Die Digitalisierung bietet Chancen, birgt aber auch das Risiko einer gesellschaftlichen Kluft – gerade für Ältere. Dagmar Hirche und ihr Verein „Wege aus der Einsamkeit“ wollen Brücken bauen.
Frau Hirche, immer mehr Dienstleistungen gibt es nur noch digital. Allerdings sind mehr als drei Millionen Deutsche nicht im Internet, so das Statistische Bundesamt. Und laut dem Verband Bitkom nutzen fast 40 Prozent der über 65-Jährigen kein Smartphone. Wird ein großer Teil der Menschen von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen?
Das sehe ich schon so, ja. Je älter die Menschen, desto mehr von ihnen sind bei der digitalen Teilhabe abgehängt. Ab Mitte 70 gibt es einen richtigen Knick. Aber wir sollten nicht nur übers Alter reden. Es gibt auch viele andere Menschen, die durchs Raster fallen. Beispielsweise die, die sich Computer, Smartphone oder Wlan gar nicht leisten können. Es wird ja gern gesagt: Naja, Wlan kann sich doch jeder leisten. Nein, eben nicht! Nicht jemand, der am Monatsende gucken muss, ob er noch 1,50 Euro für Lebensmittel übrig hat. Wenn wir über digitale Teilhabe sprechen, müssen wir auch über Armut reden. Und über Bildung.
Inwiefern Bildung?
Krankenkassen, Ämter oder die Bahn werden immer digitaler – aber wer bietet irgendeine Schulung an, in der man beigebracht bekommt, wie all das funktioniert? Das wäre in meinen Augen Pflicht. Wenn das Finanzamt sagt, dass ich meine Steuererklärung ab jetzt nur noch digital einreichen kann, dann muss es die Bürger darin bitteschön auch schulen! Da muss ein Umdenken stattfinden. Wer digital nicht fit ist und das nicht versteht, der muss sich nicht schämen. Der muss im Grunde überall ein Angebot bekommen, wo ihm gezeigt wird, wie das geht.
Mit Ihrem Verein tragen Sie dazu bei, diese Bildungslücke ein Stückchen zu schließen. Wie das?
Angefangen hat es damit, dass ich sechs 80-Jährige zu Kaffee und Kuchen eingeladen hab. Die hatten keine Ahnung, was auf sie zukommt. Dann hab ich denen einfach mal ein Smartphone in die Hand gedrückt und sie gefragt, was sie alles darüber wissen wollen. Diese ungezwungenen Gesprächsrunden, diese Plauderatmosphäre, haben wir bis heute beibehalten. Das ist wichtig. Denn alles, was Schulcharakter hat, schreckt ab. Und abschreckend ist an der Digitalisierung genug. Das beginnt schon bei den Begrifflichkeiten. Allein diese ganzen Anglizismen, „Provider“ und so. Ganz viele, die nicht digital unterwegs sind, sagen: Wir verstehen schon die Worte nicht, die verwendet werden – und dann sollen wir auch noch lernen, wie das funktioniert!
Wie vielen Menschen konnten Sie schon beibringen, wie das funktioniert?
Seit den Anfängen 2014 haben mehr als 32.000 Menschen an unseren Schulungen teilgenommen – auch wenn die bei uns eben nicht „Schulungen“ heißen. Im Moment machen wir das zu fünfzehnt, inklusive mir. Alle ehrenamtlich. Persönliche Gesprächsrunden bieten wir in Hamburg und Berlin an. Und seit Corona findet auch ganz viel online statt.

Was sind typische Anliegen, bei denen Sie helfen können?
Das geht bei ganz grundlegenden Dingen los. Wie kann ich online einen Arzttermin buchen? Wie funktioniert eine Videokonferenz? Wie benutze ich WhatsApp? Bei dieser Gelegenheit versuchen wir auch immer, die Menschen für die Gefahren durch digitalen Betrug zu sensibilisieren. Wir sagen ihnen: Klickt nicht einfach in jeder x-beliebigen E-Mail auf die Links! Oder: Seid vorsichtig, wenn ihr eine Whatsapp-Nachricht von einer unbekannten Nummer erhaltet! Wenn es dann noch eine Nachricht ist, in der es heißt „Hallo Mama, ich hab meine Handynummer geändert!“, sagen wir: Auf keinen Fall direkt auf diese Nachricht antworten! Erst einmal mit dem Sohn oder der Tochter sprechen, ob das auch wirklich stimmt – und zwar nicht per Anruf bei dieser neuen, unbekannten Nummer!
Wenn den Leuten schon solch grundlegende Dinge noch nicht geläufig sind, werden Sie wahrscheinlich nicht dazu kommen, kompliziertere Dinge wie Datenschutz anzusprechen, oder?
Ich bin der Meinung, dass die Leute auch darin geschult werden müssen. Wenn es diese Datenschutzproblematik gibt, dann müssen wir die Leute auch darüber aufklären. Aber andererseits sind viele der gängigen Apps und Programme von amerikanischen oder chinesischen Firmen, und die entsprechen eben beim Datenschutz nicht der EU-Norm. Das muss man auch sehen. Als das mit Corona losging, war Zoom für mich das Videokonferenz-Programm, das am besten verständlich war. Ich wusste um die Datenschutzprobleme. Aber ich hab mir gesagt: Was ist jetzt wichtiger? Den Leuten zu helfen, sich während der Lockdowns zumindest online sehen zu können? Oder es nicht zu machen, weil der Datenschutz dagegen spricht? Solange es keine deutschen oder europäischen Alternativen gibt, müssen wir leider mit diesen ungeliebten Produkten arbeiten. Aber ein paar Datenschutz-Grundlagen versuchen wir unseren Teilnehmern schon mitzugeben.
Zum Beispiel?
Auch hier: ganz Grundlegendes. Ich sag den Leuten immer: Legt euch für bestimmte Fälle eine zweite E-Mail-Adresse zu, die nicht zu viel über euch verrät! Wenn ich sehe, dass jemand für alles im Internet ausschließlich ein- und dieselbe Adresse nutzt, aus der Vor- und Nachname und womöglich auch noch das Geburtsjahr hervorgehen, brech ich zusammen. Viele sagen mir auch: Mit Facebook will ich nichts zu tun haben, die sammeln so viele Daten, denen vertrau ich nicht! Aber auf ihrem Smartphone nutzen sie Whatsapp. Denen sag ich: Dann könnt ihr eure Daten auch gleich an Facebook geben – die gehören zum selben Konzern. Solche Dinge erfahren viele Menschen erst in unseren Gesprächsrunden.
Sie selbst sind ja großer Digitalisierungsfan. Haben Sie Verständnis für Menschen, die aus Datenschutzgründen fordern, für so grundlegende Dinge wie Arztbesuche, Bahnfahrten oder die Post auch nicht-digitale Alternativen anzubieten?
Dafür hab ich Verständnis, ganz klar. Und es wird eben auch oft nicht an die Menschen gedacht, die durch die Digitalisierung unfreiwillig ausgeschlossen werden: Ältere, Ärmere – oder auch Kranke und Behinderte, die viele unpersönliche, digitale Dienstleistungen gar nicht in Anspruch nehmen können.