Am 15. April vor 100 Jahren wurde Fritz Haarmann hingerichtet. Er war einer der brutalsten Serienmörder des 20. Jahrhunderts. In die Geschichte eingegangen ist der Fall nicht nur aufgrund der Perfidie des Täters, sondern auch als Exempel für zweifelhafte Verhörmethoden seitens der Polizei.

Nach dem Ersten Weltkrieg spiegelt sich die Spaltung der Gesellschaft auch im Stadtbild Hannovers. Das Besitzbürgertum – Bauunternehmer, Fabrikbesitzer, Bankiers – residiert in den „guten Gegenden“ der Stadt. Ganze Villenviertel mit parkähnlichen Gärten künden von einem angenehmen Leben. Sie stehen in krassem Gegensatz zur Ärmlichkeit der Bauten und des Lebens in den sozialen Brennpunkten, wie etwa der Leine-Insel in der Altstadt, der Calenberger Neustadt und dem Viertel „hinterm Bahnhof“. Dort haust das sogenannte Proletenpack unter menschenunwürdigen Bedingungen: Arbeiter, Tagelöhner, alleinerziehende Kriegswitwen. Die Backsteinhäuser sind schwarz von Deisterkohle, die Tuberkulose breitet sich aus, und die Prostitution bleibt oft die einzige Möglichkeit, sich finanziell über Wasser zu halten. Der jüdische Kulturphilosoph Theodor Lessing beschrieb die schwierigen Lebensverhältnisse in den Elendsvierteln seiner Heimatstadt 1925 eindringlich: „Die aus dem Krieg übrig gebliebene Jugend hatte die Lehre begriffen, dass man um eines Rockes, um ein paar Stiefel willen den Feind töten darf. Und Feind ist jeder andere.“
24-Mal zum Tode verurteilt

Friedrich Heinrich Karl Haarmann, geboren 1879 in Hannover und von Beruf Altkleiderhändler, war einst vor seinem prügelnden Vater aus der Altstadt geflohen. Nachdem er im Alter von 25 Jahren bereits zehn Jahre Zuchthaus wegen Diebstahls, Betrugs, Unterschlagung, Körperverletzung und sexuellen Missbrauchs hinter sich hatte und längere Zeit in psychiatrischen Kliniken eingesperrt war, begann in der Gegend um den Hauptbahnhof seine eigentliche kriminelle Karriere. Von 1918 bis 1924 tötete er mindestens 24 Kinder und junge Männer zwischen zehn und 22 Jahren in sexueller Ekstase – zumeist mit einem Biss in den Adamsapfel. Nachdem er seine „Puppenjungs“ – wie er sie nannte – skalpiert, ausgeweidet und fein säuberlich zertrennt hatte, verbrannte er die Leichenteile oder warf sie in die Leine. 1924 fand man beim Angeln am Hohen Ufer mehrere Schädel. Lange schenkte die Polizei den Gerüchten keine Aufmerksamkeit. Als aber immer mehr junge Männer vermisst wurden, suchte sie Fritz Haarmann in seiner Dachkammer in der Roten Reihe auf. Es zeigte sich, dass Fußboden und Wände von Menschenblut durchtränkt waren. Um Haarmann ein Geständnis zu entlocken, stellte man in der Zelle des abergläubischen Delinquenten präparierte Schädel seiner Opfer auf; hinter den mit rotem Papier bestückten Augenhöhlen leuchtete eine Kerze. Zusätzlich stattete man die Zelle mit einem Sack aus, der die Gebeine der Ermordeten enthielt. Haarmann sollte glauben, dass ihn die Seelen der Toten heimsuchten. Doch geständig wurde er erst, als man ihn bei Verhören mit einem Gummischlauch traktierte und ihm in die Genitalien trat. Erst seit 1960 weiß man von den zweifelhaften Methoden der hannoverschen Justiz im Jahre 1924.

Im Laufe der Ermittlungen wurde die Vermutung laut, der sogenannte Vampir oder Werwolf von Hannover sei als Spitzel in Diensten der Polizei unterwegs gewesen; daher sei ein Zugriff erst relativ spät erfolgt. Der Journalist und Autor Kurt Tucholsky nahm im August 1924 in einem aufsehenerregenden Text in der Wochenzeitschrift „Weltbühne“ Stellung zu diesem Fall, aus dem er auf das korrupte Polizei- und Justizwesen der Weimarer Republik schloss.
Fritz Haarmann wurde am 19. Dezember 1924 24-mal zum Tode verurteilt und am 15. April 1925 im Hof des hannoverschen Gerichtsgefängnisses durch das Fallbeil hingerichtet. Angeblich hat er sich seine Henkersmahlzeit zweimal bringen lassen. Schon während des Prozesses wünschte er sich in dummdreister Selbstgefälligkeit folgenden Grabtext: „Zum ewigen Andenken an den Massenmörder Fritz Haarmann und seiner Opfer. Die Knochen sollen alle mit mir beerdigt werden und alle Welt soll noch in tausend Jahren von mir sprechen.“ Dieser schauerliche Wunsch wurde ihm nicht erfüllt. Stattdessen finden Spaziergänger noch heute ein Ehrengrab für seine Opfer auf dem historischen Stadtfriedhof in Hannover-Stöcken. Die Eltern der Opfer hatten es der Stadt 1928 nach jahrelangem Ringen abgetrotzt, durften das Wort „ermordet“ allerdings nicht auf den Stein meißeln lassen. Erst 1975 starb in Hannover Haarmanns ehemaliger Zuhälter und mutmaßlicher Geliebter Hans Grans, den er mit den Kleidern der Vermissten ausgestattet hatte.

Wie es der Teufel will, wurde Grans eine fragwürdige Ehre zuteil: Ein Serienmörder rettete sein Leben. Denn auch gegen ihn wurde in Hannover das Todesurteil verkündet, wegen Anstiftung zum Mord. Dann aber verfasste Fritz Haarmann ein Schreiben, in dem er die Verantwortung für sämtliche Morde auf sich nahm. Bei der Wiederaufnahme des Prozesses wurde das ohnehin umstrittene Urteil gegen Grans in eine zwölfjährige Haftstrafe umgewandelt.
Überaus morbide Anziehungskraft

Eigentlich hätte Hans Grans 1936 entlassen werden müssen. Aber die nationalsozialistischen Justizbehörden klassifizierten ihn als hochgefährlich und er landete im Konzentrationslager Sachsenhausen. Die Befreiung durch die britische Armee brachte ihm keine Erlösung, sondern man steckte ihn und andere Häftlinge gleich wieder in den Knast. Erst nach fast 22 Jahren kam Hans Grans wieder frei. Er heiratete und begann, um eine Entschädigung zu kämpfen. Aber er sollte bis zu seinem Tod mit 74 Jahren nie eine Chance auf Wiedergutmachung bekommen.

Fritz Haarmann und kein Ende: Vom Geist des Ortes lebt heute nicht nur die Rote Reihe in der Calenberger Neustadt, wo er im Dachgeschoss Nummer 4 sein Domizil hatte – und eben nicht in der 8, wie das makabre Haarmann-Lied „Warte nur ein Weilchen“ behauptet. Nebenan befand sich die Kaschemme, in der Haarmann die Überreste seiner Opfer als angebliches Pferdefleisch verkaufte. Beide Häuser stehen heute nicht mehr, doch der „Kannibale von Hannover“ ist in seiner Heimatstadt immer noch präsent. Wegen ihrer großen Popularität und medialen Anziehungskraft wurde versucht, Tat und Täter als Instrument des Marketings einzusetzen. Hat Fritz Haarmann Popstarqualitäten? Darüber gehen die Meinungen offensichtlich auseinander.

1992 führte der Ankauf des sogenannten Haarmann-Frieses des österreichischen Bildhauers Alfred Hrdlicka durch das Land Niedersachsen und die Stadt Hannover zu einer Protestaktion. Die Plastik wurde für viele Bürger zu einem beschämenden „Denkmal für den Massenmörder“ und führte zu einer bundesweiten Medienkampagne. Weitaus positiver aufgenommen wurde 1996 Romuald Karmakars Kammerspiel „Der Totmacher“ mit Götz George. Der Regisseur erhielt dafür den Deutschen Filmpreis und das Filmband in Gold. Die Rolle als Serienmörder geriet für George zu einem der größten Triumphe seiner Karriere. Zum Massenthema taugte Haarmann aber nie.
Den Kopf hat man 90 Jahre gelagert
2004 druckten die hannoverschen Stadtwerke in ihrem Kundenmagazin ein Würfelspiel namens „Die Haarmann-Schleife“ ab, worauf die Ausgabe eingestampft werden musste. Ebenso zog die Hannover Marketing und Tourismus GmbH 2007 einen Adventskalender zurück, auf dem der dunkle Sohn der Stadt mit Beil abgebildet war. Und 2012 schaltete sich der DFB in die Debatte um eine im Fanblock von Hannover 96 gezeigte Fahne mit dem Konterfei des Serienmörders ein. Das makaberste Zeugnis der Allgegenwart Fritz Haarmanns jedoch befand sich bis vor einigen Jahren in Göttingen. In der dortigen Universität wurde der abgetrennte Kopf des wohl berüchtigtsten Serienmörders des 20. Jahrhunderts fast 90 Jahre lang aufbewahrt. Wie das Göttinger Tageblatt berichtete, wurde das Präparat nach jahrelangen Kontroversen über seinen Verbleib verbrannt und anonym bestattet. Last but not least brachte das Staatsschauspiel Hannover 2016 das Musical „Amerikanisches Detektivinstitut Lasso“ über den Massenmörder auf die Bühne. „Nicht wirklich abendfüllend“, urteilte der Deutschlandfunk.