Jeder Mensch ist einmal im Laufe seines Lebens einsam infolge einschneidender Ereignisse. Doch Einsamkeit ist auch in der gesamten Bevölkerung ein verbreitetes Problem. Die Einsamkeitsforscherin Prof. Dr. Maike Luhmann von der Ruhr-Universität Bochum im Interview.
Frau Prof. Dr. Luhmann, Sie haben Einsamkeit mit einem Mangel, einem Hungergefühl verglichen. Jeder, der dieses Gefühl kennt und hat, sollte es als ein Signal zum Handeln verstehen. Können Sie uns das näher erläutern?
Die interessante Frage ist, warum wir Menschen überhaupt in der Lage sind, Einsamkeit zu empfinden. Warum ist es gut, dass wir so ein negatives Gefühl wahrnehmen können? Einsamkeit ist, so sagt es die Evolutionäre Theorie der Einsamkeit, ein Warnsignal unserer Psyche. Hunger und Durst sind auch Zustände, die wir als unangenehm empfinden. Dennoch ist es gut, dass wir Hunger und Durst empfinden, denn sonst würden wir nicht essen und trinken. Genauso kann man das auf Einsamkeit übertragen, denn wir leiden, wenn uns soziale Kontakte und Menschen um uns herum fehlen. Und weil wir darunter leiden, sind wir motiviert, etwas dagegen zu tun.
Was können Risikofaktoren für Einsamkeit sein?
Zunächst einmal kann es konkrete Auslöser von Einsamkeit geben, insbesondere wenn größere Lebensereignisse hinter uns liegen, die zu großen Umbrüchen führen. Das kann zum Beispiel ein Umzug sein, eine Trennung oder der Tod einer nahestehenden Person. Solche Ergebnisse führen dazu, dass sich unsere sozialen Netzwerke verändern und wir uns für eine gewisse Zeit einsam fühlen. Davon abgesehen erhöht eine Reihe von anderen Faktoren das Risiko für Einsamkeit. Menschen, die chronisch erkrankt sind und aus gesundheitlichen Gründen nur eingeschränkt am gesellschaftlichen Leben teilhaben können, sind eher von Einsamkeit betroffen. Generell sind Menschen, die in unserer Gesellschaft marginalisiert sind und einer Minderheit angehören, einem erhöhten Risiko ausgesetzt, in Einsamkeit abzurutschen.
Sie forschen seit 14 Jahren zur Einsamkeit. Die Einsamkeitsforschung unterscheidet zwischen emotionaler und sozialer Einsamkeit. Können Sie den Unterschied erklären?
Was ist unter Einsamkeit im Allgemeinen zu verstehen? Das ist ein negatives Gefühl, das entsteht, wenn die sozialen Beziehungen und Kontakte nicht unseren Wünschen und Bedürfnissen entsprechen. Der Begriff emotionale Einsamkeit bezieht sich auf das Fehlen einer engen Bezugsperson, einer Person, der wir uns anvertrauen können. Soziale Einsamkeit bezieht sich hingegen auf das Fehlen eines sozialen Netzwerks, zum Beispiel einer Gruppe von Freunden und damit der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft.
Schließt das auch das Fehlen eines Zugehörigkeitsgefühls zu einer bestimmten Gruppe mit ein?
Hier würde man von kollektiver Einsamkeit sprechen. Der Begriff bezieht sich auf ein diffuseres Zugehörigkeitsgefühl, etwa darauf, wenn sich jemand nicht zu einer Gemeinschaft zugehörig fühlt und sich etwa in seiner Nachbarschaft fehl am Platz fühlt und möglicherweise auch in der Gesellschaft insgesamt.
Freundschaft und enge soziale Beziehungen sind Faktoren, die dem Gefühl der Einsamkeit entgegenwirken können. Warum kann es Menschen schwerfallen, aus dem Zustand herauszufinden?
Das ist tatsächlich eine ganz spannende, offene Frage. Wir beobachten zunächst einmal, dass die meisten Menschen im Laufe ihres Lebens irgendwann einsam sind. Das gehört zum Leben dazu. Manchmal ist das ein kurzer Moment, manchmal kann der Zustand über ein paar Wochen anhalten. Gerade wenn man größere Umbrüche erlebt hat. Die allermeisten Menschen scheinen aus der Einsamkeit wieder herauszukommen. Es gibt jedoch auch diejenigen, die das nicht schaffen und chronisch einsam werden. Die Betroffenen geraten in eine Abwärtsspirale hinein, was zur Folge hat, dass sie nicht mehr motiviert sind, auf andere zuzugehen. Ganz im Gegenteil, sie verlieren das Vertrauen in andere Menschen, werden misstrauisch und denken, dass andere Menschen einem nichts Gutes wollen. Das führt dazu, dass man sich noch stärker zurückzieht. Natürlich hilft das nicht, sich aus der Einsamkeit heraus zu kämpfen. Die interessante Frage ist: Wer gerät in diese Spirale hinein und wer schafft es aus eigener Kraft, die Einsamkeit zu bekämpfen? Das wissen wir in der Tat noch nicht, daran forschen wir jedoch aktiv.
Ein Merkmal von Einsamkeit ist, dass sie mit einem Bewertungsmechanismus zusammenhängt. Also dass wir unsere sozialen Kontakte qualitativ nicht gut bewerten. Was können wir daraus schlussfolgern?
Wir neigen dann dazu unsere Umwelt verzerrter wahrzunehmen und negativer, misstrauischer zu bewerten. Was können wir daraus schließen? Das bedeutet vor allem: Wenn man Menschen helfen möchte, die schon längere Zeit einsam sind, muss man an dieser Spirale ansetzen. Genauer: Man muss an diesen Bewertungsmechanismen und Verzerrungen, unter denen diese Menschen leiden, ansetzen und sie bearbeiten. Die kognitive Verhaltenstherapie, eine Variante der Psychotherapie, verfügt über gute Methoden, wie man da vorgehen kann. Zwar funktioniert das gut, aber es ist nur ein Ansatz, den man verfolgen muss. Es reicht eben nicht, chronisch einsame Menschen mit anderen Menschen zusammenzubringen. Das Problem dabei ist, dass sie sich oft gar nicht auf diese Menschen einlassen können.
Gemeinhin wird Einsamkeit mit einem höheren Lebensalter assoziiert. Doch die Studie „Einsamkeit unter Jugendlichen in Nordrhein-Westfalen nach der Pandemie“ unter Ihrer Leitung im Auftrag der Staatskanzlei NRW zeigte, dass auch junge Menschen davon betroffen sind. Was sind die wichtigsten Ergebnisse?
Es ist ein Befund, auf den wir auch in anderen Studien stoßen, dass junge Menschen heutzutage deutlich mehr von Einsamkeit betroffen sind als es vor der Pandemie der Fall war. Inzwischen gehören sie zu einer der am stärksten betroffenen Altersgruppen überhaupt. Klassischerweise war für ältere Menschen, vor allem für die Hochaltrigen, Einsamkeit ein großes Thema. Verschiedene Faktoren, wie wegbrechende soziale Netzwerke infolge von Tod und gesundheitliche Einschränkungen können zur Einsamkeit beitragen. Die jüngeren Menschen jedoch hat man in der Forschung und in Maßnahmen gegen Einsamkeit bisher immer etwas stiefmütterlich behandelt. Ein Hauptergebnis unserer Studie ist, dass unter den jungen Menschen Einsamkeit weit verbreitet ist. Auch nach der Corona-Pandemie ist es immer noch ein verstärktes Problem bei jungen Menschen.
Welche Schlüsse sollten die politisch Verantwortlichen daraus ziehen?
Klar ist, dass Einsamkeit ein Thema für die Politik ist. In den letzten Jahren hat sich einiges getan. Auf allen Ebenen gibt es Politikerinnen und Politiker, die sich diesem Thema angenommen haben. In NRW macht das Ministerpräsident Hendrik Wüst schon sehr lange. Die noch amtierende Bundesregierung hat im Dezember 2023 eine Strategie gegen Einsamkeit verabschiedet. Das EU-Parlament beschäftigt sich damit, denn Einsamkeit ist ein Thema in fast allen EU-Ländern. Wir müssen auf jeden Fall die Bevölkerung für das Thema stärker sensibilisieren, wir sollten den Menschen ermöglichen, darüber zu sprechen. Wir brauchen eine bessere Datenlage, denn wir können immer noch sehr viele Fragen gar nicht beantworten. Außerdem brauchen wir gute Maßnahmen und Angebote für vereinsamte Menschen. Das Kompetenznetz Einsamkeit hat zum Beispiel eine Karte erstellt, wo alle vorhandenen Angebote in den Bundesländern und Kommunen eingetragen sind. Fakt ist aber, dass sich die meisten dieser Angebote an ältere Menschen richten. Dazu kommt, dass die meisten Angebote bisher nicht wissenschaftlich evaluiert wurden. Deshalb wissen wir auch nicht, ob sie wirklich funktionieren.
Können Ihrer Einschätzung nach neuere Hilfsansätze wie zum Beispiel digitale Angebote der Sozialarbeit dabei helfen, vereinsamte Menschen zu erreichen?
Grundsätzlich finde ich die Tatsache, dass es solche Hilfsangebote gibt, gut. Natürlich muss man in den digitalen Raum gehen, denn dort trifft man die Menschen heutzutage.
Laut aktuellem Einsamkeitsbarometer des Bundesfamilienministeriums und des Kompetenznetzes Einsamkeit ziehen sich in der deutschen Bevölkerung Einsamkeitsbelastungen durch alle Altersgruppen. Allerdings zeigen die Daten, dass Frauen höher belastet sind als Männer. Woran liegt das?
Dazu muss man sagen: Der Unterschied ist sehr klein, aber viele andere Studien finden das nicht. Im Gesamten kann man sagen: Ja, in dieser Studie kam heraus, dass Frauen stärker belastet sind als Männer. Aber in anderen Studien findet man genau den gegenteiligen Effekt. Auf eine Besonderheit möchte ich in diesem Zusammenhang hinweisen: Frauen sind vermutlich generell eher bereit zuzugeben, wenn es ihnen schlecht geht. Wenn in einem Fragebogen steht, wie oft sich eine befragte Person einsam fühlt, kann es sein, dass Frauen eher angeben, dass das auf sie zutrifft. Männer dagegen würden diese Frage verneinen.
Wer dauerhaft einsam ist, hat ein höheres Risiko, an Herzerkrankungen, Depressionen oder Demenz zu erkranken. Die Bundesregierung will Betroffene besser unterstützen und Vereinsamung vorbeugen, etwa durch mehr Forschung und Therapieplätze. Wie bewerten Sie diese Strategie?
Vorab zur vollen Transparenz: Ich bin Mitglied im Beirat des Kompetenznetzes Einsamkeit, in dem die Strategie der Bundesregierung gegen Einsamkeit in verschiedenen Entwürfen diskutiert wurde. Deswegen enthält die fertige Strategie teilweise Positionen, zu denen ich intern meine Meinung gegeben habe. Alles in allem befürworte ich die Strategie sehr. Ich denke, dass viele gute Ideen da drin stecken. Mein Hauptproblem ist, dass sie nicht finanziell unterstützt wird. Teilweise sind dort Angebote aufgelistet, die ohnehin bestehen. Von Vornherein wurde klargestellt, dass man ohne zusätzliche finanzielle Mittel auskommen muss. Einerseits ist das verständlich, weil es die Haushaltslage nicht hergibt. Die Strategie wurde ungefähr zu dem Zeitpunkt verabschiedet, als das Bundesverfassungsgericht urteilte, dass der zweite Nachtragshaushalt 2021 verfassungswidrig sei. Trotzdem heißt das: Die Strategie konnte letztlich nicht so umgesetzt werden, wie sie müsste, um erfolgreich zu sein. Man kann viel erreichen mit ehrenamtlichem Engagement, nicht alles muss zusätzliches Geld kosten, aber manche Dinge eben schon.
Aktuell forschen Sie an Einsamkeit im Arbeitskontext. Unter anderem soll es um Präventionsmöglichkeiten gehen. Wie kann ich mir das Vorgehen in diesem Forschungsprojekt vorstellen?
Grundsätzlich werden in der Strategie der Bundesregierung und im Abschlussbericht der Enquete-Kommission „Einsamkeit“ in NRW von 2022 die Unternehmen als ein Bereich unserer Gesellschaft genannt, der auch Verantwortung für Einsamkeit übernehmen muss. In den Unternehmen selbst ist allerdings das Thema Einsamkeit bisher kaum angekommen. Wir stellen uns im Projekt die Frage: Schützt Arbeit vor Einsamkeit oder kann sie zur Einsamkeit beitragen? Wir gehen von der Grundannahme aus, dass beides zutreffen kann. Wenn man so viel arbeitet, dass in der Freizeit keine Zeit bleibt, um Freunde zu treffen, müsste das allmählich zur Einsamkeit führen. Wenn man wiederum am Arbeitsplatz Freunde findet, kann einen das vor Einsamkeit schützen. Wir sehen das als ein spannendes, komplexes Thema. Allerdings stehen wir noch ganz am Anfang, gerade erst haben wir begonnen, die ersten Daten zu analysieren.
Heißt das, Sie gehen auch auf die Unternehmen zu?
Wir möchten erst einmal besser verstehen, wie der Zusammenhang ist. Vorher können wir nicht auf Unternehmen zugehen und ihnen sagen, was sie zu tun und zu lassen haben. Wir wissen im Moment zu wenig über den Zusammenhang zwischen Einsamkeit und Arbeit. Langfristig hoffen wir, dass die Ergebnisse dazu beitragen können, im Bereich Prävention den Unternehmen etwas an die Hand zu geben. An diesem Punkt sind wir aber noch lange nicht. Das wird noch einige Jahre dauern.