Vor 85 Jahren begann in Deutschland die systematische Vernichtung Menschen jüdischen Glaubens. Aktuell müssen Juden wieder um ihr Leben fürchten – nicht nur in Israel. Auch bei uns haben viele wieder Angst, sich offen zu ihrem Glauben zu bekennen. Das hat viele Ursachen.
manchmal wird die Planung eines größeren Schwerpunktthemas von der Aktualität des Tagesgeschehens eingeholt. Dass dies allerdings auch ein Thema betrifft, dass bereits acht Jahrzehnte zurückliegt, ist selten der Fall. Vor 85 Jahren begann mit der sogenannten Reichspogromnacht das dunkelste Kapitel neuerer deutscher Geschichte, dem am Ende sechs Millionen Menschen jüdischen Glaubens zum Opfer fielen. Das alleine ist eigentlich Grund genug, das damals Geschehene nochmals in Form eines Themenschwerpunkts ins Bewusstsein der heutigen Generation zu rufen.
Die aktuellen Ereignisse im Nahen Osten mit den Terrorakten der Hamas auf Israel und der entsprechenden Reaktion Israels haben dem Thema aber eine ungeahnte Aktualität verliehen. Aus diesem Grund versuchen wir auf den folgenden Seiten einen Überblick über die aktuelle Situation zu geben, begeben uns aber auch auf die Spurensuche nach den Anfängen dieses Hasses gegen Juden und ganz aktuell den Staat Israel.
Denn Ablehnung und Verfolgung reichen weitaus länger zurück als zur Staatsgründung Israels im Jahr 1948 und auch weiter als bis zum verheerenden Holocaust der Nationalsozialisten, die einen Mordanschlag des Juden Herschel Grynszpan am 7. November 1938 auf den deutschen Diplomaten und Botschaftssekretär Ernst Eduard vom Rath in Paris zum Anlass nahmen, ihre Judenverfolgung zu legitimieren. Mit dem Angriff auf Synagogen, Geschäfte und Privathäuser jüdischer Mitmenschen in ganz Deutschland in der Nacht vom 9. auf den 10. November begann als Reaktion des Hitler-Regimes die systematische Verfolgung und Vernichtung jüdischen Lebens in Deutschland und darüber hinaus.
Antisemitismus hat viele Formen
Tatsächlich lassen sich die Ursprünge der Verfolgung von der Neuzeit über das Mittelalter hinaus bis in die Antike zurückverfolgen. Seit mehr als 2.000 Jahren erfahren Juden Misstrauen, Ablehnung, Verleumdung und Verfolgung. Erste gesicherte Hinweise darauf datieren aus dem Jahr 300 v. Chr., doch erst mit Aufkommen des Christentums wurde aus der Ablehnung eine systematische Verfolgung. Der Begriff des Gottesmordes zog in die Alte Kirche ein und gab Juden die Schuld am Tod Christi. Ein erstes Pogrom lässt sich auf das Jahr 38 n. Chr. datieren.
Die Verfolgung von Menschen jüdischen Glaubens zieht sich auch durch das Mittelalter, wo Juden als Schuldige für das Aufkommen der Pest auserkoren, verfolgt und vielerorts getötet wurden. Auch der bei uns als großer Reformator gefeierte Martin Luther hatte eine dunkle Seite, denn auch er befeuerte den Hass gegen Juden aktiv und vehement und griff dabei eine zuvor in Spanien aufgekommene These vom „verdorbenen Blut“ der Juden auf. Etwas, was sich später auch die Nazis zu eigen machten.
Aktuell müssen Menschen jüdischen Glaubens wieder um ihr Leben fürchten – nicht nur in Israel, wo seine Nachbarn bereits seit Jahrzehnten nicht an einem friedlichen Nebeneinander interessiert sind, sondern auch bei uns. Und das hat unterschiedlichste Ursachen. Eine ist sicherlich, dass der Staat zwar das Gewaltmonopol hat, aber längst nicht mehr in der Lage ist, seine Bürger wirklich zu schützen – weil unzählige Polizeikräfte fehlen. Eine andere ist ein Erstarken des Antisemitismus in unserem Land.
Man mache es sich zu einfach, bei Antisemitismus nur mit unserer Geschichte und unserer Verantwortung zu argumentieren, sagt dazu Jörn Didas vom Adolf-Bender-Zentrum für Demokratie und Menschenrechte. Für Menschen, die jetzt unser Bildungssystem durchlaufen, sei der Nationalsozialismus nicht mehr ihre familiäre Geschichte, erst recht nicht ihre eigene. Sie bringen andere Geschichten mit. Das bedeute für die Bildung, dass wir uns verstärkt anderen Formen des Antisemitismus zuwenden müssen und damit auch den Fragen, woraus sich dieser speist.
Insgesamt lässt sich seit Jahren ein schleichendes Bröckeln der Demokratien beobachten – nicht nur bei uns, sondern in einer Vielzahl von Ländern. Respekt vor Repräsentanten des Staates nimmt zunehmend ab. Im ersten Halbjahr dieses Jahres wurden bei uns offiziell 739 Angriffe gegen Repräsentanten von im Bundestag vertretenen Parteien registriert. Auch Hilfskräfte, ob Polizei, Feuerwehr oder Rettungsdienste, werden immer häufiger Ziele von Angriffen. Alleine im vergangenen Jahr waren 76.000 Polizistinnen und Polizisten, 1.000 Feuerwehrleute und 2.100 andere Hilfskräfte Attacken ausgesetzt.
Aktiv einstehen für unsere Werte
Gezielte Desinformation ist ein weiterer Punkt, und dieser nimmt durch die digitale Welt immer stärker zu und wird längst ganz bewusst eingesetzt, um das Vertrauen in Demokratien zu untergraben. Noch steht eine große Mehrheit hinter den Werten unseres Systems, aber der Rückhalt bröckelt und das Vertrauen in die Entscheider nimmt spürbar ab, wie sich nicht zuletzt an Wahlergebnissen ablesen lässt. Nicht wenige fühlen sich mittlerweile an die Parteienzersplitterung der Weimarer Republik erinnert – und haben in letzter Konsequenz Angst davor, was daraus entstanden ist und vielleicht wieder entstehen könnte.
Zwar heißt es, dass sich Geschichte nicht wiederholt, aber ein Blick zurück kann durchaus helfen, entsprechenden Entwicklungen frühzeitig aktiv entgegenzutreten.