Jede Minute heiraten irgendwo auf der Welt 23 Mädchen, die noch nicht volljährig sind. Ein Besuch bei jungen Frauen in Nepal, wo es besonders viele Früh-Ehen gibt.
Die Provinz Madhesh im Tiefland, mit dem Nepal an Indien grenzt: Männer reiten auf Wasserbüffeln, Frauen in leuchtenden Saris gehen barfuß über Staubpisten, oft tragen sie ein Kind auf der Hüfte.
Als einzige Frau weit und breit trägt Salita Kumari Sada keinen Wickelrock, sondern Sweat-Shirt und Cargo-Hose: ein Statement, eine Provokation für die lokale Gesellschaft, wie ihr ganzes Leben.
„Auch wenn du dich wie ein Mann anziehst, unter den Hosen wirst du immer eine Frau sein“, giften sie in der Nachbarschaft. Salita weiß, wie sie sich das Maul zerreißen. Über Sex mutmaßen, wenn Kollegen des Mädchenhilfswerks Janaki Women Awareness Society (JWAS) sie im Auto abholen. „Eine Frau mit 27, die nicht verheiratet ist – das ist nicht zu begreifen für die Leute hier“, sagt Salita.
Manche geben ein falsches Alter an
Früher habe sie manchmal tagelang nichts essen können, wenn sie die sexuellen Gerüchte über sich hörte. „Aber das ist vorbei“, sagt sie. „Ich sage mir: Die Leute reden eh. Und es gibt inzwischen Mädchen, die mich als Vorbild sehen.“ Sie habe viele Teenager dazu bewegt, mit der Schule weiterzumachen – statt zu heiraten.
Laut einer Statistik von Unicef gehen in Nepal ein Drittel der Mädchen vor ihrem 18. Geburtstag eine Ehe ein. Acht Prozent der Mädchen sind sogar jünger als 15 Jahre.
Eigentlich sind Kinderheiraten in Nepal schon seit 60 Jahren verboten. Im Jahr 2017 wurde das Gesetz noch verschärft. Seither dürfen junge Leute offiziell erst ab dem 20. Geburtstag heiraten. Aber die Paragrafen sind das Papier nicht wert, auf dem sie geschrieben stehen, wenn Polizei und Behörden, von althergebrachten Vorstellungen durchdrungen, sie nicht durchsetzen. Viele Teenager heiraten informell oder mit einer religiösen Zeremonie, die in den Augen der lokalen Gemeinschaft die gleiche Bedeutung hat wie eine Heiratsurkunde. Manche Paare lassen die Verbindung erst auf dem Standesamt legalisieren, wenn beide Partner 20 sind. Manche geben auch ein falsches Alter an, um eine Heirat eintragen zu lassen. Weil die Tradition stark und die Sitte derart verbreitet ist, schauen die lokalen Behörden geflissentlich weg.
Das gilt nicht nur für Nepal, sondern weltweit: Jährlich gehen zwölf Millionen Mädchen vor ihrem 18. Geburtstag formelle oder informelle Ehen ein. Um die schiere Zahl zu begreifen, muss man sie umrechnen: Pro Minute sind das 23 Mädchen. Laut den „Sustainable Development Goals“ der UNO sollen diese Kinder- oder Frühheiraten bis zum Jahr 2030 eliminiert sein. Ein kaum zu erreichendes Ziel, wenn man bedenkt, dass heute noch weltweit jede fünfte Frau bei ihrer Heirat keine 18 ist und die bestehenden Gesetze ignoriert werden.
„Unberührt sein ist wichtig“
„Die Schule schützt vor frühen Ehen“, sagt Salita. Solange Mädchen zum Unterricht gehen, könnten sie und ihre Eltern dem gesellschaftlichen Druck standhalten und Heiratsangebote ablehnen. Aber viele Mädchen in Nepal brechen nach der Primarschule ab, weil die weiterführende Schule einen Fußmarsch von einer oder zwei Stunden entfernt liegt. „Diesen Mädchen stellen wir Fahrräder zur Verfügung“, erklärt Salita. Die Aktivistin coacht in ihrer Heimatgemeinde Khadak auch jüngere Kolleginnen bei JWAS, wie sie Schulabbrecherinnen aus armen Familien unterrichten können: „Wir versuchen den Musahar-Mädchen Life Skills zu vermitteln, wie sie trotz der schlechten Ausgangslage ihr Leben meistern können.“
Salita ist selbst Musahar, eine Gruppe ganz unten in der Hierarchie der traditionellen Kastengesellschaft. Das Wort bedeutet übersetzt „Ratten-Esser“. Früher lebten viele Musahar davon, die Nager zu fangen. Heute gibt es offiziell kein Kastenwesen mehr. „Aber viele Menschen denken immer noch, wir seien weniger wert. Wir werden ausgegrenzt“, sagt Salita. Die meisten Musahar sind arm und ohne Bildung. Viele Eltern sehen die Schule für Mädchen als unwichtig an: „Sie heiraten sowieso, wichtig ist nur, dass sie unberührt heiraten, so die Überzeugung.“
Nichts fürchten Eltern in der traditionellen Kultur Nepals mehr, als dass die Teenager-Tochter einen Schwarm hat. Genauer fürchten sie den vorehelichen Sex der Töchter, schon Gerüchte darüber reichen aus, dass die Gesellschaft die Ehre einer Familie als beschmutzt ansieht. Das ist für die Betroffenen deshalb so angsterregend, weil sie kaum etwas anderes besitzen als diese angebliche Ehre.
Deshalb sollte auch Salita früh heiraten. Das erste Angebot kam kurz nach ihrem 16. Geburtstag. Ihr Vater wollte darauf eingehen. Doch dann forderte die Familie des Bräutigams eine große Mitgift. „Ihr Status war besser als unserer. Sie hatten ein Haus aus Stein in der Nähe des Marktplatzes. Wir haben nur ein Lehmhaus an der Fernstraße“, erklärt Salita. „Also verlangten sie 700.000 Rupien (rund 4.800 Euro), ein Moped und 100 Gramm Goldschmuck.“
Der Vater war verzweifelt. Er kam betrunken nach Hause. Wie sollte er seine anderen Töchter verheiraten, wenn schon die Heirat von Salita sein Vermögen auffraß? Schließlich entschied er sich, für ihre Heirat sein Reisfeld zu verkaufen. Ihre kleine Schwester berichtete Salita davon. „Erst dadurch erfuhr ich von den Heiratsplänen für mich.“
„Wir wollen Sozialismus“
Sie habe nicht daran gedacht, sich der Heirat zu widersetzen. „Aber ich dachte: Es ist ungerecht, dass mein Vater sein Land für mich verkaufen muss.“ Sie fand die Telefonnummer der Familie des Bräutigams heraus. Seine Mutter war dran, als Salita anrief. Sie sagte: „Wenn mein Vater euch so viel geben soll, dann komme ich nicht zu euch. Dann muss euer Sohn zu mir kommen, damit er sich um meine Eltern kümmern kann.“ Ein unerhörter Vorschlag: „Gibt es die Möglichkeit, dass der Bräutigam ins Haus der Braut zieht?“, fragte die Mutter des Jungen rhetorisch und gab die Antwort selbst: „Nein, die gibt es nicht.“
Salitas Vater war wütend, als er von dem Anruf erfuhr. „Wenn ihr nur einen Bruchteil der Mitgift für meine Bildung ausgebt, werde ich viel erreichen!“, sagte Salita. „Ich verspreche, nichts Dummes zu tun, euch keine Schande zu machen!“ Langsam wurde der Vater weich. Er war zwölf Jahre in Saudi-Arabien gewesen. Nur deshalb konnte er das Reisfeld kaufen. „Im Ausland sah er, wie wichtig Bildung ist“, sagt Salita. „Ich durfte immer zur Schule gehen. Vielleicht hatte ich auch deshalb die Stärke, mich zu widersetzen.“
Aus der Heirat wurde nichts, weitere Anträge folgten, aber jedes Mal lehnte Salita ab. Nach der 12. Klasse begann sie als Mitarbeiterin für das Mädchen-Hilfswerk JWAS zu arbeiten. Jetzt macht sie nebenher einen Bachelor in Pädagogik und engagiert sich in einer Partei. „Wir wollen den Sozialismus für Nepal“, sagt Salita. „Wir setzen uns für Arme, Tagelöhner und marginalisierte Gemeinschaften ein. Ich hoffe, dass ich irgendwann Parlamentsabgeordnete werde.“ Unter den Abgeordneten in Kathmandu gab es noch nie einen oder eine Musahar.
Anjali, einem Mädchen aus dem Nachbarhaus, konnte Salita nicht helfen. Vor einem Jahr verliebte sich die 15-Jährige. Heimlich schrieb sie auf ihrem Handy mit Binod, einem 18-jährigen Jungen. Als das herauskam, war die Aufregung groß. Zwar sagte Anjali ihren Eltern: „Es ist nichts passiert.“ Aber alle waren sich einig: Die Tochter müsse heiraten.
Salita eilte zu den Nachbarn. Sie sprach mit Anjalis Mutter Sushila über die Konsequenzen von frühen Ehen: „Die Mädchen bekommen bald Kinder, sie machen keine Ausbildung, die Armut wird weitervererbt.“ Doch die Mutter reagierte schroff: „Das geht dich nichts an!“
Danach sprachen sie drei Monate lang nicht mehr miteinander. Anjali heiratete Binod, kurz darauf ging der junge Ehmann nach Kathmandu, um dort als Bauhelfer Geld zu verdienen für seine kleine Familie: Vor seiner Abreise wurde Anjali noch schwanger. Sie ist im dritten Monat.
„Wir hatten keine andere Wahl“
Salita und Anjalis Mutter Sushila haben sich ausgesöhnt, sie besuchen sich wieder. Sushila ist Mitte dreißig, bald ist sie Großmutter. „Anjali wollte nicht mehr zur Schule“, erklärt Sushila. „Sie brach sie nach der 6. Klasse ab.“ Anjali habe gesagt, sie wolle Binod haben. „Sie wären möglicherweise durchgebrannt! Das war unsere große Sorge!“ Es ist weit verbreitet: Teenager, denen eine Beziehung verwehrt wird, nehmen den Bus und verschwinden in die nächste Stadt, schaffen so Tatsachen. Dadurch wird die Familie geächtet, muss eine Buße an die Gemeinschaft zahlen, das Geld wird für ein Festmahl ausgegeben. Anjali wäre verstoßen worden und hätte noch nicht einmal mehr zu Besuch kommen dürfen. „Wir hatten keine andere Wahl als die Heirat“, sagt Sushila. „Aber ich ahne: Ihr Leben wird so hart wie mein eigenes. Ich bin voller Kummer.“
Anjali hat eine kleine Schwester: Aarti ist zehn Jahre alt, sie geht jeden Tag zur Schule, nicht wie Anjali, die oft schwänzte. Aarti ist eine der Besten in der Klasse. Was sie werden will? „Polizistin. Oder vielleicht Ingenieurin. Oder Ärztin“, sagt Aarti. „Dann darfst du aber nicht früh heiraten!“, sagt Salita. „Auf keinen Fall heirate ich früh!“, antwortet Aarti.