Das „Pasternak“ ist nicht nur eine gastronomische Institution in Berlin. Das Lokal in Prenzlauer Berg zählt auch zu den immer rarer werdenden Orten, an denen man die Köstlichkeiten russischer und jüdischer Küche entdecken kann.
Die einen lesen ihn, die anderen haben schon einmal von ihm gehört. Und wieder andere erinnern sich noch an den Film „Doktor Schiwago“ aus den frühen 1960ern, in dem Omar Sharif die Hauptrolle spielte. Die Rede ist von Doktor Schiwagos Erfinder: Boris Leodnidowitsch Pasternak. Der 1890 in Moskau als Sohn jüdischer Eltern geborene Schriftsteller ist der Namensgeber eines Restaurants, das zu den Berliner Institutionen zählt. Die Spreemetropole ohne das „Pasternak“ ist eigentlich nicht denkbar. Als ich vor mehr als einem Vierteljahrhundert nach Berlin zog, gab es das Lokal bereits.
Gelegen ist das Lokal nahe des Kollwitzplatzes direkt an jener Straßenecke, wo die Knaackstraße und die Rykestraße zusammenlaufen. Die Räumlichkeiten sind in einem Haus aus der Gründerzeit untergebracht. Allein schon die Außenterrasse an dem unter Denkmalschutz stehenden Wasserturm ist idyllisch gelegen und verströmt den Flair einer Städtereise im Sommer. Man hört zwitschernde Vögel und klackerndes Geschirr. Die Kellnerinnen und Keller bringen im Minutentakt Tabletts mit allerlei Speisen an die Tische. Die Gäste sitzen derweil zwischen Blumenkübeln in beigefarbenen Korbstühlen und genießen die servierten Köstlichkeiten. Oder sie plaudern munter mit ihrem Gegenüber. Immer wieder hört man Gesprächsfetzen auf Deutsch und auf Russisch.
Erfrischend und malzig
Im Inneren des Restaurants zeigt sich das Baujahr des Gebäudes: Die hohen Decken sind mit goldfarben angepinseltem Stuck verziert. Linkerhand lädt der mit dunkelbraunem Holzmobiliar versehene Nebenraum seine Besucher auf eine Zeitreise ein. Ich zumindest fühle mich unvermittelt versetzt in ein kleines, heimeliges Wohnzimmer von vor über 100 Jahren. Hier könnte man ungestört ein Buch lesen oder über den Lauf der Welt sinnieren. Oder ein vertrauliches Gespräch unter vier Augen führen. Auf alle Fälle ist der Raum eine Welt für sich. Es fehlt nur noch eine Babuschka, die in einer blumenbestickten Schürze hereinkommt und den Gästen ein Tässchen dampfenden Tee aus dem Samowar einschenkt.
Den gibt es selbstverständlich auch. Schließlich ist das „Pasternak“ ein russisches Restaurant. Ich entdecke den Samowar dann in einem anderen, größeren Raum. Die russische Teemaschine thront hoch oben auf einem Regal hinter der holzgetäfelten Theke. „Der Samowar ist eher Dekoration“, sagt der Inhaber und Geschäftsführer, Ilja Kaplan. Seine Mission indes war und ist es noch, den Räumlichkeiten das Ambiente eines Literatursalons aus den 1920er-Jahren zu geben. Das ist dem Gastronomie-Unternehmer gelungen. Von der Decke hängt ein großer Kristallleuchter, auf einer Fensterbank steht eine alte Schreibmaschine. Die Wände sind gesäumt mit Schwarz-Weiß-Fotos der Intelligenzija vom Land an der Wolga. Dazu zählen Porträts namhafter Schriftsteller wie etwa Michail Bulgakow und Maxim Gorki. Auch Isadora Duncan, die berühmte Tänzerin und Ehefrau des russischen Schriftstellers Sergei Jessenin, findet auf einer der Wände Platz. Und selbstverständlich ist auch Boris Pasternak in einem größeren Porträt verewigt.
Was die Getränke betrifft, findet sich auf der Karte Hochprozentiges wie auch Alkoholfreies. Dazu zählen unter anderem Weine aus Georgien und von Ilja Kaplan höchstpersönlich ausgewählte Spirituosen, wie ein russischer und ein ukrainischer Wodka. Der Wodka sollte allerdings ganz authentisch mit einer Portion Salzgurken genossen werden, sagt unser Gastgeber.
Wer mag, kann seinen Durst auch mit dem eigentlichen Nationalgetränk der Russen stillen: Kwas. Das leicht sprudelnde, durch Fermentation entstandene Getränk ist sehr erfrischend und schmeckt malzig. Beliebt und bekannt ist es vor allem in osteuropäischen Ländern, insbesondere in Russland, erklärt mir Ilja Kaplan. Während ich mich mit dem Gastronomen unterhalte, lasse ich mir ein Getränk bringen, welches ich bislang noch nicht kannte. „Mors ist in Russland im Sommer sehr beliebt“, erklärt mir unser Gastgeber. Dann nehme ich einen großen Schluck von dem leuchtend roten, äußerst aromatischen, hausgemachten Moosbeerensaft.
Russische Küche hat es schwer
Während der ukrainische Küchenchef Maksym Koliesnikov unsere Speisen zubereitet, möchte ich noch wissen, was es mit der jüdischen Küche konkret auf sich hat. Schließlich wirbt das Restaurant mit jüdisch-russischer Küche. „Die israelische Küche ist mediterran, während die jüdische Küche von den osteuropäischen Juden der ehemaligen Sowjetstaaten wie etwa aus der Ukraine und aus Moldawien geprägt ist“, erklärt mir unser Gastgeber. Nichtsdestotrotz gibt es auch im Hause „Pasternak“ hier und da ein paar kulinarische Abstecher nach Israel, etwa einige beliebte levantinische Speisen wie Shakschuka oder Pargit. Der Fokus aber liegt auf Spezialitäten aus dem ehemaligen Zarenreich. Soviel russische Seele muss schon sein, wenn das Restaurant seinem berühmten Namensgeber gerecht werden will.
Ilja Kaplan ist seit 1990 in Deutschland, und seit dem Jahr 2002 hat er das „Pasternak“ unter seinen gastronomischen Fittichen. In Moskau hat er Gastronomie studiert und dort schon mehrere kleinere Lokale gehabt, wie er im Gespräch erzählt. Während er sich zu Perestroika-Zeiten zunächst noch Hoffnungen auf wirkliche Veränderungen in seinem Heimatland gemacht hatte, wurde er zunehmend enttäuscht. „Wenn man nur oberflächlich hingeschaut hat, sah alles zunächst besser aus. Doch wenn man tiefer gegraben hat, merkte man, dass die Korruption noch immer da war“, erinnert er sich. Schließlich entschied sich der Gastronom 1990, nach Deutschland auszuwandern.
In Berlin angekommen, eröffnete er mehrere Restaurants und Cafés, die zu Institutionen des neuen Berlins nach dem Mauerfall werden sollten: Dazu zählten zum Beispiel das „Gorki Park“ und das „Café Datscha“, von dem es schließlich drei Dependancen gab. Ilja Kaplans legendäre Lokale hielten sich lange und überlebten auch die Corona-Zeit. Doch mit dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine fing es an zu kriseln. Die Wut über den Krieg hinterließ Spuren. Gäste blieben aus, die Umsätze gingen zurück und Ilja Kaplans Mitarbeiter erhielten Drohanrufe. Der Gastronomie-Unternehmer gab einige seiner Lokale auf. Bei anderen änderte er das gastronomische Konzept und bietet dort jetzt georgische anstatt russischer Küche. „Russische Küche hat keine Zukunft“, sagt der Wahl-Berliner. Aus Sicht eines Gastronoms sei er darüber enttäuscht.
Wie gut, dass das „Pasternak“ noch seine russische Handschrift beibehalten hat. Als Starter nehmen wir natürlich Blini. Die mit Frischkäse, Spinat, Avocado und Lachs eingerollten Crêpe-Röllchen sind mit einem orangerot leuchtenden Kaviarkrönchen verziert. Sie schmecken vorzüglich und trotz der durchaus kalorienreichen Zutaten leicht. Vielleicht liegt das auch an der fluffigen Textur des Pfannkuchens, der dem Ganzen den Charakter einer frühsommerlichen Leichtigkeit verleiht.
Für große Augen bei dem anwesenden Fotografen und mir sorgt eine in Pink und Weiß gehaltene Kreation. Sie sieht aus wie eine Eistorte, und die innere Naschkatze in mir freut sich schon auf die vermeintliche Süßigkeit. Doch weit gefehlt: Die mäjestätisch daherkommende Schönheit ist eher salzig als süß. Der „Hering unter dem Pelzmantel“ ist ein geschichteter Salat, der den mitspeisenden Fotografen und mich sofort ins Schwärmen bringt. Die cremige Köstlichkeit besteht aus Matjesfilet, Kartoffeln, Möhren, Roter Bete und Lachskaviar-Ei. Nur der Begriff Vorspeise oder gar Salat will für meine Begriffe nicht recht passen. Das üppige und sättigende Fischgericht wäre auch als Hauptspeise absolut passabel.
„Hering unter dem Pelzmantel“
Nach dem Entrée nimmt der begleitende Fotograf begeistert mit einem jüdischen Hauptgang vorlieb: Mommes Kalbsroulade mit Aprikosen, Babyspinat und einem Gemüseküchlein an einer Kirsch-Thymian-Soße. „Ich finde diesen Kontrast aus süß und säuerlich sehr spannend“, sagt er sichtlich zufrieden. Für Zufriedenheit sorgt auch das Pils „Moskwa“, das von einer oberfränkischen Brauerei exklusiv für das „Pasternak“ produziert wird. Ich selbst probiere das Kiewer Kotelett, das sich als ein vorzügliches Gericht aus panierter Hähnchenbrust mit Drillbutter-Füllung an Kartoffelpüree herausstellt.
Wir würden so gerne noch weitere Leckereien kosten. So etwa vegetarische Wareniki. Oder das Blumenkohl-Steak „Kapusta“ an getrüffeltem, veganem Mandelfrischkäse. Aber wir brauchen noch etwa Platz im Magen für eine Pavlova zum Dessert. Gemeinsam vernaschen wir die hinreißende, üppige Kreation aus Baiser, Vanilleeis und frischen Himbeeren. Das natürlich nur zu Ehren der Namensgeberin des Desserts Anna Pavlova. Die Russin war eine berühmte Ballerina. Von einem Dessert, das einer so grazilen Frau gewidmet ist, dürfte eigentlich niemand Hüftspeck ansetzen. Oder etwa doch?!