Der Krieg in der Ukraine sei „ein wegweisender Krieg“, sagt Alexander Friedman. Der Historiker hat zu Kriegsbeginn gegenüber FORUM von der „Geburtsstunde“ der Ukraine gesprochen. Knapp ein Jahr später sieht er den Krieg als entscheidend zwischen Demokratie, Freiheit, Rechtsstaat oder Diktatur und Unterdrückung.
Herr Friedman, Sie haben kurz nach Beginn des Krieges angesichts der ersten Entwicklungen von einer „Geburtsstunde der vereinigten Ukraine“ gesprochen. Sehen Sie sich durch die Entwicklung bestätigt?
Ich sehe das nach wie vor so. Der Krieg hat dazu geführt, dass die ukrainische Gesellschaft noch mehr zusammengerückt ist. Die regionalen Unterschiede, kulturelle und sprachliche, sind sekundär geworden. Die Nation scheint entschlossen zu sein, für die Unabhängigkeit zu kämpfen und die russische Aggression abzuwehren. Die ukrainische Gesellschaft ist traumatisiert, aber auch gefestigt und eindeutig zusammengewachsen. In diesem Sinne scheint es mir die Geburtsstunde der vereinigten Ukraine zu sein.
Der Krieg dauert nun bereits ein Jahr, die russische Armee musste sich aus bereits besetzten Landesteilen zurückziehen. Wie erklären Sie, dass so vieles anders gelaufen ist als zunächst erwartet?
Ich würde zwei Gründe nennen. Zum einen hat der Westen die militärische Stärke der Russischen Föderation überschätzt. Man hat weitgehend unkritisch das russische Selbstbild beziehungsweise das Propagandabild übernommen: moderne Waffen, hohe Motivation und erfolgreich. Der Krieg in Georgien, die Krim-Annexion, dann Syrien: Die Methoden waren schrecklich, aber ihre Ziele haben die Russen jeweils erreicht. Von diesen Erfolgen hat man sich überzeugen lassen und das Bild von der russischen Militärübermacht übernommen. Deshalb haben auch viele Militärexperten gedacht, das wird eine kurze Sache sein, vielleicht eine Woche oder zwei. Zu dieser Überschätzung kam gleichzeitig die Unterschätzung der Ukraine. Vor dem Krieg gab es in der ukrainischen Bevölkerung eine eher kritische Haltung: Man kommt nicht weiter mit Reformen, die Korruption ist omnipräsent. Also nach dem Motto: Die versuchen zwar, was zu machen, aber was sie sich vorgenommen haben, haben sie nicht so gut erreicht. Die Armee hat man nach der Krim-Annexion zwar modernisiert und neu aufgebaut, aber trotzdem war für die Menschen in der Ukraine nicht selbstverständlich, dass sie motiviert ist und gegen die russische Übermacht bestehen kann. Die westliche Ukraine-Forschung hat das sehr weitgehend übernommen. Es ist aber anders gekommen. Die Menschen haben gesehen: Die Staatsführung hat nicht versagt, hat das Land nicht verlassen, die Armee war sehr entschlossen, die Bevölkerung unterstützt den Widerstand gegen die Russen und hat die Russen eben nicht begrüßt. Also: Wir haben die Russen überschätzt, sie sind gar nicht so stark, die Militärführung ist nicht so professionell, die Soldaten sind nicht besonders motiviert, die Ausrüstung ist nicht optimal, die Korruption ist omnipräsent. Und wir haben die Ukraine unterschätzt: Die Armee ist intakt, die Armeeführung intelligent, die Regierung entschlossen und die ukrainische Gesellschaft ist bereit, trotz dieser ganzen schrecklichen Tragödien weiter zu kämpfen und durchzuhalten. Das hat auch zu einem Umdenken im Westen geführt. Die USA und die EU haben nicht nur Sanktionen verhängt, sondern der Ukraine modernste Waffen gegeben. Ohne die Waffenlieferungen aus dem Westen, ohne die wirtschaftliche Unterstützung wäre die Situation wesentlich schlimmer.
Was werden die jetzt zugesagten Panzerlieferungen ändern?
Es wäre naiv zu glauben, jetzt bekommt die Ukraine die Panzer, dann schlagen sie die russische Armee – so einfach ist die Sache nicht. Es ist schon ein Weg der Eskalation. Die Bundesrepublik und andere westliche Partner geben der Ukraine weiter die Möglichkeit, für ihre Freiheit, Souveränität und ihre Gebiete zu kämpfen. Aber wie wird Russland darauf reagieren? Wird es sich weiter im Rahmen halten und rote Linien nicht überschreiten oder zu anderen Mitteln greifen? Das kann man nicht ausschließen. Wir werden in den nächsten Wochen eine weitere Eskalation erleben, mit ungewissem Ausgang. Es kommen jetzt wichtige Zeiten, ohne Zweifel. Aber ob der Krieg im Frühjahr entschieden ist, will ich bezweifeln. Ich rechne eher mit einem langen, blutigen Abnutzungskrieg.
Der Krieg wird von Beginn an mit großer Rücksichtslosigkeit und Brutalität geführt. Russland wollte offensichtlich mit der Zerstörung der Infrastruktur und Angriffen auf zivile Ziele die Moral brechen. Das ist offensichtlich nicht gelungen. Warum?
Wenn man die sozialen Netzwerke verfolgt und mit Menschen aus der Ukraine und in der Ukraine spricht, dann sieht man, dass die Bereitschaft zum Widerstand eher gefestigt ist. Die Vorstellung, dass die Ukraine entweder gewinnt oder untergeht und es keine Option dazwischen gibt, hat sich etabliert. Hinzu kommen ein virulenter Hass und Rachegefühle gegenüber den russischen Besatzern. Die Strategie der Russen, den Widerstand durch die Angriffe gegen die Infrastruktur gerade im Winter zu brechen, scheint nicht aufgegangen zu sein. Die meisten Ukrainer scheinen überzeugt zu sein, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnt und die Gebiete zurückbekommt, die den Grenzen von 1991 entsprechen, Krim inklusive. Die Tendenz, Gebiete aufzugeben und dafür den Frieden zu bekommen, ist nicht sehr stark verbreitet. Natürlich möchten die Menschen, dass der Krieg vorbei ist. Das Ende des Krieges verbindet man aber nicht mit halbherzigen Verhandlungen oder einer Übergangslösung, etwa „Minsk III“. (Anm. d. Red.: Das Abkommen Minsk II sollte den seit 2014 in der Ost-Ukraine herrschenden Krieg beenden.)
Bei allen neuen Unterstützungsbeschlüssen, zuletzt zu den Panzerlieferungen, gibt es im Westen Diskussionen und Mahnungen vor weiteren Eskalationsstufen. Fürchtet man in der Ukraine um eine schwindende Unterstützung oder gibt es Verständnis für Vorsicht und Zurückhaltung?
In der Ukraine sieht man die – berechtigten – sicherheitspolitischen Bedenken, die Angst vor dem Dritten Weltkrieg, die Angst vor dem Einsatz von Atomwaffen, Aspekte, die gerade die deutsche Diskussion beherrschen. Das wird auch in der Ukraine von Experten diskutiert. Was die ukrainische Sichtweise betrifft, die ist im Grunde genommen egoistisch. Für die Bevölkerung, so meine Wahrnehmung, sind die Bedenken zweitrangig. Die ist schon im Krieg, und ob der sich ausweitet auf andere Länder, ist nicht das wichtigste Thema. Der Westen hat alles, was die Ukraine braucht, und deshalb ist man in der Ukraine sauer, wenn es so lange Diskussionen gibt. Die Menschen sagen: Wir sind in einer dramatischen Situation, wir verteidigen nicht nur uns, wir verteidigen auch Europa. Für die meisten Menschen in der Ukraine ist es eine selbstverständliche Vorstellung, dass dieser Krieg nur die Vorstufe zu einem viel größeren Krieg ist. Dass in der Ukraine auch Berlin, Warschau, Paris verteidigt werden, ist ein sehr verbreiteter Diskurs. Es ist also das Verständnis von einem europäischen Krieg, sogar von einem Weltkrieg. Deshalb kommen auch von ukrainischer Seite manchmal höfliche Bitten, manchmal aber auch offene Forderungen, die alles andere als diplomatisch formuliert sind.
Die Rolle von Belarus ist etwas undurchsichtig. Droht, wie einige befürchten, ein erneuter Angriff von dort?
Die belarussische Frage ist eine sehr komplexe Frage: Welche Rolle spielt Belarus, spielt es überhaupt eine Rolle, wird es zu einer neuen Offensive von belarussischem Gebiet aus kommen? Werden weiter russische Truppen in Belarus stationiert und ausgebildet, liefert Belarus weiter Waffen, wobei da ja nicht mehr viel ist, weil schon alles geliefert worden ist, was man hätte liefern können. Was mir eindeutig erscheint: Staatschef Lukaschenko möchte keinen Krieg führen und er will auf keinen Fall, dass es auf belarussischem Gebiet zu Kampfhandlungen kommt. Er fürchtet, das könnte die Lage im Land destabilisieren. Er hat Erfahrungen mit den Protesten gemacht, die er 2020 mühsam unterdrückt hat. Es ist sehr schwer, die Stimmung zu beurteilen, weil Umfragen oder Studien unter Bedingungen einer Diktatur kaum möglich sind. Der Eindruck ist, dass das Land gespalten ist. Es gibt viele, die die Ukraine unterstützen, es gibt auch viele, die Russland unterstützen, und es gibt sehr viele, die dazwischen stehen. Aber alle, selbst die, die auf russischer Seite stehen, sind gegen eine direkte Beteiligung an diesem Krieg. Lukaschenko weiß auch: Wenn er Soldaten schicken würde, gibt es viele Tote. Die ukrainische Armee ist vorbereitet und kampferfahren, Belarus hat eine kleine und ziemlich schwache Armee. Lukaschenko hat mehrfach signalisiert, dass er kein Teil dieses Krieges sein möchte. Gleichzeitig unterstützt er Russland logistisch, lässt russische Soldaten gewähren, übernimmt russische Propagandanarrative. Dass noch keine belarussischen Soldaten auf ukrainischem Gebiet sind und es derzeit an der Grenze relativ ruhig ist, ist kein Verdienst von Lukaschenko, sondern der Tatsache geschuldet, dass die Russen sich noch nicht entschieden haben.
Können Sie einschätzen, wie die Stimmung in Russland selbst ist?
Wir haben dort dasselbe Problem wie in Belarus. Wir haben es mit einer Diktatur zu tun, die Kriegsgegnerinnen und -gegner massiv unterdrückt. Es sieht danach aus, dass doch noch eine Mehrheit den Krieg unterstützt. Je älter die Menschen, umso stärker unterstützen sie Putin und die Kriegspolitik. Bei jungen Menschen zwischen 18 und 30 ist die Ablehnung sehr groß, es ist die einzige Gruppe, in der Kriegsgegnerinnen und -gegner eine Mehrheit darstellen. Das ist nicht überraschend, weil sie im Fall einer Mobilmachung oder Teilmobilmachung an die Front geschickt werden können. Hunderttausende junge Menschen haben versucht, das Land zu verlassen bei der ersten Teilmobilisierung. Die Stimmung ist insgesamt ambivalent. Selbst diejenigen, die grundsätzlich die Regierung unterstützen, haben gesehen, dass es für die Armee alles andere als rund läuft. Trotz der ganzen Propaganda haben sie gemerkt, dass dieser Krieg kein Spaziergang ist, dementsprechend wollen sie auch nicht Teil des Krieges werden.
Was macht dieser Krieg mit Europa, mit Deutschland?
Der Bundeskanzler hat von einer „Zeitenwende“ gesprochen. Alle Menschen bekommen die Konsequenzen dieses Krieges zu spüren. Und die Menschen verfolgen die Nachrichten. 300.000 Menschen sind in diesem Krieg wohl bereits gestorben – und das in noch nicht einmal einem Jahr. Wenn es weiter so geht, sind wir bald in einem Millionenbereich. Das ist eine unglaubliche Brutalität, die schockiert. Was mir aber wichtig erscheint: Die Menschen gerade in Deutschland, aber auch insgesamt in Europa und den USA, haben das Sicherheitsgefühl verloren, in dem Sinn, dass es eine gute und berechenbare Zukunft gibt. Schon vor diesem Krieg gab es wirtschaftliche Schwierigkeiten, es gab die Pandemie, aber insgesamt war die Lage doch ziemlich stabil. Jetzt gibt es einen Krieg in Europa mit dem Potenzial zum dritten Weltkrieg. In Russland wird zunehmend über den dritten Weltkrieg gesprochen beziehungsweise über einen Krieg zwischen Russland und dem Westen. Damit kam die längst vergessene Vorstellung zurück, das ein äußert blutiger Krieg in Europa möglich ist und man selbst ein Teil dieses Krieges werden kann. Das war für viele Menschen vorher unvorstellbar. Insofern ja, es ist eine Zeitenwende.
Was bedeutet das?
Wir leben in einem neuen Zeitalter. In diesem Krieg wird entschieden, wie dieses Zeitalter aussehen wird. Leben wir in einer Demokratie, einem Rechtsstaat und in Freiheit? Oder wird es eine Epoche von Diktatoren und Unterdrückung sein? In diesem Sinne ist er zu einem wegweisenden Krieg geworden. Ich glaube nicht, dass Putin diesen Krieg als einen wegweisenden Krieg geplant hat. Er hat ihn vielmehr als einen schnellen, erfolgreichen Spaziergang geplant, er hat mit der westlichen Entschlossenheit nicht gerechnet. Inzwischen hat er es wohl eingesehen, aber es gibt keinen Weg zurück mehr hinter den 24. Februar 2022. Insofern erleben wir die ersten Monate, die ersten Jahre eines neuen Zeitalters.
Inwiefern spielt dabei die Diskussion um Atomwaffen eine Rolle?
Die Situation wurde häufig mit der Kuba-Krise 1962 verglichen. Ich bin eher der Meinung, dass die heutige Situation wesentlich schlimmer ist. 1962 wussten wir, dass Atomwaffeneinsatz für beide Seiten eigentlich ein Tabu war und man das auf jeden Fall vermeiden wollte. Jetzt sind wir in der Situation, dass die westliche Seite den Einsatz von Atomwaffen mit allen Mitteln vermeiden möchte. Das erklärt die abwägende und vorsichtige Haltung. Aber kann man bei der russischen Seite so sicher sein? Das Gespräch über Atomwaffen und den Dritten Weltkrieg ist in Russland schon zu einer Normalität geworden. Man reagiert im Westen zunehmend gelassen, man hat sich offenbar schon an diese Drohungen gewöhnt. Es wird ja auch ganz sachlich darüber diskutiert, wie der Westen darauf reagieren sollte, wenn Russland eine Atomwaffe in der Ukraine einsetzt. Allein das zeigt schon, wie sich die Dinge verändert haben. Was vorher absurd und abnormal schien, ist zur Normalität geworden. Das zeigt, was sich in dieser Zeitenwende verändert hat, dass wir in einem neuen Zeitalter leben.