Deutschlands größte Marathonveranstaltung feiert Jubiläum. Zum 50. Mal findet der Lauf durch Berlin statt. Auf Topläufer und 57.000 Freizeitsportler aus aller Welt warten 42.195 Meter Lust und Qual.
In diesem Jahr gab es für John Kunkeler nichts zu tun. Der Niederländer ist Streckenvermesser der AIMS, der Association of International Marathons and Distance Races, und muss in dieser Funktion den Rundkurs in jedem Jahr auf die vorgeschriebenen 42.195 Meter trimmen. „Meist führen Baustellen zu einer signifikanten Veränderung der Strecke“, erzählt der 77-Jährige, der als aktiver Läufer selbst über 100 Marathonläufe bestritten hat. „Mal wird eine Wasserleitung verlegt, ein anderes Mal steht ein Kran im Weg, zuletzt wurde an einer neuen Straßenbahn-Trasse gebaut“. Jetzt jedoch fand sich auf dem Kurs durch sechs der zwölf Stadtbezirke Berlins nicht die kleinste Einschränkung und so war Kunkeler zum ersten Mal seit vielen Jahren „arbeitslos“.
Seit 2003 wird auf der aktuellen Strecke mit dem Start auf der Straße des 17. Juni und dem Ziel ein Stück hinter dem Brandenburger Tor gelaufen. Neun Weltrekorde sind auf dem von John Kunkeler mitkonzipierten und vermessenen Runway bisher aufgestellt worden. Der letzte mit 2:11:53 im vergangenen Jahr von Tigist Assefa aus Äthiopien. Sie fehlt diesmal im Starterfeld. Ebenso wie der Kenianer Eliud Kipchoge, der das Berliner Rennen seit 2015 fünf Mal gewinnen konnte, zwei Mal mit Weltrekord. Zuletzt gelang ihm das 2022 mit einer Zeit von 2:01:09. Der Grund der Abwesenheit war ihr Start bei den Olympischen Spielen in Paris. Assefa gewann in der französischen Hauptstadt die Silbermedaille. Kipchoge stieg vorzeitig aus dem Rennen aus.
Relativ flache Strecke bietet viel Potenzial
„Es ist für uns in den Olympiajahren immer eine besondere Herausforderung ein starkes Läuferfeld zusammenzustellen“, sagt Renndirektor Mark Milde. Der Termin des Berliner Marathons am letzten Septemberwochenende liegt für viele Läufer zu nah am sportlichen Jahreshöhepunkt, um zwei kräftezehrende Läufe zu bestreiten. Gerade sieben Wochen sind seit dem Pariser Marathon vergangen. „Das ist aber auch eine Chance für uns“, fährt der 51-jährige fort, „wir wollen eine neue Generation von Läufern aufbauen“, die in den nächsten Jahren zu Dominatoren der Laufszene werden könnten.“ Ohne einen großen Favoriten ist diesmal ein spannendes, offenes Rennen zu erwarten, in dem der erste mit 30.000 Euro Siegprämie belohnt wird. Der 22-jährige Äthiopier Tadese Takele rückt dabei in den Blickpunkt. Der ehemalige 3.000-Meter-Hindernisspezialist wurde im vergangenen Jahr in Berlin Dritter und lief mit 2:03:24 eine persönliche Bestzeit. Damit ist er im angekündigten Starterfeld der Zeitschnellste. Dahinter folgt mit 2:04:22 der Kenianer Ronald Korir, Vierter des 2023er Marathons. „Wir sind in diesem Jahr etwas mehr in die Breite gegangen“, erklärt Milde sein Konzept, „wir haben so viele Läufer mit Zeiten von unter 2:06 wie noch nie und hoffen, dass einer von ihnen schon jetzt mit einer sehr guten Zeit hervorstechen wird“. Zehn Läufer umfasst diese Gruppe, in der wohl Kibiwott Kandie der Interessanteste ist. Der ehemalige Halbmarathon-Weltrekordler kommt mit einer Bestzeit von 2:04:48, gelaufen im Dezember des vergangenen Jahres in Valencia, nach Berlin. Wenn er sein Potenzial ausschöpft, könnte der Kenianer, nicht nur nach Einschätzung des seit 20 Jahren amtierenden Renndirektors, bald in die Fußstapfen seines erfolgreichen Landsmannes Eliud Kipchoge treten, also in Perspektive durchaus auch mal Weltrekord laufen. Am besten natürlich in Berlin.
Die Voraussetzungen dafür sind hier nach wie vor sehr gut, meint John Kunkeler, der schon Marathonkurse in Dubai, Prag, Amsterdam, Tokio und vielen anderen Städten exakt ausgemessen hat. „Die Strecke ist relativ flach. Zwischen dem höchsten und dem niedrigsten Punkt liegen nur 27 Meter“. Dazu hat der Hauptstadtkurs noch andere Vorteile. „Es geht die ersten 2,5 Kilometer nur gerade aus. Das ist gut um den Rhythmus zu finden. Wir haben auf der gesamten Distanz auch nur eine 90-Grad-Kurve, bei der man abbremsen muss, wodurch die Schrittlänge kürzer wird. Viele solcher Kurven würden sich am Ende negativ auf die Laufzeit auswirken.“ 20 Jahre – vom ersten offiziell anerkannten Weltrekord des Kenianers Paul Tergat 2003 bis zum vergangenen Oktober – konnte sich Berlin im prestigeträchtigen Männer-Marathon mit dem Prädikat Weltrekordkurs schmücken. Dann setzte der Anfang dieses Jahres tödlich verunglückte Kenianer Kelvin Kiptun in Chicago eine neue Bestmarke. „Natürlich schmücken Weltrekorde unsere traditionelle Veranstaltung, aber sie sind nicht das vordringliche Ziel, sagt Mark Milde. „Es gäbe vielleicht noch Potenzial, die Strecke schneller zu machen. Aber das wollen wir vorerst nicht heben.“ Für viele Läufer sind nationale Rekorde oder persönliche Bestzeiten auf dieser schnellen Piste ein genauso erstrebenswertes Ziel. Für die in Äthiopien geborene deutsche Läuferin Melat Kejeta zum Beispiel. Gleich bei ihrem Berlin-Debüt 2019 lief sie mit 2:23:57 eine persönliche Bestzeit. Nach ihrer Babypause meldete sie sich im Januar beim Dubai Marathon mit einer um 2:10 Minuten besseren Zeit zurück und katapultierte sich damit auf Platz zwei der ewigen deutschen Rangliste. Vielleicht gelingt ihr jetzt bei der Rückkehr nach Berlin erneut eine Steigerung. Dort trifft sie die Siegerin aus Dubai Tigist Ketema wieder. Die Äthiopierin lief bei ihrem Debüt über die 42,195 Kilometer mit 2:16:07 eine Fabelzeit. Mit ihr gehen mehrere exzellente Läuferinnen ihres Landes an den Start. Mit Genzebe Dibaba und Yebrgual Melese weisen zwei Bestzeiten unter 2:20 Stunden auf. Alles andere als der fünfte Sieg einer Läuferin aus Äthiopien nacheinander wäre schon eine Überraschung.
„Es gab damals jede Menge Probleme“
Auch beim Lauf der Männer wird 2024 der Sieger sicherlich wieder aus Afrika kommen. Man muss in den Annalen schon weit zurückblättern, um mit Ronaldo da Costa einen Sieger aus einem anderen Land zu finden. 1998 triumphierte der Brasilianer ganz überraschend und stellte dabei eine neue Weltbestzeit auf. Damals gab es noch keine offiziellen Weltrekorde. Noch zwei Jahre länger liegt der letzte Erfolg eines Europäers zurück. Der Spanier Abel Antón lief 1996 als Erster ins Ziel. In der Frühzeit des Berlin Marathons gab es auch deutsche Sieger. Ingo Sensburg stand drei Mal auf der obersten Stufe des Siegertreppchens. Zum letzten Mal allerdings schon 1980. Zu dieser Zeit war das von Horst Milde sechs Jahre zuvor als Berliner Volksmarathon ins Leben gerufene Rennen noch eine nationale Laufveranstaltung im Grunewald mit maximal 400 Startern. Bereits bei der vierten Auflage 1977 gab es allerdings die erste dicke Schlagzeile, als Christa Vahlensieck eine Weltbestzeit lief, die ein Jahr später beim New York Marathon verbessert wurde. Erst 1981 mit dem Umzug in die Stadtmitte und dem Start vor dem Reichstag erlangte der Lauf mehr Aufmerksamkeit. „Es gab damals jede Menge Probleme“, erinnert sich der heute 85-jährige Laufpionier. „Die Polizei sagte zu mir, Herr Milde, die Straßen gehören den Autofahrern. Was Sie da machen wollen, können Sie vergessen.“ Aber Horst Milde und die allgemeine Entwicklung der Laufbewegung waren nicht mehr aufzuhalten. Die Teilnehmerzahlen gingen stetig nach oben. Auch weil die Organisatoren bereits 1981 Rollstuhlfahrern die Teilnahme ermöglichten. Der Berlin Marathon stand schon für Inklusion, als das Wort noch nicht in aller Munde war. Seit 2004 sind auch die Handbiker mit auf der Strecke. Einen Quantensprung gab es nach dem Fall der Mauer. Beim Vereinigungsmarathon im September 1990 starteten 25.000 Läufer am Charlottenburger Tor und liefen nach knapp 3,5 Kilometern durch das wieder geöffnete Brandenburger Tor in die Straße Unter den Linden. Das Ziel lag weiterhin am Kurfürstendamm. Erst mit der 2003 eingeführten Laufstrecke wurde endlich ein größerer Bogen in den Ostteil der Stadt geschlagen.
Beim Jubiläums-Marathon wollen 57.000 Läuferinnen starten, obwohl das Antrittsgeld wieder erhöht wurde und mittlerweile 205 Euro beträgt. Die Organisatoren begründen das mit den allgemein gestiegenen Kosten. Schon vor einigen Jahren mussten allein für Straßensperrungen und Sicherungsmaßnahmen 1,5 Millionen Euro aufgewendet werden. „In den letzten zwei, drei Jahren ist die Summe noch mal exorbitant gestiegen“, sagt Geschäftsführer Jürgen Lock, ohne konkrete Zahlen zu nennen.
Die größte Gruppe ausländischer Teilnehmer kommt wie in den letzten Jahren aus den USA. 9.000 Amerikaner schnüren diesmal ihre Laufschuhe. Großes Interesse werden auch vier andere Läufer auf sich ziehen: Walter Bartel, Günter Hallas, Martin Teague und Uwe Meseberg. Sie waren schon beim ersten Marathon vor 50 Jahren dabei. Insgesamt wurden 25 Läufer von 1974 ausfindig gemacht. Darunter der Sieger Günter Hallas. Der mittlerweile 82-jährige ist trotz eines künstlichen Kniegelenkes sportlich immer noch sehr aktiv. Für den damaligen Start lief er im Training nur Strecken zwischen 20 und 30 Kilometern. Den „Rest“ würde er schon irgendwie schaffen, erzählt er heute mit einem Schmunzeln. Martin Teague reist für das Jubiläum aus Chicago an. Der US-Amerikaner war damals als Soldat in Westberlin stationiert. Für sein Laufremake erhielt er von den Organisatoren seine 74er-Startnummer 6. Er und alle anderen Läufer werden beim Rennen auch wieder von viel live gespielter Musik begleitet. In den 80er-Jahren begann es am „Wilden Eber“, dem höchsten Punkt der Strecke, mit Cheerleadern und einer Samba-Trommlergruppe. Mittlerweile sorgen rund 70 Bands entlang der Strecke für gute Stimmung bei Läufern und Zuschauern. Organisiert wird diese besondere Art der Unterstützung übrigens vom Betreiber eines Berliner Jazzclubs – von John Kunkeler.