Die Europawahlen gelten in Frankreich als letzter Test für die kommenden Präsidentschaftswahlen. Ein befürchteter Rechtsruck wirft auch seine Schatten auf die Nachfolge von Emmanuel Macron.
Die Umfragen in Frankreich verheißen nichts Gutes für die Europawahlen am 9. Juni: Die antieuropäischen Parteien, allen voran der rechtsextreme Rassemblement National (RN) mit seit Wochen stabilen Werten über 30 Prozent, sind auf dem Vormarsch. Ganz rechtsaußen verortet wären da noch Eric Zemmours Reconquête mit Spitzenkandidatin Marion Maréchal, der in Ungnade gefallenen Nichte von Marine Le Pen, und Les Patriotes mit Florian Philippot. Und als wäre es noch nicht genug mit zusammen rund 40 Prozent im rechtsextremen Spektrum, bringen es die linksextremen Parteien mit La France insoumise, der Kommunistischen Partei PCF und der Lutte Ouvrière auf rund zehn Prozent der Wählerstimmen. Dazu gesellen sich eine Hand voll Parteien, Bündnisse oder Listen, die allesamt mit handfester Europapolitik nichts am Hut haben. Sie alle eint der Hass auf Europa, auf das Establishment in Brüssel und Paris, das Schuld an allen aktuellen Krisen hat, ob illegale Migration, Inflation, Staatsverschuldung oder Niedergang der Industrie und dem einhergehenden Verlust von Arbeitsplätzen.
Rechtsextremes Lager ist stark
Von den 79 zu wählenden Europa-Abgeordneten Frankreichs könnte künftig gut die Hälfte einen antieuropäischen Kurs verfolgen, auch wenn bei Wahlen zum Europaparlament in Frankreich die Fünfprozent-Hürde gilt. Die Chancen für europafeindliche Parteien stehen gut, dass sie beim französischen Wahlvolk ankommen. Denn viele Franzosen betrachten die Europawahlen seit jeher einfach nur als Protestwahl gegen die jeweils amtierende Regierung samt Präsidenten. Ein Armutszeugnis und gleichzeitig die „rot-braune“ Karte für den selbsterklärten Europäer Emmanuel Macron, dessen „Wunderwaffe“ sich inzwischen mehr und mehr als stumpfes Schwert erweist: Schließlich hatte Macron seinen Ex-Regierungssprecher und ehemaligen Bildungsminister Gabriel Attal Anfang des Jahres zum Premierminister ernannt. Er gilt als zupackend, kompromiss- und verhandlungsfähig mit Oppositionsparteien, eloquent und dynamisch und kam damit beim französischen Wahlvolk an. Ein geschickter Schachzug, da das Präsidentenlager um Macron in der französischen Nationalversammlung über keine absolute Mehrheit verfügt. Doch der erst 35-Jährige Attal ist mittlerweile im Polit-Alltag angekommen und feilt an unpopulären Sparmaßnahmen aufgrund der arg in Bedrängnis geratenen französischen Staatsfinanzen.
Europa als Sündenbock, das verfange vor allem bei Wählerschichten, die sich als Verlierer der Globalisierung und Deindustrialisierung sehen, erklärt der französische Politikwissenschaftler und Rechtsextremismusforscher Jean-Yves Camus. Neben den ewig Gestrigen zählen dazu insbesondere Geringverdiener, Arbeiter und Angestellte mit schmalem Lohn und mangelndem Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen. Sie haben nicht nur ihre Jobs, sondern auch ihre klassische politische „linke Heimat“ verloren, denn die einst so stolze sozialistische Partei PS spielt in den letzten Jahren bei Wahlen nur noch eine untergeordnete Rolle, dümpelt bei rund zehn Prozent der Wählerstimmen vor sich hin. Bei den Umfragen mit Spitzenkandidat Raphaël Glucksmann sieht es kaum besser aus. Die traditionellen Parteien fänden einfach keine adäquaten Antworten auf die Sorgen dieser Menschen, die die Faust in der Tasche haben und sich nach einem Neuanfang mit deutlichen Veränderungen sehnen, warnt Camus vor den Folgen für Europa und auch Frankreich.
Die seit geraumer Zeit eingeleitete Entdämonisierungskampagne von Marine Le Pen für den Rassemblement National trägt genau aus diesem Grund Früchte. Kein Wort mehr über einen „Frexit“, sondern ein „Europa der Nationen“ unter einer rechtsgerichteten französischen Führung soll entstehen. Der RN-Spitzenkandidat für Europa, Jordan Bardella, liegt bei den regelmäßig durchgeführten Umfragen zur Europawahl rund zehn bis 15 Prozentpunkte vor dem Präsidentenlager mit den Parteien Renaissance, MoDem und Horizons. Spitzenkandidatin ist die Europaabgeordnete Valérie Hayer. Und mit dem ehemaligen Frontex-Chef Fabrice Leggeri und der Schriftstellerin Malika Sorel hat der RN außerdem viel intellektuelle und EU-erfahrene Prominenz auf seiner Wahlliste für das Europaparlament. Für Marine Le Pen eine entscheidende Basis, denn die in den letzten beiden Stichwahlen um das Präsidentenamt unterlegene Kandidatin arbeitet kontinuierlich an ihrem Comeback 2027. Die Europawahlen im Juni 2024 sind die letzten nationalen Wahlen in Frankreich, für Le Pen ein Stimmungstest, eine Art Warmlaufen vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Frühjahr 2027.
Früher wäre die Wahl eines Rechtsradikalen in das höchste Amt Frankreichs wohl undenkbar gewesen, denn im zweiten Wahlgang entschied sich die Mehrheit der französischen Wählerinnen und Wähler stets für einen konservativen, sozialistischen oder liberalen Kandidaten. Aber das ändert sich. Marine Le Pen hat den Rassemblement National hoffähig gemacht, sozusagen als Wolf im Schafspelz. Die Mehrheit der Franzosen sieht laut Umfrage der führenden Meinungsforschungsinstitute keine allzu große Gefahr mehr für die Demokratie, wenn die Rechtsextremen an die Regierung kommen. Le Pen nutzt bei jeder öffentlichen Gelegenheit geschickt die Schwächen der etablierten Parteien. Die Sozialisten am Boden, die Bürgerlich-Konservativen um den Philosophen und Kandidaten für die Europawahlen, François-Xavier Bellamy, trotz lokaler Wahlerfolge zu unbedeutend, die Linke mit Manon Aubry und die Grünen mit der Vize-Präsidentin im EU-Parlament, Marie Toussaint, zerstritten. Dazu ein unbeliebter, ewig an allem sparender Präsident und jede Menge Krisen – diese Gemengelage bildet den Nährboden für rechtsextreme Wahlerfolge. War es früher vor allem das Thema Einwanderung, entdeckt der Rassemblement National heute viel mehr die Themen, die die Menschen umtreiben: die Sorge um die schwindende Kaufkraft, der Niedergang der Industrie, teure Energie, das Bildungssystem, der Verlust von Wohlstand. Die Angst vor dem sozialen Abstieg beeinflusse seit jeher das Wählerverhalten, erklären die Wirtschaftswissenschaftler Julia Cagé und Thomas Piketty in ihrem Buch „Eine Geschichte des politischen Konflikts“. Und das gelte vor allem für die bisher noch gut funktionierenden Mittelschichten in der französischen Gesellschaft. Das Hauptproblem für den Politikwissenschaftler Camus sei die Tatsache, dass die politischen Gegner des RN sich nicht inhaltlich mit deren Wahlprogramm auseinandersetzen und den RN einfach nur ablehnen. Denn das Programm habe sich bei den Kernthemen überhaupt nicht geändert. Aber wer lese heutzutage schon Wahlprogramme? Lediglich die Einwanderung zu stoppen, Windräder zu verbieten und abzubauen, den Arbeitskräftemangel übergehen und die EU zu verteufeln seien keine Lösungen für die Probleme dieser Zeit. „Die Regierenden müssen aufpassen, die zahlende Mitte nicht zu verlieren“, sagt Camus.
Charismatischer Hoffnungsträger
Ende 2023 musste die französische Regierung mangels Mehrheit in der Nationalversammlung bereits bittere Zugeständnisse bei der Migration an die Rechtsextremen machen, um das Gesetz zur Begrenzung der illegalen Einwanderung überhaupt durch das Parlament zu bekommen. Frankreich hat damit eines der schärfsten Einwanderungsgesetze in Europa – dank des RN. Es klingt paradox, aber eigentlich wollte Macron den RN eher bekämpfen als mit ihm gemeinsame Sache zu machen. In seiner jüngsten Sorbonne-Rede Ende April dieses Jahres zeichnete der französische Präsident ein alarmierendes Bild von Europa und betonte die dringende Notwendigkeit zu mehr Eigenständigkeit und Wehrhaftigkeit der EU. „Europa kann sterben und wir brauchen ein Europa der Macht mit einer glaubwürdigen europäischen Verteidigung.“
Wasser auf die Mühlen der Rechtsextremen sind auch die europaweiten Wahlerfolge in anderen Ländern. Bis auf Polen haben in Italien, Schweden, Finnland, Ungarn, den Niederlanden und der Slowakei rechte Parteien die Regierung übernommen, stellen zumindest die stärkste Fraktion in den jeweiligen nationalen Parlamenten oder sind, wie im Falle von Geert Wilders, noch in schwierigen Koalitionsverhandlungen. Das sollte ein Warnsignal für alle demokratischen Parteien in Europa sein.
Wenn die Sorgen der Bürgerinnen und Bürger nicht ernst genommen werden, droht ein Rechtsruck bei den kommenden Europawahlen. Schon jetzt wetteifern Marine Le Pen und die italienische Premierministerin Giorgia Meloni darum, wer wohl die „Königin“ unter den Rechtsextremen in Europa wird und den Vorsitz der rechtskonservativen EU-Parlamentsfraktion ECR übernehmen wird. Langwierige Verhandlungen in Budgetfragen, Blockaden, Stillstand, ein Umbau der EU: Auf Europa kämen jedenfalls schwere Zeiten zu.