Nach sieben Jahren ist der Hamburger SV zurück in der Bundesliga. Doch was bedeutet der Aufstieg für einen Verein, der sportlich, finanziell und strukturell fast zerschlissen war? Nun geht es darum, eine Mannschaft zu formen, die mehr sein kann als nur ein Erstliga-Gast.

Als Merlin Polzin am Abend des 18. Mai zum Interview gebeten wurde, war der neue Hamburger Hoffnungsträger noch voller Euphorie. Der 33-jährige Cheftrainer hatte mit seinem Team soeben den Aufstieg klargemacht – 6:1 gegen den SSV Ulm, Volkspark im Ausnahmezustand. Doch während die Kurve sang, der Rasen gestürmt und Polzin beglückwünscht wurde, stellte sich längst die Frage, die alle umtrieb: Reicht das, was der HSV da aufgebaut hat, wirklich für die Bundesliga?
„Wir sind bei 50 Prozent“
Die Verantwortlichen selbst haben daran berechtigte Zweifel. „Wir sind bei 50 Prozent“, sagt Sportvorstand Stefan Kuntz offen, angesprochen auf die Erstligatauglichkeit des aktuellen Kaders. Die Zahl klingt beinahe beiläufig, ist aber in Wahrheit ein Warnsignal – und eine Arbeitsanweisung. In nur wenigen Wochen soll eine Mannschaft entstehen, die nicht nur irgendwie mithält, sondern die auch „in der Bundesliga mitspielen kann“, wie Club-Ikone Horst Hrubesch es formulierte. Was im ersten Moment nach einem diffusen Anspruch klingt, ist beim HSV aktuell das Höchstmaß an Realismus.
Dabei waren die Vorzeichen lange düster. Der HSV – einst Bundesliga-Dino, Gründungsmitglied, Europapokalsieger – war tief gefallen. Der Abstieg 2018 nach 55 Jahren ununterbrochener Erstklassigkeit markierte eine historische Zäsur. Noch dramatischer war, dass dem Fall kein sofortiger Wiederaufstieg folgte, sondern eine Phase des Verharrens, des Zweifels, der verschenkten Chancen. Vier verpasste Aufstiege in Folge, teure Fehleinkäufe, interne Machtkämpfe und ein Publikum, das zu dulden lernte, was es nie für möglich gehalten hätte: Mittelmaß.
Umso größer ist der Druck, die Rückkehr diesmal anders zu gestalten. „Wir dürfen nicht wieder irgendwelche Luftschlösser bauen“, warnt Kuntz. Dass ausgerechnet er diese Worte wählt, ist bemerkenswert. Der 62-Jährige war als Europameister von 1996 selbst Teil glorreicher Fußballvergangenheit, denkt heute aber in Bilanzen und Budgetrahmen. Seit seiner Berufung im Frühjahr ist Kuntz die strategische Speerspitze einer HSV-Führung, die sich endlich an die Realität gewöhnt zu haben scheint.

Die wirtschaftliche Basis dafür ist besser als je zuvor – zumindest nach HSV-Maßstäben. Bei der jüngsten Mitgliederversammlung verkündete Finanzvorstand Eric Huwer das, was beim HSV fast schon als utopisch galt: „Der neue HSV ist schuldenfrei.“ Eine Schlagzeile, die er selbst angekündigt hatte – und die tatsächlich ein Wendepunkt sein könnte. Nach Jahren mit zweistelligen Millionenverlusten, notdürftig gestopft mit Darlehen und Anteilsverkäufen, stehen die Netto-Finanzverbindlichkeiten nun bei null. Möglich machten das unter anderem der vorzeitige Abbau des Stadion-Darlehens und eine überraschend starke Saisonbilanz mit Rekord-Trikotverkäufen (90.000 Stück) und Zuschauerhöchstwerten im Volkspark.
Der Wandel fällt schwer
„Wir sitzen wieder hinter dem Lenkrad“, so Huwer. Das klingt nach Kontrolle – und ist als Abgrenzung zur Vergangenheit gemeint. Doch Kontrolle bedeutet eben auch: keine kurzfristigen Eskalationen mehr, keine Panikkäufe auf Pump, keine Stars über Marktwert. Ein echter Umbruch also. Der neue HSV will anders sein – aber kann er das überhaupt? Das Herzstück dieser Transformation ist der Kader – und hier zeigt sich, wie schwer der Wandel wirklich fällt. Mit dem wahrscheinlichen Abgang von Mittelfeldchef Ludovit Reis (für rund sechs Millionen Euro nach Brügge) und dem sich anbahnenden Vertrags-Aus von Stürmer Davie Selke verliert der HSV zwei zentrale Säulen. Beide hatten den Verein im Aufstiegsrennen getragen – Reis als Kapitän, Selke mit Toren und Präsenz. Ersatz ist nicht in Sicht. Selke selbst will drei Jahre Vertragslaufzeit und 1,8 Millionen Euro Gehalt. Der HSV hatte ihm zwei Jahre angeboten – mehr ist wirtschaftlich nicht drin. Das Angebot wurde inzwischen zurückgezogen.
„Natürlich müssen wir uns punktuell verstärken“, sagt Kuntz, „aber immer im Rahmen des Machbaren.“ Was das konkret heißt, bleibt vage. Zwar spricht der Sportvorstand von einem „Schattenkader“ und „Lieblingskandidaten auf jeder Position“, doch das operative Geschäft auf dem Transfermarkt läuft unter hohem Druck. Der Saisonstart ist für Ende August terminiert, bis dahin soll aus einem Zweitliga-Aufsteiger eine Bundesliga-Mannschaft werden. Keine leichte Aufgabe – zumal der HSV nach wie vor kein bevorzugtes Ziel für Topspieler ist.

Hinzu kommt: Die sportliche Strategie ist noch im Aufbau. Polzin bleibt Cheftrainer, sein Vertrag hat sich durch den Aufstieg automatisch verlängert. Mit Sportdirektor Claus Costa und Chefscout Sebastian Dirscherl bildet er eine sportliche Leitung, die sich erst noch beweisen muss. In der Analyse des Vorjahres hat man erkannt, dass es weniger an Qualität, sondern mehr an Charakter gefehlt hatte. „Vergangenes Jahr haben wir bewusst andere Typen geholt“, sagt Kuntz – Männer wie Elfadli oder Selke, die laut, fordernd, stabilisierend wirken. Auch künftig will man „nicht nur auf sportliche Qualität, sondern auf Persönlichkeit“ achten.
Dieses Prinzip – keine Stars, sondern Charaktere – klingt plausibel. Doch es wird auf dem Bundesliga-Parkett auf eine harte Probe gestellt. Vor allem defensiv besteht akuter Nachbesserungsbedarf. In der 2. Liga konnte sich der HSV auf Ballbesitz und individuelle Klasse verlassen – doch in der Bundesliga wird das Spiel schneller, härter, taktisch anspruchsvoller. Ein stabiler Abwehrverbund, Erfahrung im Mittelfeld, Tempo auf den Flügeln – all das fehlt (noch). Und wer Bundesliga-Erfahrung kaufen will, zahlt mitunter Bundesliga-Preise.
Neuer Präsident und prominente Vize
Dazu kommt eine neue Führungsstruktur. Auf der Mitgliederversammlung Anfang Juni wurde Henrik Köncke zum neuen Präsidenten gewählt – mit 65,71 Prozent der Stimmen. Der frühere Vorsänger der Ultra-Gruppierung „Poptown“ tritt die Nachfolge von Marcell Jansen an, dessen Amtszeit von Konflikten und Polarisierung geprägt war. Mit Laura Ludwig, Olympiasiegerin im Beachvolleyball, wurde zudem eine prominente Vizepräsidentin bestimmt. Dass ausgerechnet Clublegende Felix Magath im Vorfeld von der Wahl ausgeschlossen wurde, sorgte für Unruhe – ist aber symptomatisch für die Spannung zwischen Tradition und Aufbruch, die den HSV seit Jahren begleitet.

Köncke steht für die Basis, für eine neue Nähe zu den Fans. Ob er auch Stabilität und strategische Weitsicht mitbringt, bleibt abzuwarten. Der HSV hat in den letzten Jahren mehr an sich selbst als an seinen Gegnern gelitten. Umso entscheidender ist nun die interne Geschlossenheit. Kuntz bringt es auf den Punkt: „Ruhe bewahren – vor allem bei der ersten Krise nicht gleich durchdrehen.“
Das ist leichter gesagt als getan in einem Verein, dessen Fall zum Mahnmal geworden ist. Und doch scheint etwas anders zu sein. Als Stefan Kuntz nach dem Aufstieg durch Hamburg ging, wurde er nicht nur beglückwünscht. „Die meisten haben sich bedankt“, erzählte er später. Das mag pathetisch klingen – doch es beschreibt genau, worum es nun geht. Der HSV schuldet seinen Anhängern nicht nur Erstliga-Fußball, sondern vor allem Glaubwürdigkeit. Ob es sportlich reicht, lässt sich heute nicht seriös sagen. Aber der Verein hat zum ersten Mal seit Jahren eine echte Chance, den Teufelskreis aus Schulden, Chaos und Panik zu durchbrechen. Die neue Saison wird zeigen, ob es wirklich einen „neuen HSV“ gibt – oder ob der alte nur gut getarnt zurückgekehrt ist.