Jedes Kind hat ein Recht, unbeschwert groß zu werden. So sieht es auch das Schutzengelwerk, das in Berlin unterschiedliche Teilhabeangebote für Kinder schafft. Geschäftsführerin Bianca Sommerfeld über Bildungsarmut, unbürokratische Hilfe und das Ringen um Spendengelder.
Frau Sommerfeld, was genau ist denn das Schutzengelwerk?
Das Schutzengelwerk ist eine Kinderhilfsorganisation. Sie wurde aus der Idee heraus gegründet, dass jedes Kind ein Anrecht hat, sicher zu leben, die gleichen Bildungschancen zu bekommen und angemessen, also mit Schutz und Liebe, groß zu werden. Die Erfahrung war einfach, dass das nicht jedes Kind kann. Die Idee des Gründers war, dass jedes Kind ein Anrecht darauf hat und dass wir versuchen, mit unseren Projekten diese Defizite aufzufüllen.
In Ihrer Satzung sprechen Sie von „unbürokratischem Engagement“. Was genau bedeutet das denn?
Wenn wir Anfragen von anderen Trägern bekommen, hören wir ganz oft: Mensch, ihr seid irgendwie so ein bisschen anders. Wenn eine Organisation mal eben 20 Schultüten braucht oder eine Familie einen Zuschuss zu einer Reise, dann sagen wir entweder ja oder nein. Und wenn wir ja sagen, dann setzen wir das ohne großen bürokratischen Aufwand um. Bei uns geht das sehr, sehr schnell und ohne dass Anträge gestellt werden müssen. Es gibt keine langen Prüfungsverfahren, sondern wir versuchen, ähnlich einer Nachbarschaftshilfe, ganz praktisch vor Ort zu helfen.
Bildung ist bei Ihnen ein sehr großes Thema. Wie bewerten Sie aktuell die Situation in Berlin, aber auch deutschlandweit, Bildungsarmut betreffend?
Grausam. Es ist wirklich ein unhaltbarer Zustand. Es sind viel zu viele Kinder. Betroffen sind auch nicht nur Kinder aus armutsgefährdeten Familien, sondern ganz viele Kinder, die mit dem Schulsystem so nicht mehr klarkommen. Da müsste sich ganz, ganz, ganz viel tun. Schule muss, glaube ich, im Moment zu viele Probleme gleichzeitig lösen und kommt gar nicht dazu, den Kindern Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen. Das sind Klassen mit über 30 Kindern, die überhaupt nicht homogen sind. Die alle einen völlig unterschiedlichen Bildungsstand haben, die alle eine völlig unterschiedliche Art zu lernen haben. Nicht alles funktioniert eben für alle. Viele Kinder sind mittlerweile auch lärmempfindlich, nicht mehr stressresistent, können so eine große Klasse also gar nicht mehr aushalten. Bei jedem Kind äußert sich dieser Stress dann anders. Die einen reagieren, indem sie laut sind und stören, die anderen ziehen sich komplett zurück. Viele verlieren so die Lust am Lernen. Wir versuchen das dann wieder rückgängig zu machen, denn Lernen ist eigentlich etwas sehr Schönes: ein Buch lesen zu können, rechnen zu können, Allgemeinwissen zu haben.
Wie gehen Sie das an?
Wir wenden uns dem Kind zu, gucken, was es braucht, in welchem Tempo es lernen muss, warum es hakt und können so ganz liebevoll im Eins-zu-Eins schauen, wie wir das angehen können. Wir nutzen hierfür auch viele tolle Methoden, die man aus der Montessori- oder Waldorf-Pädagogik kennt. Diese Erfolge, die die Kinder bei uns sammeln, nehmen sie wieder mit in den Unterricht. Viele Lehrkräfte merken dann sofort, dass das Kind wieder mehr Lust hat, motiviert ist und gar keine Angst mehr vor Zahlen, Buchstaben und Ähnlichem hat. Das ist echt schön zu beobachten.
In Berlin-Steglitz steht beispielsweise das Schutzengelhaus, das Kinder und Jugendliche nach dem Unterricht besuchen können. Wie läuft denn die Arbeit dort ab?
Das ist ein sehr schöner, strukturierter Ablauf. Wir öffnen um 13 Uhr. Die Kollegen vor Ort sind schon ein bisschen früher da, haben schon eingekauft und fangen an zu kochen. Die Kinder trudeln nach und nach aus der Schule ein. Dann wird gegessen.
Wir haben einen riesengroßen Tisch, gute sechs Meter lang. Je nachdem wann die Kinder kommen – es haben ja nicht alle zur gleichen Zeit Schulschluss – sitzen sie dann zusammen an diesem Tisch, essen und quatschen ein bisschen. Wie war die Schule? Wie war’s bei der Arbeit? Was hast du heute erlebt? So wie man das aus einer Familie kennt. Danach schauen wir, wer Hausaufgaben hat, bei denen dann einer von uns hilft oder wer nichts mehr zu erledigen hat und spielen, basteln oder einfach nur chillen kann. Wir haben auch jeden Tag ein bestimmtes Angebot, sei es die Holzwerkstatt, Schwimmengehen oder einen Filmnachmittag. Wenn eines der Kinder Geburtstag hat, dann feiern wir zusammen Geburtstag oder wir entscheiden uns mal spontan dazu, einen Workshop zu einem bestimmten Thema zu machen wie Plastik, Umwelt oder Nachhaltigkeit. Man kann sich das also wirklich vorstellen wie eine große Familie.
Nun haben Sie aber auch nicht unbegrenzt Platz in der Einrichtung. Können Sie den Bedarf wirklich decken?
Ganz klares Nein. Den Bedarf können wir nicht decken, da reichen die Kapazitäten nicht aus. Wir haben in einer Einrichtung Platz für etwa 25 bis 30 Kinder, die wir angemessen betreuen können. Wir könnten im Prinzip in jedem Kiez in Berlin ein Schutzengelhaus aufmachen, und sie wären trotzdem alle voll. Es sind so viele Kinder, die diese Zuwendung, die individuelle Betreuung oder ein offenes Ohr brauchen. Jemand, der mit ihnen Hausaufgaben macht oder der sich Gedanken um seine Ernährung macht.
Kann man sagen, dass es ein gewisses Klientel gibt, aus dem die Kinder im Schutzengelhaus stammen? Oder ist das absolut gemischt?
Man denkt vielleicht, dass viele Kinder aus Familien stammen, die Bürgergeld empfangen. Aber das ist gar nicht mal so. Es ist eher der Mittelstand. Meistens kommen Kinder von Alleinerziehenden zu uns, bei denen die Mutter wirklich hart arbeiten muss und manchmal gar nicht die Zeit hat, sich nachmittags ums Kind zu kümmern und Essen zu kochen. Manche Kinder bekommen morgens ein paar Münzen in die Hand gedrückt und sollen sich irgendwas beim Bäcker oder im Supermarkt holen. Da kommt natürlich nur Murks raus.
Die meisten Kinder haben eine Dreiviertel aufgefutterte Chipstüte, die sie nachmittags mit zu uns bringen. Es wird sich allgemein zu wenig gekümmert – aus unterschiedlichen Gründen: Überforderung, Unwissen, Lustlosigkeit, psychische Probleme, Alkoholprobleme, Drogenprobleme.
Sie sind eine rein spendenbasierte Organisation. Wie schwer ist es da, verlässlich in die Zukunft planen zu können?
Sehr schwer. Es ist gerade in diesen Zeiten unheimlich herausfordernd und war noch nie so schwer wie jetzt, muss ich sagen. Die Anzahl der Projekte, die auf Spenden angewiesen sind, wird immer höher. Zudem erleben viele Menschen gerade viele Krisen in der Welt und sind daher auch, was ihre Spendenbereitschaft angeht, zurückhaltender geworden. Jeder guckt auf sich und hat nicht die Kapazität, andere zusätzlich zu unterstützen. Das ist für uns als Gesellschaft aber sehr gefährlich. Es gibt immer wieder Mitmenschen, die es ohne Hilfe nicht schaffen, seien es Kinder und Jugendliche, Senioren oder Obdachlose. Wenn die Gemeinschaft aber nicht mehr für die anderen aufkommt, aus welchen Gründen auch immer, dann ist es eine ganz wacklige Geschichte. Dennoch: Ganz viele Menschen spenden uns – egal ob regelmäßig oder einmalig, zum Beispiel mit Spendensammelaktionen zu Geburtstagen. Teilweise werden Flohmärkte veranstaltet, deren Erlös dann an uns geht. Menschen reden über uns, wodurch wir bekannter werden. Wir stehen vor Herausforderungen, die wir nur zusammen schaffen können. Wir Schutzengel haben vielleicht Flügel, aber die brauchen ab und zu Unterstützung.
Gibt es denn noch weitere Projekte, die das Schutzengelwerk in naher Zukunft plant?
Wir wollen auf jeden Fall in Hohenschönhausen, wo wir jetzt unser Schutzengelkunsthaus mit künstlerischen Angeboten an Kinder und Jugendliche haben, ein weiteres Lernengel-Angebot schaffen, also kostenfreie Nachhilfe. Das ist allerdings sehr kostenintensiv, da ja jedes Kind einen Lehrer braucht. Daher stellen wir da zurzeit Anträge. Diese Nachhilfe ist wahnsinnig kostspielig, aber der Erfolg des Projekts bestärkt uns immer wieder darin, an diesem Konzept festzuhalten.