Jürgen Grässlin, laut „Spiegel“ hartnäckigster Pazifist und Rüstungsgegner der Bundesrepublik Deutschland, recherchiert seit Jahrzehnten in Kriegs- und Krisengebieten auf den Spuren deutscher Waffen und deren Opfern. Im Interview spricht der 66-Jährige darüber, was ziviler Widerstand bewirken und wie die Wende zum Guten angestoßen werden kann.
Herr Grässlin, 1988 gelang es Ihnen, dass Daimler-Chrysler seine Landminenproduktion einstellte. 2013 hat der Konzern sogar seine ganze Rüstungssparte verkauft. Welche Fähigkeit braucht man als Friedensaktivist vor allem, wenn man einen mächtigen Konzern dazu zwingen möchte, aus der Waffenproduktion auszusteigen?
Erst einmal die Bereitschaft, eigene Vorbehalte zu überwinden. Diese bestanden meinerseits darin, meinen Beschluss über Bord zu werfen, niemals im Leben eine Aktie eines Rüstungskonzerns zu kaufen. Anfang der 1990er-Jahre habe ich schließlich doch eine Daimler-Aktie erworben und bin intensiv bei den kritischen Aktionären eingestiegen. Mit nur einer einzigen Aktie hat man die gleichen Rechte wie mit 10.000 Aktien. So kann man Gegenanträge stellen zur Nichtentlastung von Vorstand und Aufsichtsrat. Diese kann man persönlich einbringen bei den Hauptversammlungen. Das hat dazu geführt, dass ich seit den 1990er-Jahren als einer der Sprecher der kritischen Aktionäre aufgetreten bin.
Was haben Sie dann getan?
Wir haben immens darauf gedrängt, dass Daimler sich von der Rüstungssparte trennt, die unter den damaligen Vorsitzenden Edzard Reuter und Werner Breitschwerdt in den vormaligen Autokonzern eingegliedert wurde. Daimler avancierte damals zum größten deutschen Rüstungsriesen. Durch breit angelegte öffentliche Kampagnen ist es uns gelungen, den Druck der Öffentlichkeit gegen den Daimler-Vorstand mit dem Vorsitzenden Jürgen Schrempp so stark aufzubauen, dass das Unternehmen um seinen guten Ruf als Automobilproduzent fürchten musste. Unser Motto: Wir kaufen keinen Mercedes bei einem Konzern, der Landminen herstellt. Daimler ist letztendlich nicht nur aus der Landminen-, sondern auch aus der Rüstungsproduktion ausgestiegen. Was für ein Erfolg!
Der Bundessicherungsrat im Kanzleramt befindet über besonders brisante Rüstungsexporte. Wie bewerten Sie Olaf Scholz’ Rolle als oberster Rüstungsexport-Genehmiger?
Die Person, die als Vorsitzende des Bundessicherungsrats in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland die allermeisten Waffenexporte in Krisen- und Kriegsgebiete genehmigt hat, ist Angela Merkel. Jeweils zusammen mit acht Ministern in geheimer Sitzung im Bundeskanzleramt. Olaf Scholz war bereits in der Großen Koalition Merkels Stellvertreter und hat unter anderem Waffentransfers nach Saudi-Arabien, Katar und in die Vereinigten Arabischen Emirate mit bewilligt. Hemmungslos genehmigt er bis heute Waffenexporte an Staaten, die Menschenrechte verletzten oder gar Krieg führen. So gesehen leistet der Bundessicherheitsrat Beihilfe zum Morden auf den Schlachtfeldern der Welt, wie ich im Buch an konkreten Beispielen belege.
Wie haben sich die Opferzahlen von Rüstungsexporten in den letzten Jahren entwickelt?
Eine verifizierbare Antwort auf diese Frage bekommen Sie von keinem Experten auf der Welt. Ich habe wiederholt auf den Spuren der G3-Gewehre in Krisen- und Kriegsgebieten recherchiert. Wie ich anhand konkreter Schicksale im Buch aufzeige, wüten die Empfänger deutscher Kleinwaffen bis in die tiefsten Winkel Afrikas und Asiens auf bestialische Art und Weise. Die Zahl der Opfer von deutschen Waffen kann man immer nur an einzelnen Massakern oder an offiziellen Zahlen der Militärs festmachen. Eine Bilanz des Militärs der Türkei etwa besagt, dass es im Bürgerkrieg gegen die Kurden mehr als 30.000 Opfer gegeben hat. Diese Zahl kann unter- oder auch übertrieben sein.
Was haben Waffen aus Deutschland dort angerichtet?
Ich habe vor Ort bei Undercover-Gesprächen mit türkischen Soldaten und kurdischen Betroffenen festgestellt, dass die Streitkräfte aus Ankara im Kurdengebiet mehr als 3.000 Dörfer plattgemacht und Abertausende Menschen getötet haben – zu 90 Prozent mit Heckler & Koch-Waffen. Insgesamt schätze ich, dass mehr als zwei Millionen Menschen mit H&K-Waffen aus Oberndorf oder den Lizenzstätten in aller Welt erschossen wurden. Während des Kalten Krieges nahmen die Rüstungsexporte im Großwaffenbereich – nachweislich durch Sipri belegt – bis 2001 ab. Seit den Terroranschlägen von 9/11 steigen sie wieder, mit dem Ukrainekrieg sogar exorbitant. Im Moment finden weltweit 25 Kriege statt, die von den Industrienationen in West und Ost mit Waffenexporten extrem befeuert werden.
Wie belastend waren die Begegnungen mit Opfern beziehungsweise deren Hinterbliebenen?
Darüber habe ich erstmals 2003 das Buch „Versteck dich, wenn sie schießen“ geschrieben. Im „Einschüchtern zwecklos“-Buch berichte ich, wie ich an manchen Tagen drei oder vier Opfer für je zwei Stunden gesprochen haben. Ich protokolliere immer alles sehr genau. Zu diesen oft bitterarmen Menschen haben mich Flüchtlingsorganisationen oder Gewerkschaftskollegen und -kolleginnen geführt. Vielfach sitzt man dann einer zitternden Witwe des ermordeten Mannes gegenüber. Eine gesamte Generation von Kurdinnen und Kurden in der Türkei ist aufgrund des skrupellosen Einsatzes deutscher Kleinwaffen bis heute traumatisiert, selbst wenn das Abschlachten vor mehr zehn oder 20 Jahren stattgefunden hat.
Wie erleben Sie die Traumatisierten?
Fragt man genau nach, kann es passieren, dass die Ehefrau, der Bruder oder die Mutter des Erschossenen einen Flashback erlebt und plötzlich anfängt zu beschreiben, wie dessen Hirn an die Wand spritzte. Dann übergibt sich diese Person oder macht sich in die Hose. Ich habe die Erzählungen manchmal selbst kaum ausgehalten und wollte wiederholt das Interview abbrechen. Aber die Betroffenen wollten nicht, dass ich gehe. Ich musste auch aufpassen, dass die Stimmung nicht kippt und die Leute in ihrer Verzweiflung in mir den Gewehrexporteur sehen. In dem Moment wurde mir hautnah bewusst, wie eng wir Deutschen in das Leid und die Not auf den Schlachtfeldern der Welt involviert sind.
Im Übrigen bin ich jetzt nach zwei Jahrzehnten wieder mit dem Lehrer- und Gewerkschaftskollegen Hayrettin Altun in Diyarbakir in Kontakt gekommen. Ich zitiere ihn im Buch: Heute ist alles noch schlimmer als früher. Aber da die Türkei Nato-Partner ist, kümmert sich die westliche Welt nicht um das Schicksal der Kurden.
Sorgt Hochrüstung für mehr Sicherheit in der momentanen Situation?
Vielleicht empfindet das manch einer so, ich aber keinesfalls. Ich recherchiere seit 40 Jahren zu den Fragen: „Was bewirkt Hochrüstung? Was bewirken Rüstungsexporte?“ Dabei habe ich eine Negativerfahrung nach der anderen gemacht. In meinem neuen Buch zitiere ich die äußerst bedeutende Studie von Erica Chenoweth und Maria Stephan „Why Civil Resistance Works“. Die beiden US-amerikanischen Forscherinnen konnten in der Analyse von mehr als 300 kriegerischen Auseinandersetzungen belegen, dass gewaltfreier Widerstand wesentlich erfolgreicher war und ist als militärische Interventionen. Diese führt in der Regel nur zu verbrannter Erde. Die einzigen Profiteure sind dann die Rüstungskonzerne, die beiderseits der Front in unendlichem Ausmaß Waffen für die Schlachtfelder liefern. Die Opfer sind wie immer Zivilistinnen und Zivilisten, aber auch Soldatinnen und Soldaten. Chenoweth war von diesem Ergebnis selbst überrascht: Mit zivilem Widerstand in Form von gewaltfreien Blockaden bis zu hin zu Totalstreiks konnten die Besatzer vielfach aus dem Land vertrieben werden, ohne dass es zu Verwüstungen mit massenhaft Toten kam.
Wie genau könnte die Eskalationsspirale in der Ukraine mit den Mitteln der Sozialen Verteidigung beendet werden?
Worüber leider in den westlichen Medien kaum berichtet wird, sind die Hunderten von gewaltfreien Widerstandsformen. Der Bund für Soziale Verteidigung (www.soziale-verteidigung.de) etwa publiziert einen Teil davon auf seiner Website. Ich will mir nicht anmaßen, Menschen in der Ukraine zu sagen, wie sie sich zu verhalten haben. Aber das Ergebnis der militärischen Eskalationsspirale sehen wir jetzt.
Da Präsident Selenskyj, seine und die westlichen Regierungen einseitig auf militärischen Widerstand gesetzt haben, hat dies zu einem todbringenden Stellungskrieg geführt. Bereits jetzt verzeichnet dieser Krieg geschätzt 100.000 Tote auf russischer und 140.000 Tote auf ukrainischer Seite. Wir brauchen schnellstmöglich einen Waffenstillstand und ernst zu nehmende Friedensverhandlungen mit dem Ziel der Neutralität der Ukraine, garantiert und gesichert von den Vereinten Nationen und den führenden Staaten in West und Ost.
Die aktuelle Lage in Gaza und Israel ist sehr düster mit Blick auf den Krieg. Die gesamte Welt befürchtet einen Konflikt noch größeren Ausmaßes im Nahen Osten. Wie beurteilen Sie die aktuelle Entwicklung?
Zuallererst müssten die Regierung Netanjahu und mit ihr die israelische Armeeführung erkennen, dass ein allesvernichtender Rachefeldzug im Gazastreifen die völlig falsche Antwort auf die rechtswidrigen und barbarischen Angriffe der Terrororganisation Hamas auf Zivilistinnen und Zivilisten in Israel ist. Wer weiteren Hass sät, wird neuerlichen Hass ernten.
Auch Waffenlieferungen, seitens des Irans und Russlands an die Hamas und verbündete Terrororganisationen sowie seitens des Westens – massiv auch von Deutschland – an Israel und die Gegner Israels (allen voran Katar und Saudi-Arabien), sind kontraproduktiv. Mit ihnen wird Öl ins Feuer der Kriege im Namen und Mittleren Osten gegossen. Längst übersteigt die Zahl der in der Folge des Großangriffs der Hamas vom 7. Oktober 2023 unschuldig getöteten Palästinenserinnen und Palästinenser die der israelischen Opfer um ein Vielfaches. Rund die Hälfte der Getöteten und Verstümmelten sind Kinder und Jugendliche. Beiderseits wird auf Jahrzehnte hinaus neuer Hass gesät.
Eine zweite Erkenntnis ist, dass eine verblendete Hamas-Ideologie, allen voran die Zielvorgabe der Auslöschung des Staates Israel, nicht mit militärischen Mitteln weggebombt werden kann. Allenfalls gelingt es der israelischen Armee, die kriegerischen Strukturen der Hamas erst einmal zu zerschlagen. Der Preis dafür aber ist extrem hoch: Weit mehr als 10.000 unschuldige Palästinenser haben bisher ihr Leben verloren. Doch für jeden getöteten Hamas-Kämpfer werden zwei oder mehr nachfolgen. Wer der Hydra einen Kopf abschlägt, bewirkt das Nachwachsen vieler weiterer. Die Entwicklung kann sich unversehens zu einem Flächenbrand in Nahost ausweiten.
Was kann getan werden, um den Krieg zu stoppen?
Wer Frieden schaffen will, muss der Friedenslogik statt der Kriegslogik folgen. Dazu zählen die Rückkehr zur Diplomatie, umfassende Waffenstillstandsabkommen, Verhandlungen über die schnellstmögliche Freilassung der israelischen Geiseln in Hamas-Haft sowie zahlreiche weitere vertrauensbildende Maßnahmen unter Beteiligung aller Konfliktparteien.
Wie könnten Verhandlungen über eine dauerhafte Friedenslösung aussehen, bei der die tief wurzelnden Ursachen des Konfliktes angepackt und eine für beide Seiten faire und ernst gemeinte Lösung angegangen wird?
Momentan sehe ich leider nicht die Chance, dass Israelis und Palästinenser in friedlicher Koexistenz in einem Land zusammenleben – was ich für ausgesprochen wünschenswert hielte. Aus meiner Sicht muss deshalb die volle Konzentration aller Friedenswilligen der Umsetzung der Zweistaatenlösung gelten. Israelis wie Palästinenser müssen sich gegenseitig das Existenzrecht vertraglich zusichern und mäßigend auf die jeweiligen radikalen Kräfte im eigenen Land und in den Nachbarländern einwirken.
Reicht dies aus, um Frieden langfristig zu sichern – oder bedarf es mehr?
Den Vereinten Nationen, aber auch den verbündeten Staaten der Israelis und der Palästinenser, kommt bei der Friedenssicherung eine entscheidende Rolle zu. Denn die direkten Kriegsparteien scheinen zurzeit weder willens noch in der Lage, der Eskalationsspirale von Gewalt und Gegengewalt zu entsagen.
Eine ernst gemeinte Lösung setzt den Willen zum Frieden voraus. Diese Erkenntnis schließt auch die skrupellos agierenden israelischen Siedler im Westjordanland mit ein. Sie müssen die rechtswidrig besetzten Gebiete der Palästinenser verlassen, Israel muss den Wiederaufbau der annektierten und zerstörten Dörfer auf der Westbank finanzieren.
Auch müssen ganz Gaza und die beschossenen Gebiete Israels auch mithilfe der internationalen Staatengemeinschaft wieder aufgebaut werden. Vor allem das völlig verarmte palästinensische Volk ist dazu allein nicht in der Lage. Dauerhafter Frieden kann nur mit den Mitteln des Friedens geschaffen und gesichert werden.