Der Publizist Michel Friedman hat die Situation der liberalen Demokratien als „sehr ernst“ bezeichnet. Zwei Tage nach unserem Interview trat er aus der CDU aus und sprach von einer „katastrophalen Zäsur für die Demokratie“.
Herr Friedman, wie viel Angst müssen wir um Deutschland haben?
Die Situation der liberalen Demokratien ist sehr ernst, auch die der deutschen. Der Angriff sowohl von autoritären und diktatorischen Staaten einerseits als auch der antidemokratischen Parteien andererseits, sei es die Partei von Le Pen in Frankreich oder auch in anderen Ländern, wo Russland sehr viel Geld investiert, um zu zerstören, ist erheblich. In den nächsten wenigen Jahren wird sich zeigen, ob diese Bedrohungen zurückgewiesen werden können oder nicht. Es ist sichtbar, dass diese (Bundestags-)Wahl eine Generalprobe wird. Alleine dass wir im Vorfeld bereits wissen, dass jeder fünfte Deutsche eine demokratiefeindliche Partei wählt, die auch europafeindlich ist, die rassistisch ist, die antisemitisch ist, zeigt uns letztlich, wie gefährdet Demokratie auch in Deutschland 2029 (Anmerkung: Am Ende der nächsten Legislaturperiode) sein könnte.
Sie haben zum Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus und 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz eindringliche Worte gefunden. Warum sind wir so anfällig 80 Jahre danach?
Wir haben bei der Gründung der Bundesrepublik Deutschland einen Rasen der Demokratie von außen geschenkt bekommen. Aber wie weit der auf dem braunen Unterboden bereits eine Verwurzelung hat oder ob sich dieser braune Unterboden, der immer auch ein antidemokratischer ist, noch dagegen wehrt, ist die Ambivalenz, die wir in unserer Gesellschaft seit der Befreiung von Auschwitz jeden Tag erlebt haben. Es ist ja nicht so, dass der Rechtsextremismus erst in den letzten Jahren sichtbar wurde. Er war immer da, er war immer auch in allen gesellschaftlichen Schichten sichtbar, wie auch der Judenhass, der nie aufgehört hat. Aber die Hoffnung, die wir in großen Teilen der Gesellschaft über Jahrzehnte hatten, dass sich dieser demokratische Rasen vertieft, verstärkt, wächst und auch Wurzeln zieht, dass er nicht so leicht wieder rausreißbar ist, hat jetzt eine erhebliche Bewährungsprobe: Wir sehen offen und schamfrei diese Auseinandersetzung und ich glaube, das ist gut so. Diese Auseinandersetzung wird aber nicht gewonnen, weil wir die Antidemokraten zurückdrängen, sondern die wird nur gewonnen, wenn wir auf diesem demokratischen Boden stehen wollen und das mit großer Energie, Glaubwürdigkeit und Handlung beweisen. Es ist eine große Irritation, wenn wir die große Leidenschaft der Demokratiezerstörer sehen und die gehemmte Leidenschaft und Gleichgültigkeit der Demokraten.
Sie haben die Frage aufgeworfen: Wir reden über die 20 Prozent, was aber ist mit den anderen vier Fünftel unserer Gesellschaft? Was fehlt?
Es fehlt an Streitkultur. Es fehlt an Umsetzung des sehr anstrengenden Gedankens: Jeder ist jemand. Vorurteile sind ein Teil unseres Bewusstseins. Und wir müssen uns ein ganzes Leben lang überprüfen, um uns von den Vorurteilen zu befreien. Was Antidemokraten machen: Sie stärken die Vorurteile, sie suchen Sündenböcke, sie versuchen, die Angst zu verstärken, sie suchen sich klassische Minderheiten, um denen Schuld zuzuweisen. Und dieser Mechanismus funktioniert in den letzten Jahren nicht nur in Deutschland, sondern in allen Demokratien, zum Teil deutlich stärker als früher. Mit anderen Worten: Wir brauchen eine große Anstrengung. Statt immer nur auf Antidemokraten zu reagieren, müssen wir uns wieder in Aktion zu bringen, wir brauchen eine Handlungsbefreiung. Das ist die Aufgabe der politischen Parteien, das ist die Aufgabe der Gesellschaft, und das ist Aufgabe von Regierungen. Und man muss feststellen: Wir haben diese Aufgabe in den letzten Jahren nicht erfüllt, sonst wären wir nicht dort, wo wir heute sind.
Sie haben betont: Sie sprechen als jüdischer Mensch, aber vor allem sprechen Sie als Mensch. Ist das die Kernbotschaft?
Das ist das Grundverständnis einer humanistischen, den Menschenrechten und der Aufklärung verpflichteten Gesellschaft. Die Vereinbarung ist das Apriori des Menschen, das von keinem Menschen mehr infrage gestellt werden kann. Wir sind alle Menschen, das beinhaltet auch die Vielschichtigkeiten der Identitäten. Aber der Mensch an sich ist nicht mehr bewertbar, unabhängig von dieser Identität. Wir müssen uns endlich wieder anstrengen – und es ist anstrengend, sich immer wieder daran zu erinnern, dass wir dieses Prinzip Mensch als unverhandelbar, als Grundlage der Demokratie und unseres persönlichen Lebens nehmen. Das bedeutet: Wenn ein Mensch angegriffen wird, weil er ein schwuler Mensch ist, ein farbiger Mensch ist, ein weiblicher Mensch ist, dann ist der Grund, warum wir intervenieren, dass wir uns als Menschen versprochen haben, uns zu beschützen, wenn wir, aus welchen Gründen auch immer, als Mensch angegriffen sind. Und deswegen will ich keine Solidarität gegenüber dem Judentum oder den jüdischen Menschen, wenn ein antisemitischer Vorfall stattfindet, sondern ich will, dass wir uns als Menschen schützen, dass wir uns vor den Menschen stellen, der Jude ist genauso wie vor den Menschen, der katholisch ist, den Menschen, der schwul ist, oder den Menschen, der aus welchen Gründen auch immer diskriminiert ist. Aber der erste Impuls ist: Ich stelle mich als Mensch zum Menschen.
Sie bezeichnen sich selbst als „verzweifelten Optimisten“, der mehr Optimist als verzweifelt ist. Woher nehmen Sie diesen Optimismus?
Solange mich ein Mensch auf dieser Welt beeindruckt, weil er dem Menschlichen folgt, unter Umständen sogar sein Leben riskiert, werde ich nicht aufhören, Optimist zu sein und zu versuchen, in diesem Optimismus den Menschen im Vertrauen zu begegnen. Und auf dieser Welt gibt es mehr als einen Menschen, der die Voraussetzung erfüllt. Das heißt aber nicht, dass ich naiv bin, das heißt nicht, dass ich nicht wüsste, wo ich lebe. Aber letztendlich gibt es immer wieder Kinder und junge Menschen und die Aufgabe, ihnen Kraft zu geben und Zuversicht. Wir sind nicht hilflos. Wir tun nur so als ob, damit wir uns nicht anstrengen und auf den Weg machen müssen.