Gemessen an der individuellen Qualität kann Union Berlin dem Europameister nicht das Wasser reichen. Aber in einer Sache wollen die Köpenicker unter ihrem neuen Trainer den Spaniern nacheifern.
Die Fußball-Europameisterschaft hat Bo Svensson nicht nur als Fan verfolgt. „Man kann ein paar Sachen mitnehmen“, sagte der neue Trainer des 1. FC Union Berlin. Seine wichtigste Erkenntnis des vierwöchigen Turniers in Deutschland: Organisation ist weiterhin der wichtigste Faktor für Erfolg. „Spanien war die Mannschaft mit dem klarsten Plan und der besten Umsetzung“, meinte der Däne. Aus Sicht eines Trainers sei es deshalb schön, dass die Spanier gewonnen hätten. „Wie sie mannschaftstaktisch unterwegs sind und wie die Prinzipien greifen – das war inspirierend.“ Aber auch für seine Arbeit bei Union? „Wir werden nicht spielen wie die Spanier“, warnte Svensson sogleich vor zu großen Erwartungen. Aber die grundlegende Überzeugung der Iberer wolle er auch bei seinem neuen Arbeitgeber versuchen durchzusetzen. Anders als Finalgegner England würden die Spanier „eine gemeinsame Idee pflegen“, erklärte Svensson: „Das heißt, sie können schneller spielen, und viele Spieler nehmen die gleiche Situation gleich wahr.“
Von der Spielidee war kaum etwas zu sehen
Bis zur vermaledeiten Vorsaison haben viele Kontrahenten so auch voller Respekt über den Union-Stil gesprochen. Doch in der abgelaufenen Spielzeit, die beinahe im Abstieg endete, war von einer gemeinsam und diszipliniert umgesetzten Spielidee kaum etwas zu sehen. Das will der neue Chef an der Seitenlinie zwingend ändern. Dabei wird er die Union-DNA nicht grundlegend ändern, auch unter Svensson soll kompakt verteidigt und der Gegner mit Lauf- und Zweikampfstärke mürbe gemacht werden. Doch es gibt Modifizierungen bei der Taktik. So kündigte der neue Cheftrainer bereits an, dass das Team defensiv nicht mehr so tief stehen werde. Das erfordert vor allem für die Abwehrspieler um Kevin Vogt ein Umdenken. „Man muss beispielsweise als Innenverteidiger anders spielen und gut einschätzen können, wann man nach vorn verteidigt. Man hinterlässt in diesem Moment auch Platz hinter der Abwehrkette“, erklärte Svensson: „Da geht es auch um die gegenseitige Absicherung.“ Stichwort Spanien.
Klar ist auch, dass das Spiel gegen den Ball zu Beginn den Hauptteil von Svenssons Arbeit mit seiner neuen Mannschaft ausmacht. Hier wolle er bis zum Saisonstart am 17. August in der ersten DFB-Pokalrunde beim Greifswalder SC und eine Woche später zum Bundesligastart bei seinem Ex-Club FSV Mainz 05 die größten Fortschritte sehen. Es solle „eine gemeinsame Struktur und Idee für das Spiel“ geben, so Svensson: „Wir wollen, dass alle Spieler die gleiche Auffassung von der Situation haben.“ Stichwort Spanien. Haben die Profis dies erst verinnerlicht und können dadurch mit einer gewissen Sicherheit agieren, dürfen sie auch eigenverantwortlich kreativ werden. Svensson will dies keineswegs verhindern, sondern sogar fördern – sobald die Basics auf einem stabilen Fundament stehen. Dies könne den Spielern erlauben, „auch mal die Individualität in der Entscheidung zu haben“.
Gespannt darf man darauf sein, ob Svensson das bei Union traditionelle System mit Dreier-Abwehrkette beibehält oder nicht. In Mainz und auch bei seinen vorherigen Stationen hat der frühere Abwehrspieler mit vier Mann in letzter Linie verteidigen lassen. „Ich bin nicht auf ein System festgelegt“, sagte er zur Taktik-Diskussion, „ich will unsere Spieler in ihre jeweils beste Position bringen und sie nicht in ein System hineinzwängen“. Viel wichtiger sei der Wille der Spieler, ein gewisses System mannschaftsdienlich umzusetzen. Diesbezüglich hat Svensson wenig Sorgen, zumal es ihnen im Umfeld vorgelebt wird. Mannschaft, Fans und Mitarbeiter des Clubs würden seit Jahren eine Einheit bilden und sich durch nichts auseinanderbringen lassen. „Dieses Bewusstsein, dass alle füreinander da sein sollen, das wird hier vorgelebt“, registrierte Svensson schon nach wenigen Wochen beim Verein aus Berlin-Köpenick: „Damit kann ich mich selbst sehr gut identifizieren. Es ist die Grundlage dafür, was wir vorhaben.“
Keinen Treffer durch einen Freistoß
Auffällig ist auch, dass Svensson an der Standard-Schwäche der Köpenicker arbeitet. Beim ruhenden Ball, in den Jahren zuvor eigentlich die große Stärke von Union, bekam das Team so gut wie nichts hin. Offensiv wie defensiv nicht. Kein einziger der ohnehin nur 33 Ligatreffer resultierte aus einem Freistoß, und hinten fielen viel zu viele Gegentore nach Standardsituationen. Svensson: „Auch da wollen wir Strukturen haben, aus denen Kreativität entsteht.“ Stichwort Spanien. Bei den Varianten vertraut Svensson auf Co-Trainer Kristoffer Wichmann, der intern als Standard-Spezialist gilt. Für die Spieler heißt es: üben, üben, nochmals üben. Es müssen Automatismen her, sowohl für den Körper als auch für die Köpfe. „Es gibt viele Komponenten“, sagte Svensson: „Alle Abläufe bringen nichts, wenn der Ball nicht in den richtigen Raum kommt. Wenn der Ball dorthin kommt, und die Spieler sich nicht im Klaren sind, was ihre Aufgaben sind, wird es auch schwierig. Man muss es trainieren.“
Dies taten die Unioner vor allem im einwöchigen Trainingslager im österreichischen Oberlangenfeld im Ötztal. Man sei für den Stand der Vorbereitung schon „sehr gut dabei“, lobte Svensson. Doch der Nachfolger des glücklosen Kroaten Nenad Bjelica betonte auch, dass es bis zum Saisonstart noch viele Baustellen zu bearbeiten gebe. „In keinem Punkt sind wir so weit, wie ich mir vorgestellt habe, also im Sinne von wo wir am Ende stehen müssen.“ Das trifft auch auf die personellen Planungen zu. Der Kader muss und wird noch Veränderungen erfahren, und Svensson will auch hier zumindest mitsprechen. Öffentlich fordern tut er aber keine neuen Spieler. „Ich konzentriere mich auf die Jungs, die hier sind“, sagt er lediglich. Wohl wissend, dass der neue Sport-Geschäftsführer Horst Heldt und der zum Chefscout umbesetzte Oliver Ruhnert hinter den Kulissen an Verstärkungen arbeiten. „Ich glaube, keine Mannschaft ist derzeit schon fertig“, sagte Svensson: „Ich beeinflusse, was ich beeinflussen kann.“
Das betrifft auch die Wahl des neuen Kapitäns und des Mannschaftsrates. Beides soll im zweiten Trainingslager in Neuruppin, das am 3. August endet, geschehen. Klar ist, dass Svensson zumindest bei der Ernennung des Kapitäns keine Kompromisse eingehen wird: „Ich entscheide das.“ In den vergangenen Jahren war Christopher Trimmel der Kapitän und unumstrittene Führungsspieler – zumindest in der Kabine. Auf dem Feld musste sich der 37-Jährige, der seinen Vertrag noch mal verlängert hat, mit immer weniger Spielzeiten zufriedengeben. Ob sich das unter Svensson ändert, bleibt abzuwarten. Klar ist aber, dass Trimmel auch in der Saison 2024/25 mit seinen Führungsqualitäten gefragt sein wird. „Ich glaube, dass es wichtig ist, dass wir viele Spieler haben, die bereit sind, Eigenverantwortung zu übernehmen“, sagte Svensson. Er erwartet von allen eine offene und vor allem ehrliche Kommunikation mit ihm und seinen Co-Trainern. „Wenn ihnen irgendwas auf oder neben dem Platz nicht passt, sollen es die Spieler ansprechen.“