
Winston Churchill war ohne Zweifel ein Visionär, der die politischen und geopolitischen Herausforderungen seiner Zeit verstand und versuchte, Lösungen zu finden, die nicht nur das British Empire, sondern auch das gesamte europäische Projekt betrafen. Seine Ideen und Vorschläge über ein vereintes Europa und die Notwendigkeit der Zusammenarbeit in einer Zeit globaler Unsicherheit sind nach wie vor von Bedeutung. Auch wenn seine Vision eines „Vereinigten Europas“ nie in der Form realisiert wurde, wie er sie sich vorstellte, trugen seine Überlegungen doch entscheidend zur Schaffung der Strukturen bei, die das moderne Europa prägen – von der Europäischen Union bis hin zu den transatlantischen Beziehungen. Churchill bleibt somit nicht nur ein bedeutender britischer Staatsmann, sondern auch ein prägender Vordenker der europäischen Integration und der internationalen Ordnung des 20. Jahrhunderts.