An der Universität Bielefeld forschen Wissenschaftler daran, wie Menschen mit Ungewissheit und Verunsicherung umgehen. Der Sozialpsychologe und Konfliktforscher Andreas Zick erklärt, warum diese auch positive Effekte haben können.
Unsicherheit stresst die meisten Menschen. Unser Gehirn weiß gern, wo es lang geht, was richtig und was falsch ist. Wenn nicht, schüttet der Körper Stresshormone wie Cortisol und Adrenalin aus. Auf Dauer können daraus Depressionen, Herz- und Schlafprobleme sowie andere Beschwerden entstehen. An der Universität Bielefeld hat sich eine Forschungsgruppe genauer angesehen, wie Menschen mit Unsicherheit umgehen. Unter dem Titel „Modes of Navigating Uncertainty and their Societal Impact“ haben sie auch die positiven Effekte von Unsicherheit beleuchtet. Uncertainty im Sinne des Forschungsprojekts beinhaltet den negativ besetzten deutschen Begriff Unsicherheit ebenso wie die Ungewissheit. Die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen wollen zeigen, dass Ungewissheit und Verunsicherung auch nützlich sein können.
Dabei geht jeder mit Unsicherheit anders um, lässt sich von Dingen unbeeindruckt, die andere verunsichern und umgekehrt. Die siebenjährige Emmy beispielsweise sitzt mit ihrem Papa im strahlenden Sonnenschein auf den Stufen am Alten Markt in Bielefeld und schleckt hingebungsvoll an ihrem Eis. Ein entspannter Sommernachmittag in der Bielefelder Altstadt. Leute flanieren vorbei, manche bepackt mit Einkaufstüten. Sie genießen das warme Wetter. Verunsichert fühlt sich Emmy nicht. „Nö“, sagt sie. Auch von politischen Ereignissen wie dem Krieg in der Ukraine nicht? Emmy schüttelt den Kopf und widmet sich wieder ihrem tropfenden Eis. Auch ihr Vater sieht die Lage eher entspannt.
Ausschüttung von Stresshormonen
Andere sind nachdenklicher: Marie-Pascale Gräbener, stadtbekannte Künstlerin und engagiert für Umwelt und Nachhaltigkeit, fühlt sich beispielsweise „sehr verunsichert“. Die 60-Jährige hat das Gefühl, dass ihr „ganzes Leben plötzlich nicht mehr planbar ist“. Groß geworden sei sie in einer Zeit der klaren Lebensabläufe: Schule, Ausbildung oder Studium, Heirat, Haus, Kinder und Vereine. „Also ich habe das zwar nicht alles so genau mitgemacht, aber ich war von dieser planbaren Ruhe umgeben.“ Die gebe es nun nicht mehr. Die Zeichnerin und Performance-Künstlerin versucht, für sich das Beste daraus zu machen. Ihre Medizin: Begegnungen, „ein gutes Zusammensein und Singen in Gemeinschaft“. So merke sie die belastende Unsicherheit nicht mehr.
Nach Angaben des Statistik-Portals Statista sagten 2020 fast drei von vier Befragten, dass Angst und Verunsicherung in der deutschen Gesellschaft zunehme und damit auch die Aggressivität. Auch das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen UNDP beobachtet 2022: „Insbesondere in Ländern mit hohem Wohlstandsniveau und gutem Gesundheits- und Bildungswesen“ sei die Verunsicherung größer als vor zehn Jahren.
Die Auswirkungen sind gravierend, wie der Konflikt- und Gewaltforscher Andreas Zick an der Uni Bielefeld berichtet: „Populisten verunsichern Menschen gezielt, um ihnen dann vermeintlich einfache Lösungen anzubieten.“ Zick nennt als Beispiel die Verbreitung von Verschwörungslügen während der Corona-Pandemie.
Parteien wie die AfD in Deutschland, die FPÖ in Österreich und andere Ultra-Rechte betreiben dieses Geschäftsmodell in Europa und den USA. Mit Stimmungsmache gegen Minderheiten kochen sie ihr politisches Süppchen auf wachsender Verunsicherung durch Pandemie, Zuwanderung, schlechter Stimmung in der Wirtschaft und Klimakrise.
Andreas Zick ist einer der Wissenschaftler, die in der Forschungsgruppe „Modes of Navigating Uncertainty and their Societal Impact“ beleuchtet, wie Menschen mit Unsicherheit und Ungewissheit umgehen. Der Sozialpsychologe, Konfliktforscher und Erziehungswissenschaftler leitet das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung IKG an der Uni Bielefeld.
Die meisten Menschen empfinden Ungewissheit als etwas Unangenehmes, das sie loswerden möchten. Wer ihnen verspricht, dass sie auch angesichts der Klima-Krise ihr Leben so weiterleben können wie bisher, kann sich auf steigende Umfragewerte freuen. Die AfD steht inzwischen bei mehr als 20 Prozent.
Alle zwei Jahre veröffentlicht das IKG die Mitte-Studie, in der es Ergebnisse zahlreicher Umfragen auswertet: Das Misstrauen gegenüber politischen Entscheidungen nehme deutlich zu – Zeichen einer Krise. Dies „ist eine Situation, eine Zeit, in der Routinen und Rituale nicht mehr funktionieren, also Zeiten der Verunsicherung.“
Hat oft wenig mit Fakten zu tun
Das bestätigen auch andere Umfragen. Im Herbst 2022 fragte das Civey-Institut die Menschen in Deutschland nach ihrer Stimmung. Damals sagten 42 Prozent, der Begriff „Unsicherheit“ beschreibe diese zutreffend. Ein Drittel nannte das Gefühl von Kontrollverlust und Machtlosigkeit, jede und jeder Vierte nannte Angst und Hoffnungslosigkeit. 41 Prozent seien „wütend angesichts der politischen Lage“. Darunter leiden Demokratie und Toleranz. In den Umfragen zur Mitte-Studie sagte jede beziehungsweise jeder Fünfte: „Vielleicht sollten wir jetzt wieder einen Führer haben, der das Volk zum Wohle aller regiert“.
Am Beispiel der Corona-Pandemie kritisiert Andreas Zick den Umgang mit diesen Entwicklungen: Die Regierung habe Rat bei Virologen und anderen Fachleuten gesucht, aber kaum bei Soziologinnen und Soziologen. Auch Fachleute aus Pädagogik und Sozialarbeit seien zu wenig gefragt worden.
Dass die von vielen Menschen gefühlte Unsicherheit oft wenig mit den Fakten zu tun hat, belegt der Sozialwissenschaftler an einem Beispiel: Bielefeld sei der Kriminalstatistik zufolge die drittsicherste Stadt Deutschlands. „Und trotzdem haben wir hier Räume, wo sehr stabil die Mehrheit der Bielefelderinnen und Bielefelder sagt, da ist es unsicher. Das sind Räume, wo junge Menschen sind, wo Kriminalität vermutet wird.“
Grund für das Missverhältnis: Der Mensch sei von der Evolution darauf programmiert, vor allem mögliche Gefahren wahrzunehmen. Das führt dazu, dass die Leute da hinschauen, wo es gefährlich werden könnte. Horrormeldungen und andere schlechte Nachrichten werden mehr beachtet und geklickt. Sie bringen den Medien einen Vorsprung im Kampf um die immer knapper werdende Aufmerksamkeit des Publikums. In den sogenannten sozialen Medien verbreiten sich Aufreger-Meldungen besonders schnell. Sie sichern den Urhebern maximale Beachtung. Das gilt auch für Falschnachrichten und gezielte Desinformation. Immer wieder geistert die Behauptung durchs Netz, eine 28-köpfige syrische Familie bekomme vom Staat 30.000 Euro Sozialhilfe im Monat. Dass mehrere Behörden das bereits widerlegt haben, verhindert nicht, dass die angebliche Nachricht immer weiter verbreitet wird.
Durch solche und andere echte oder falsche Aufreger gerät, so Andreas Zick, die Politik immer mehr unter Handlungsdruck, muss immer schneller entscheiden. Zu all den Krisen komme also eine Kommunikationskrise – zusätzlich verschärft durch die rasante Entwicklung der Künstlichen Intelligenz.
Eine Patentlösung hat der Sozialpsychologe und Konfliktforscher nicht, aber Ideen, wie sich die Situation etwas entspannen ließe: Politik sollte den Mut haben, auch mal Dinge auszuprobieren – und offen sagen, dass niemand sicher weiß, ob und wie es dann funktioniert. Es gehe darum, Unsicherheit zuzulassen und sich in Ruhe nach Rat und Expertisen umzusehen.
Autoritäre Reflexe lieferten dagegen nur Schein-Sicherheiten. Zick empfiehlt stattdessen, die Menschen zu fragen, was genau sie so verunsichere, dass sie sich autoritär organisierten Gruppen anschließen. „Und da können wir viel lernen aus dem Bereich der Deradikalisierung.“ Damit meint er die Programme, die versuchen, junge Leute aus rechtsextremistischen und islamistischen Gruppen zu holen.
Ungewissheit und Unsicherheit sieht Zick auch als eine Chance zur Selbstermächtigung. Man könne Menschen „vermitteln, dass die Ungewissheit, die sie spüren, ganz gut ist und sie in den Stand versetzt, kompetent selbst Lösungen zu suchen.“ Jeder Lernprozess, sagt Andreas Zick, beginne mit einer Verunsicherung.
Die Forschungsgruppe an der Uni Bielefeld hat einige Beispiele dafür gefunden: So hat der Wirtschaftsmathematiker Manuel Förster mit seinem Team die Auswirkung von Verunsicherung auf die Verbreitung von Falschinformationen berechnet. Fazit: Wer unsicher ist, ist eher bereit, eine Information zu überprüfen, die er oder sie zum Beispiel im Netz findet. Beispiel: Wer nicht weiß, ob er oder sie sich impfen lassen möchte, prüft und hinterfragt die Informationen, die er dazu findet, viel eher.
Hier kann also Unsicherheit dazu beitragen, dass die Menschen nicht so leicht auf Fake News hereinfallen. Je mehr Nutzerinnen und Nutzer Informationen aus dem Netz überprüfen, desto weniger werden sie verbreitet. Die Urheber würden Follower verlieren, wenn sie als Verbreiter von Desinformation überführt würden. Entscheidend sei es deshalb, die Kosten und den Aufwand für Faktenchecks zu reduzieren. Denn: Je einfacher sich Informationen überprüfen lassen, desto mehr Nutzerinnen und Nutzer tun dies.
Informationen prüfen
Manche Erkenntnisse aus der Forschungsgruppe überraschen nicht, andere aber doch: Der Wirtschaftswissenschaftler Herbert Dawid meint, dass etwa Unternehmen für unsichere Investitionen unter bestimmten Voraussetzungen günstigere Kredite bekommen, als für relativ sichere Investments. Gerade wenn ein Kreditnehmer wenig oder keine Sicherheiten hinterlegt hat, wäre das Geld des Kreditgebers weg, wenn sein Partner Pleite geht. Also verlangt er weniger Zinsen – zumindest wenn er an das finanzierte Projekt glaubt. In diesen Fällen hat Unsicherheit also einen klaren Vorteil.
Außerdem beschleunigten Ungewissheit und Unsicherheit, so Dawid, Innovation und technischen Fortschritt. Die Gas- und die Klima-Krise befeuern die Energiewende: Die Hersteller von Wärmepumpen investieren in die Entwicklung von leiseren und effizienteren Geräten, weil sie hier einen wachsenden Absatzmarkt sehen. In Sachsen wurde kürzlich der Prototyp eines Hochwindrads vorgestellt, das dank seiner enormen Höhe wesentlich mehr Strom produziert als herkömmliche Windräder.
Aus Unsicherheit entstehen neue technische Entwicklungen, die aber neue Unsicherheiten schaffen. Sogenannte smarte Produkte wie selbst fahrende Autos werfen neue Fragen zu Sicherheit und Datenschutz auf. Um diese zu lösen, erfinden Menschen wieder neue Techniken.
Die Bielefelder Forschungsgruppe beschäftigt sich neben wirtschaftlichen auch mit sozialen Aspekten von Uncertainty. Der englische Begriff umfasst die deutsche „Ungewissheit“ ebenso wie die „Unsicherheit“.
Für den Historiker Kirill Postoutenko sind etwa Unsicherheit und Freiheit zwei Seiten einer Medaille. Die zeige sich etwa an der Entscheidung, wofür man sein Geld ausgibt. Wer entscheiden muss, ob er sein knappes Bürgergeld für Lebensmittel oder Schulbücher ausgibt, erlebt diese Unsicherheit als bedrohliche Zwangslage. Wer sich aussuchen kann, ob er von übrigem Geld sein Haus umbaut oder ein neues Auto kauft, erlebe Entscheidungs-Freiheit.
Interessant ist auch der Umgang mit Ungewissheit und Unsicherheit in anderen Kulturen, zum Beispiel in Lateinamerika. Die Wissenschaftlerin Carolina Falcão hat sich in Brasilien intensiv mit dem Werk des indigenen Menschenrechts- und Umweltaktivisten Ailton Krenak beschäftigt. Sein Buch „Ideen, um das Ende der Welt zu vertagen“ ist inzwischen auch auf Deutsch erschienen.
Falcão sagt, dass die Menschen zum Beispiel in Brasilien gelernt hätten, ihren Alltag in kleinen, überschaubaren Gemeinschaften wie Familien oder Nachbarschaften trotz der allgegenwärtigen Ungewissheit und Unsicherheit zu organisieren. Hier im Globalen Norden versuche man dagegen, Ungewissheit und Unsicherheit einzuhegen und zu kontrollieren, was ja auch nicht immer funktioniert.
Brasiliens Umweltministerin Marina Silva setzt sich zum Beispiel sehr für den Erhalt des Regenwalds ein. Dafür stellt sie auch die in Brasilien allmächtige Agrarindustrie infrage. Niemand könne sich aktuell Brasilien ohne diese zerstörerische Industrie vorstellen. Aber wenn man sich auf seine Träume und Utopien einlasse, könne sich das ändern.