An Neurodermitis leiden knapp fünf Prozent der deutschen Bevölkerung. Zur Behandlung wird hierzulande sehr oft Cortison verordnet, obwohl bereits seit Jahren neuere Medikamente zugelassen sind. Der Berufsverband der Dermatologen kritisiert das.
Wenn die Haut trocken und gerötet ist und ein unangenehmer Juckreiz auftritt, spricht man von einer atopischen Dermatitis, auch Neurodermitis genannt. Dabei handelt es sich um die häufigste chronisch-entzündliche Hauterkrankung – doch die Symptome sind vielfältig. „Im Verlauf der Erkrankung können sich infolge von Juckreiz und Kratzeffekten Wunden und Eiterbläschen bilden“, sagt Dr. Ralph von Kiedrowski, Präsident des Berufsverbandes der Dermatologen (BVDD). Wenn die chronische Entzündung über einen längeren Zeitraum anhält, kommt es zu einer Lichenifikation, einer Verdickung und Vergröberung der Haut. Dadurch verändert sich das gesamte Hautbild des Neurodermitis-Betroffenen. „Selbst die Haut eines jungen Menschen kann letztlich eine Altershaut vortäuschen“, sagt der Dermatologe. Nicht von ungefähr vergleicht man die gröber gewordene, festere Haut mit der eines Elefanten. Nicht immer leiden die betroffenen Menschen unter einem Juckreiz, manche klagen auch über ein brennendes Gefühl auf der Haut bis hin zu Schmerzen. „Die Neurodermitis ist mit Komorbidität verhaftet, das heißt, die Betroffenen können zum Beispiel Allergien, asthmatische Beschwerden, Nesselsucht und Lippenschwellungen nach Kontakt mit Nahrungsmitteln entwickeln“, erläutert Dr. Ralph von Kiedrowski.
Jucken und Brennen bis hin zu Schmerz
Was aber passiert genau unter der Neurodermitis-Haut? Im Körper des Betroffenen wird eine Autoinflammation, also eine Entzündungsreaktion ohne einen Gegner, ausgelöst. „Unter Entzündung verstehen wir nicht immer klassischerweise Bakterien, Pilze oder Viren, sondern die Hochregulierung von im Körper befindlichen Botenstoffen, den sogenannten Interleukinen“, sagt Dr. Ralph von Kiedrowski. Durch eben diese Botenstoffe gelangen Entzündungszellen in die Haut, Juckreizfasern werden aktiviert und auch eine verstärkte Hautneubildung in Gang gesetzt. „Identifiziert werden konnten bislang vor allem die bei dieser Entzündung beteiligten Interleukine 4, 13, 22 und 31“, sagt der in einer Spezial- und Schwerpunktpraxis im Westerwald niedergelassene Dermatologe Dr. Ralph von Kiedrowski.
Das Risiko, an Neurodermitis zu erkranken, wird vor allem mit erblichen Faktoren erklärt, heißt es im zuletzt 2021 erschienenen Neurodermitisreport der Techniker Krankenkasse (TK). Bisher gebe es keine wissenschaftliche Begründung dafür, dass es möglich sei, der Hauterkrankung vorzubeugen. Wohl aber wisse man, dass eine Ernährung mit probiotischen Bakterien eine vorbeugende Wirkung entfalten könnte. Demnach sei das Risiko für Kinder, an Neurodermitis zu erkranken, womöglich geringer, wenn sie in den ersten sechs Monaten gestillt werden.
„Es ist sicherlich ein multifaktorielles Problem, aber es gibt eine Theorie, die besagt, dass unser Immunsystem durch übertriebene Hygiene, zum Beispiel häufiges Händewaschen und Desinfizieren, „unterfordert“ ist. Zwar werden dadurch die natürlichen Feinde unseres Immunsystems verringert, doch zugleich wird die Autoinflammation befördert“, so Dr. Ralph von Kiedrowski. Folgt man der Theorie weiter, könnte das menschliche Immunsystem in ländlichen Regionen stärker gefordert sein – und damit gar nicht erst in die Lage kommen, einen Kampf gegen sich selbst zu führen. Mittlerweile seien mehr als 200 solcher autoinflammatorischen Erkrankungen bekannt, darunter Hashimoto-Thyreoiditis beziehungsweise Schilddrüsenunterfunktion und Typ-I-Diabetes.

Von Jahr zu Jahr steigt laut einer aktuellen Analyse des Barmer Instituts für Gesundheitssystemforschung die Anzahl der Menschen, bei denen Neurodermitis diagnostiziert wird. Vor allem bei jungen Menschen ist eine deutliche Zunahme zu verzeichnen. Interessant dabei ist: In einigen Bundesländern wie in Mecklenburg-Vorpommern ist die Betroffenenzahl sogar drastisch angestiegen. „Möglicherweise hängt dies auch mit der allgemeinen Beanspruchung des Immunsystems durch Umwelteinflüsse in den ostdeutschen Bundesländern zusammen und einer jetzt eingetretenen Veränderung durch zum Beispiel übertriebene Hygiene“, vermutet Dr. Ralph von Kiedrowski.
Im Jahr 2021 litten im Durchschnitt rund fünf Prozent der Frauen und vier Prozent der Männer an der unheilbaren Hautkrankheit. Kinder und Jugendliche sind laut dem Barmer Institut für Gesundheitssystemforschung noch häufiger betroffen. Im gleichen Jahr wurden rund zwölf Prozent der Null- bis Neunjährigen ein atopisches Ekzem diagnostiziert, in der Altersgruppe der Zehn- bis 19-Jährigen waren es rund sieben Prozent.
Leichte Zunahme während Pandemie
Laut dem Barmer Institut für Gesundheitssystemforschung müssen die Ursachen für den Neurodermitis-Anstieg genauer untersucht werden. Gerade in den östlichen Bundesländern seien die jungen Altersgruppen besonders häufig betroffen, teilte Pressesprecher Daniel Freudenreich mit. Doch ob in diesen Ländern in den vergangenen Jahren eine höhere Geburtenrate zu verzeichnen war, habe das Barmer Institut bisher nicht geprüft. Wenn man das endogene atopische Ekzem, wozu auch die Neurodermitis gehört, im Jahresverlauf näher betrachtet, sei während der Corona-Pandemie eine leichte Zunahme der Erkrankungen erkennbar. Doch auch hier müssten die jeweiligen Altersgruppen besonders fokussiert werden, da die Erkrankung nicht über jedes Lebensalter gleich häufig verteilt sei, erklärt der Institutssprecher. „Als mögliche Ursachen kommen hier viele Faktoren in Betracht, die aber von uns in diesen Analysen nicht näher untersucht wurden“, sagt Daniel Freudenreich.
Wie sieht die Versorgungslage für die Betroffenen aus? Laut dem Neurodermitisreport von 2021 ist die Arzneimittelversorgung hierzulande durch ein Nord-Süd- und Ost-West-Gefälle geprägt. Vor allem in den west- und süddeutschen Bundesländern, dem Saarland, Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg wurden die meisten Glukokortikosteroide zur innerlichen und äußerlichen Behandlung der Neurodermitis verordnet. Diese Steroidhormone wirken antientzündlich. Vergleichsweise selten wurden – trotz der Leitlinienempfehlung – die topischen Immunmodulatoren Pimecrolimus und Tacrolimus eingesetzt. „Die Frage ist, wie in den einzelnen Regionen die innovativen Behandlungsmethoden beim Patienten angekommen sind. Hierbei spielen auch gesundheitspolitische Entscheidungen eine Rolle“, erklärt der BVDD-Präsident, der am Neurodermitisreport der TK mitgearbeitet hat. Lange Zeit galten Steroide allerdings als die einzige Behandlungsmöglichkeit. Seit 2017 gibt es neue Ansätze in der Behandlung dieser chronischen Hauterkrankung. „Nachdem die neueren Medikamente auf dem Markt sind, müssen sie auch in der täglichen Patientenversorgung umgesetzt werden“, schildert Dr. Ralph von Kiedrowski. Der Berufsverband der Dermatologen kritisiert in diesem Zusammenhang die aus seiner Sicht zweifelhafte Versorgungspolitik in einigen Regionen Deutschlands. So würden Kostenträger und Prüfstellen der Kassenärztliche Vereinigungen, „auf Vertragsärzte Druck ausüben, diese modernen, aber teureren Medikamente besser nicht zu verordnen, ansonsten drohen Prüfanträge und mögliche Regressforderungen“. Daraufhin würden die unter Druck gesetzten Kolleginnen und Kollegen statt der neueren Medikamente das gängige Cortison oder gar nichts verschreiben. Für den Dermatologen Ralph von Kiedrowski wird so die „Grundkompetenz der Ärzteschaft auf finanziellem Sektor“ angezweifelt.
Perspektivisch sollte die Neurodermitis-Versorgung stärker auf individuelle und modernere Behandlungsansätze ausgerichtet werden. So sollten besser sogenannte Biologika, also biologisch hergestellte Antikörper, als Langzeittherapeutikum eingesetzt werden, und Janus-Kinasen-Inhibitoren, eine Art Entzündungsblocker. „Diese Medikamente sind imstande, das aktivierte Immunsystem des Neurodermitikers zu normalisieren. Dadurch verschwindet die Neurodermitis“, fasst Dr. Ralph von Kiedrowski zusammen.
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) erhob unlängst sieben Forderungen, wie das zukünftige Gesundheitssystem umgestaltet werden soll. Neben der Arzneimittelbudgetierung sollte der KBV zufolge auch die Regressandrohung wegfallen und eine bessere Patientensteuerung im Sinne der chronisch und schwer kranken Menschen vorgenommen werden. „Chronisch kranke Menschen im deutschen Gesundheitssystem haben es schwer“, sagt der Dermatologe abschließend.