Unzählige Hortensien machen Faial zu einer der schönsten Inseln der Azoren. Eine Mondlandschaft und ein Leuchtturm mit leeren Augen zeugen hingegen von der Naturgewalt, die hier schlummert.
Victor ist clever. Sein Englisch ist ziemlich holprig, auf Deutsch versteht er nur ein paar Fetzen, und die Sprache des großen Nachbarn Spanien negiert der 40-Jährige von der Azoreninsel Faial aus Prinzip. Der Portugiese besitzt ein Mobiltelefon. Dank Übersetzer erfahren seine Fahrgäste alles, was man über das 173 Quadratkilometer große Eiland wissen muss – und noch ein wenig mehr. 15.000 Menschen leben auf Faial, in dessen Mitte der mehr als 1.000 Meter hohe Vulkangipfel Cabeço do Fogo thront. 30.000 Kühe grasen jahrein, jahraus auf den unverschämt grünen Weiden, die von unzähligen Kilometern mühevoll aufgeschichteter Mauern aus schwarzem Vulkangestein gesäumt werden.
Wer mindestens drei Jahreszeiten an einem Tag erleben möchte, ist auf dem Archipel mitten im Atlantik genau richtig, wo Lissabon nicht viel weiter entfernt ist als St. John’s im kanadischen Neufundland. „Das Wetter wechselt alle zehn Minuten", verkündet die metallisch klingende Stimme aus Victors Handy, während der Regen wie aus Kübeln auf die Windschutzscheibe klatscht. Sehr zur Freude der stets durstigen, mannshohen Hortensienbüsche, denen Faial seinen Beinamen Ilha Azul verdankt: blaue Insel.
Der Flame Josse van Huerter war der Erste, der sich Mitte des 15. Jahrhunderts auf dem Azoreneiland niederließ, auf dem es keine wilden Tiere gab, dafür aber reichlich fruchtbare Erde und die Fülle des Meeres, die die Insulaner Notzeiten überstehen ließ. Da auf der Insel reiche Zinn- und Silbervorkommen vermutet wurden, machten sich weitere Landsleute aus dem Not leidenden Flandern auf den Weg. Faial wurde zur „Insel des Glücks" – allerdings durchwühlte man die Insel umsonst. Es gab keine Bodenschätze. Einer, den es zu diesen Zeiten ebenfalls nach Faial verschlug, war der Nürnberger Martin Behaim, dem die Nachwelt den ersten Globus verdankt.
Später prägten Orangenbarone das Gesicht der Insel, die mit dem Export der Südfrüchte ein Vermögen machten und die Inselhauptstadt Horta mit prächtigen Herrenhäusern und Kirchen bestückten. Walfänger gingen vor der Küste ihrem blutigen Geschäft nach.
Anfang des 20. Jahrhunderts wurde Horta zum Dreh- und Angelpunkt der telegrafischen Kommunikation zwischen Europa und Amerika. Die Deutsch-Atlantische-Telegraphengesellschaft ließ ein Kabel von Emden nach Faial verlegen – damals ein technisches Wunderwerk, das bis zu 500 Worte in der Minute übertrug. Eingehende Telegramme aus Deutschland wurden auf der Insel an die Amerikaner weitergegeben, die sie über ihr Kabel nach New York schickten.
Die Bilderbuchsiedlung Colônia Alemã, wo die deutschen Angestellten mit ausländischen Kollegen im sogenannten Jünglingsheim feierten, zeugt von jenen Jahren. Heute sind es vor allem Wanderer, Wal-Fans und Vulkanforscher, die nach Faial kommen. Portugals höchsten Berg, den 2.351 Meter hohen Pico auf der gleichnamigen Nachbarinsel, hat man hier stets im Blick.
Wale und Delfine ziehen ihre Bahnen
Sportliche Naturen steigen zur Caldeira hinauf, einem Vulkankrater im Zentrum der Insel, dessen steil abfallende Wände unter einem grünen Kleid aus Zedern, Wachholderbüschen und Farnen verschwinden. Schwindelfreie stapfen über den schmalen Pfad am gigantischen Kessel entlang, auf dessen Grund einst ein tiefblauer See schlummerte. Von dort genießen sie den Blick in die Ferne, wo bei gutem Wetter die Silhouetten von São Jorge und Graciosa auftauchen, zwei weitere der insgesamt neun Inseln des Archipels.
Vor der Küste ziehen Blau- und Pottwale sowie Delfine ihre Bahnen. Harpunen verfolgen sie nicht mehr, nur die Kameras der Touristen. Der kommerzielle Walfang wurde in den 1970er-Jahren eingestellt, die alte Wal-Fabrik an der sichelförmigen Bucht von Porto Pim in ein Informationszentrum umgewandelt. Heute werden die kreisrunden Wachtürme, die der Jagd dienten, von den Anbietern von Whale-Watching-Touren genutzt. Die zahlende Klientel will die sanften Riesen schließlich zu Gesicht bekommen.
Auf den ersten Blick wirkt Faial wie ein Stück vom Paradies. In den lang gezogenen Dörfern, die sich an der Küstenstraße aufreihen und deren Kirchen aus weißem Kalkstein und schwarzem Basalt hoffnungslos überdimensioniert wirken, scheint die Zeit stillzustehen. Ein paar Dutzend Heilig-Geist-Kapellen mit buntem Anstrich zeugen von der Religiosität der Insulaner.
Azaleen, Lilien, Winden und die allgegenwärtigen Hortensien mit ihren medizinballgroßen Blütenballen tauchen die Insel von Mai bis Dezember in einen Farbenrausch. An der Küste brechen sich die Wellen des Atlantiks an bizarr geformten Gebilden, spülen angenehm temperiertes Nass in die natürlichen Pools, wo im Juli und August die halbe Insel gefahrlos plantschen kann. Doch die Idylle täuscht.
Kleinere und größere Erdbeben reißen die Bewohner Faials regelmäßig aus dem Schlaf. Die Gefahr, von Vulkanausbrüchen heimgesucht zu werden, ist ständiger Begleiter der Menschen. Die jüngste Katastrophe liegt gerade einmal gut 50 Jahre zurück. Sie bescherte der Insel einen Flächengewinn von rund zwei Quadratkilometern, dezimierte die Bevölkerungszahl aber um die Hälfte: Tausende in den schwer betroffenen Dörfern im Westen der Insel emigrierten in die USA, nachdem sie Haus und Hof verloren hatten. Ein Jahr lang, von 1957 bis 1958, hatte der Vulkan Capelinhos Feuer und Rauch gespuckt, den fruchtbaren Landstrich unter 30 Millionen Tonnen Asche und Lava begraben. Aus dem Atlantik stieg ein neues Inselchen empor, das sich der Ozean längst wiedergeholt hat. Ein weiteres verschmolz schließlich mit dem Festland. Die Mondlandschaft an der Westspitze Faials rund um den alten Leuchtturm ist die Attraktion der Azoreninsel schlechthin. Das Leuchtfeuer ist das steinerne Fanal jener Katastrophe. Seiner Funktion beraubt steht es nun zwischen Aschehügeln und Geröllhalden, das Untergeschoss halb im Sand versunken. Wie leere Augen starren die Fenster aufs Meer hinaus.
Ein schmaler Weg schraubt sich nach oben, vorbei an mickrigen Grasbüscheln, die sich im Kampf gegen den stetig blasenden Wind verzweifelt an den Fels klammern. Jeden Moment fürchtet man, über den steil abfallenden Weg geweht und von der Brandung verschluckt zu werden. Doch die unwirklich schöne Aussicht auf die in rot, braun und schwarz schimmernde Wüste eines gefühlt fremden Planeten entschädigt für die Mühen des Aufstiegs.
Zwischenstopp für Wasserflugzeuge
Was für ein Unterschied ist diese Landschaft zum pittoresken Horta. In den 1930er-Jahren setzten hier die Wasserflugzeuge von Pan-Am auf – die Flugikone Charles Lindbergh höchstpersönlich hatte dem Inselhafen die höheren Weihen als Zwischenstopp bei Atlantiküberquerungen erteilt. Heute dümpeln hier Segelyachten aus aller Welt, die auf dem Weg in die Karibik sind oder von dort kommen.
Die Mauern der Marina gleichen einer Freiluftgalerie, weil es für die Besatzungen zum guten Ton gehört, die nackte Betonwand mit dem Namen des Bootes, des Skippers und seiner Crew zu verzieren. Kaum ein Plätzchen ist mehr entlang der Mole zu finden, weil Jean, Paul und das Team Maya schon früher da waren.
Abends treffen sich all die Seebären und Seejungfrauen im wohl berühmtesten Lokal der gesamten Azoren: im „Peter Café Sport", dank des Wetterhahns in Gestalt eines Pottwals nicht zu übersehen. Seit 103 Jahren ist der Treffpunkt eine Institution. Bei Peter, dessen Gründer mitnichten Peter, sondern Henrique Azevedo hieß, wird mächtig Seemannsgarn gesponnen. Hier löffeln hungrige Mäuler eine sämige Fischsuppe oder machen sich über Bacalhau her, getrockneten Kabeljau. In der Kneipe bekommen Crews Hilfe, wenn ein Segel gerissen oder ein Mast gebrochen ist, wenn Ausrüstung fehlt und Proviant gebraucht wird.