Der Vormensch Lucy ist nach einem Beatles-Song benannt. Vor genau 50 Jahren wurde sie entdeckt. Lucy und weitere Fossilfunde zeigen: Die „Wiege der Menschheit“ steht in Äthiopien.
Gewöhnlich werden solche Unfälle als tragisch bezeichnet: Eine weibliche Person, mit 25 Jahren viel zu jung zum Sterben, klettert auf einen hohen Baum. Vielleicht will sie an dessen Früchte kommen oder an die Eier in Vogelnestern. Oder sie will sich auf dem Baum vor Raubtieren schützen und dort in einer Astgabel die Nacht verbringen. Doch sie verliert den Halt und stürzt.
Sie fällt, bestimmt zwölf Meter tief, schlägt mit den Füßen zuerst auf, trägt massive Brüche an Hüfte, Knie und Schienbein davon. Dann fällt sie nach vorne, versucht, sich mit den Armen abzufangen, wie schwere Verletzungen am rechten Oberarmknochen zeigen. Sie stirbt, mutmaßlich an ebenfalls erlittenen inneren Verletzungen.
So rekonstruiert der amerikanische Paläoanthropologe John Kappelman den Tod einer zierlichen Dame, die in Äthiopien fast jedes Kind kennt. „Dinkenesh“ wird sie in ihrer Heimat stolz genannt, das heißt „du Wunderbare“. Im Rest der Welt ist sie besser bekannt unter dem Namen „Lucy“.
Gerade mal 30 Kilogramm leicht
30 Kilogramm leicht, einen Meter klein, ist Lucy die berühmteste Vertreterin des Vormenschen Australopithecus afarensis. Dieser ähnelt in der Physiognomie einem Schimpansen, doch einige Merkmale sind bereits menschlich: Hüft- und Beinknochen sind so gestaltet, dass man davon ausgehen kann, dass Lucy und ihre Artgenossen vor rund drei Millionen Jahren bereits aufrecht gingen. Außerdem benutzten diese Vormenschen möglicherweise bereits scharfe Steine als Werkzeuge zum Schneiden von Fleisch.
Der US-Paläoanthropologe Donald Johanson fand Lucys Knochen im November 1974 bei Hadar in der Region Afar. Fast 40 Prozent ihres Skeletts sind erhalten, darunter Hüfte, Becken, Arme, Rippen und Teile des Schädels: Das macht den Fossilfund so besonders.
Im Überschwang des Fundes tanzte Johansons Team zu einer Beatles-Kassette und schmetterte den Song „Lucy in the sky with diamonds“ in die Wüstennacht. Seither heißen die Skelettreste „Lucy“ und Äthiopien gilt als die Wiege der Menschheit.
„Für die Menschen im Land ist Lucy eine Art Ikone“, sagt der äthiopische Anthropologie-Professor Berhane Asfaw. Sicherlich hat das auch damit zu tun, dass Äthiopien im Bewusstsein der Weltöffentlichkeit lange nur als Katastrophen- und Hungerland wahrgenommen wurde. Lucy und weitere Funde in der Afar-Region gaben den Äthiopiern einen unerwarteten Grund, stolz zu sein auf ihr Land. „Lucy hat eine Botschaft, die alle kulturellen Barrieren überwindet“, sagt ihr Entdecker Johanson. „Sie beweist, dass die Menschen auf der Welt den gleichen Ursprung haben.“
Der Nordosten von Äthiopien war offenbar über Jahrmillionen ein Hotspot für die Entwicklung der Urmenschen. Dort boten sich den Zweibeinern über Jahrtausende viele natürliche Ressourcen mit Wäldern, üppigem Grasland, Seen. Heute dagegen ist die Afar-Region vielerorts eine der lebensfeindlichsten Gebiete der Welt. Nur Hirten durchstreifen mit ihren Herden die sengende Hitze der Savannen und Halbwüsten. Ihre Kinder sind durch Dürren immer wieder gefährdet.
Bislang gibt es nur eine Hypothese
In diesem heißen und trockenen Klima suchen Paläontologen aus aller Welt nach weiteren Puzzleteilen der menschlichen Evolution. Am Grabungsort Ledi-Geraru, nur 30 Kilometer von der Lucy-Fundstelle entfernt, wurde dann auch im Jahr 2013 ein Kieferknochen gefunden. Für Laien sieht er unscheinbar aus, doch in der Fachwelt löste das 2,75 Millionen Jahre alte Fragment namens „LD 350-1“ ein Raunen aus: Es zeigt einerseits morphologische Merkmale, wie sie für die Lucy-Artgenossen typisch sind. Andererseits erinnert die Morphologie der Zahnkronen an die Gattung Homo. Und im Kiefer stecken keine zwei Backenzähne wie bei Lucys Art, sondern drei – wie bei modernen Menschen. Haben die Forscher hier ein Bindeglied gefunden zwischen dem Vormenschen Australopithecus afarensis und den Urmenschen der Gattung Homo? Bislang ist das nur eine Hypothese.
Sicher aber erscheint den Wissenschaftlern: In den jüngsten 300.000 Jahren entwickelte sich eine neue Spezies, die der Erde radikale Veränderungen brachte. Diese Spezies lernte Feuer zu machen, erfand das Rad, schaffte es sogar zu fliegen: Natürlich ist die Rede vom Homo sapiens, dem Menschen. Dass dieser in Äthiopien früh zugange war, zeigen Schädelfragmente aus der Afar-Region, die 160.000 Jahre alt sind und als „Homo sapiens idaltu“ benannt wurden – „idaltu“ bedeutet in der Sprache der Afar-Hirten „Stammesältester“.
Vor rund 80.000 Jahren verließen erstmals Artgenossen des modernen Menschen den afrikanischen Kontinent und verbreiteten sich im Laufe der Jahrtausende über die Erde – so die bisherige Lehrmeinung. Aber Anfang 2018 berichteten Wissenschaftler von einem Kieferfund in einer Höhle in Israel, der Homo sapiens zuzuordnen und 180.000 Jahre alt sei. Ist der Zeitpunkt des Zuges „out of Africa“ auch noch ungewiss, erscheint als gesichert, dass alle Menschen rund um die Welt Migranten und Einwanderer sind. Oder, wie es Lucy-Finder Donald Johanson formulierte: „Wir sind alle Afrikaner.“