Im Sommer ist Ontario ein Abenteuerspielplatz für Outdoor-Fans: Die unberührte Natur Kanadas lässt sich zu Fuß oder per Kanu erkunden. Wälder, Seen und die mächtigen Niagarafälle warten auf Entdecker.
Dunkelgrüner Nadelwald, die ersten bunten Blätter von Amerikanischer Buche und Schwarzkirsche, saphirblaue Seen, Felsriffe aus pinkfarbenem Granit, dazu ein mit weißen Schönwetterwölkchen betupfter Sommerhimmel: Hätte man Pinsel und Palette im Rucksack dabei (und, auch nicht unwichtig, könnte man malen), müsste diese Szenerie sofort verewigt werden. Ein Meisterstück hat die Natur im Killarney Provincial Park abgeliefert, ein Kanada en miniature und mit satten Farben wie aus dem Bilderbuch. Keine Minen graben sich hier in die Erde, Holzfäller dürfen den Wald nicht roden. Sieben Maler haben die Landschaft vor 100 Jahren in Gemälden verewigt – und so dafür gesorgt, dass die Regierung die 645 Quadratkilometer unter Schutz stellte.
Den direkten Kontakt zur Natur suchten die Künstler der „Group of Seven“, und mit schwärmerischen Bildern von der Georgian Bay, wo sich vor 200 Jahren nur ein paar Pelzhändler niedergelassen hatten, begründeten sie Kanadas erste moderne Kunstbewegung. Ein paar Hundert Kilometer sind es von Toronto hierher in den Killarney Provincial Park, nur ein Katzensprung also für dieses riesige Land, und trotzdem hat man die Landschaft fast für sich alleine. Ein paar Wanderer schnüren ihre Schuhe für einen Ausflug auf dem La Cloche Silhouette Loop Trail, benannt nach einem Gemälde von Franklin Carmichael. Naturfreunde schleppen schwere Ferngläser in den Wald, um nach Bären und Bibern, Elchen und Wölfen Ausschau halten. Kanufahrer stechen ihre Paddel ins Wasser, für eine Spritztour auf dem Lake George oder für eine mehrtägige Expedition.
„Glitzerndes Wasser“
Der Name ist Programm. In der Sprache der Irokesen bedeutet Ontario so viel wie „glitzerndes Wasser“ – 400.000 Seen, Flüsse und Gewässer soll es in Ontario geben. Dreimal so groß wie Deutschland ist die Provinz, und hat doch nur zwölf Millionen Einwohner. Selbst Ontarios Städte sind wasserreich. Vom Canadian Museum of History in der Stadt Gatineau (in der Nachbarprovinz Quebec) sieht man auf den Ottawa-Fluss. Quer durch die gleichnamige Bundeshauptstadt verläuft der Rideau-Kanal, die älteste ununterbrochen benutzte künstliche Wasserstraße Nordamerikas.
Ontarios Kapitale Toronto lebt in den Sommermonaten am Strand und muss keinen Sprung ins kalte Wasser fürchten: Die Metropole liegt auf demselben Breitengrad wie Südfrankreich. Davon profitiert auch Skipper Larry Graham: Er bringt Schnorchler und Taucher zu den Wracks des Fathom Five National Marine Park am Huronsee. „Knapp zwei Dutzend Handelsschiffe sind hier im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert gesunken“, sagt der Kapitän. Selbst wasserscheue Gäste ohne Taucherbrille kommen auf ihre Kosten: An Tagen ohne Wind ist der See so klar, dass man die Wracks sogar von der Brücke aus erkennt.
Kein stilles Wasser ist dagegen ein anderer Ort in Ontario. Von Niagara-on-the-Lake, einem historischen Städtchen mit Galerien, Antiquariaten und Restaurants, die den Eiswein aus der Region preisen, geht es den Niagara River flussaufwärts in Richtung Eriesee. Leider muss dann erst ein unansehnlicher Beton-Dschungel aus Casinos, Geisterbahnen, Wachsmuseen und Souvenirshops durchquert werden, bis man den Blick auf eines der größten Naturwunder Nordamerikas ungestört genießen kann. Fast 60 Meter stürzt der Fluss an den Niagarafällen in die Tiefe.
George Bailey ist hier geboren und aufgewachsen, und vermutlich wird ihn auch nichts und niemand mehr von hier wegbringen. Fast ein Vierteljahrhundert lang hat er als Pressesprecher für die Niagara Parks Commission gearbeitet. Nun ist der Hobbyhistoriker pensioniert und erforscht die Geschichte der Niagarafälle. Auch aus persönlichem Interesse: „Mein Vater war Steuermann auf dem Ausflugsschiff ‚Maid of the Mist‘. 1952 hat er deswegen Marilyn Monroe kennengelernt und durfte in ihrem Film eine Statistenrolle übernehmen.“ Am meisten interessiert George Bailey indes die Geschichte der Draufgänger, die seit mehr als 100 Jahren immer wieder versuchen, die Fälle zu bezwingen.
Gefährliche, illegale Stunts
Das Fass ins Rollen brachte Annie Edson Taylor: Die pensionierte Lehrerin begab sich im Jahr 1901 in die Fluten, stürzte in einer hölzernen Tonne die Fälle herab – und überlebte. „Ihre bis heute 15 Nachfolger versuchten es mit Mini-U-Booten, Kugeln aus Plastik und sogar per Jetski und Fallschirm“, erzählt George Bailey. Die Stunts sind brandgefährlich und seit den 60er-Jahren illegal: Viele haben ihren Wunsch, berühmt zu werden, mit dem Leben bezahlt. In einem kleinen Museum werden die Geschichten der „Daredevils“ erzählt, und George Bailey hat ihre geglückten und gescheiterten Versuche in einem Buch festgehalten. Das vorerst letzte große Abenteuer – dieses Mal mit Genehmigung – realisierte der Hochseilartist Nik Wallenda: Der Urenkel des deutschen Artisten Karl Wallenda spazierte auf einem Stahlseil 550 Meter über die Fälle von den USA nach Kanada.
Einen ähnlich schönen, aber deutlich weniger nervenaufreibenden Logenplatz für den Blick auf die Niagarafälle hat Ruedi Hafen, und der joviale Schweizer ist so nett, diesen gegen einen Obolus mit Besuchern aus aller Welt zu teilen. Hafen war in einem früheren Leben einmal Architekt, wollte dann aber nicht auf der Erde arbeiten, sondern lieber in die Luft gehen. Hafen ließ sich in Kanada zum Berufspiloten ausbilden, baute sich einen „Heli-Hafen“ in der Nähe der Fälle und führte in den nächsten Jahrzehnten die „Niagara Helicopters“ zum Erfolg. Nun haben seine Partner das Steuer des Unternehmens übernommen und Ruedi Hafen macht wieder nur noch das, was er sowieso am liebsten macht: fliegen.
„Heli-Hafen“ als Verkaufsschlager
Dutzende Touren pro Tag, Gäste aus aller Welt: Ruedi Hafen würde sich den Mund fusselig reden, müsste er jedes Mal in vielerlei Sprachen erklären, dass die Fälle am Ende der letzten Eiszeit entstanden sind, wie die einzelnen Katarakte heißen, und was man aus ein paar Hundert Fuß Höhe noch so alles sehen kann – Aussichtstürme, Ausflugsboote, Wasserkraftwerke. Der Kommentar zu seinem Flug kommt also vom Band. Doch mit etwas Glück sitzt man neben dem Piloten und hat so die Gelegenheit, mit Ruedi Hafen selbst zu sprechen. Und weil er heute anscheinend besonders guter Laune ist, wählt er eine spezielle Route zu den Fällen: Mit einem Abstecher in die Schlucht unterhalb der Niagara Falls, wo sich die Wassermassen an den Whirlpool Rapids zu gewaltigen Strudeln der Kategorie sechs vereinen. Im Kajak oder Raft würden selbst Profis hier schnell kentern, nur ein Jetboat kann die mächtigen Wellen bezwingen.
Dann geht es nach oben, für einen Blick auf die Fälle aus der Vogelperspektive. Wie mit dem Lineal gezogen stürzt das Wasser auf der amerikanischen Seite in die Tiefe, die kanadischen „Horseshoe Falls“ sehen wirklich aus wie ein Hufeisen. 3.000 Kubikmeter Wasser pro Sekunde wälzen sich in Spitzenzeiten den Fluss herunter, da lässt sich mit unterirdischen Kanälen einiges abzweigen für die Stromerzeugung. Das Naturwunder Niagara kümmert es allerdings nicht: Gischtwolken steigen auf und zaubern zusammen mit dem Sonnenlicht einen Regenbogen.