Menschen mit Down-Syndrom sind ein fester Teil unserer Gesellschaft, dennoch muss die Akzeptanz für genetisches Anderssein ausgebaut werden, sagt der Humangenetiker Prof. Dr. Wolfram Henn vom Uniklinikum Homburg. Ein Interview über den Paradigmenwechsel in der Pränataldiagnostik und Vorwürfe an betroffene Eltern.
Herr Prof. Henn, Sie sind Humangenetiker, waren lange Zeit Mitglied des Deutschen Ethikrates und leiten am UKS in Homburg die Genetische Beratungsstelle. Wie beurteilen Sie als Genetik-Experte Trisomie 21 aus medizinethischer Sicht?
Menschen, die mit Down-Syndrom zur Welt gekommen sind, sind einzigartig wie alle anderen und haben die gleichen Rechte wie Menschen ohne genetische Besonderheiten. Es geht darum, ihnen genau dasselbe zu ermöglichen wie anderen Menschen auch, nämlich optimale Lebensperspektiven im medizinischen und sozialen Sinn. Außerdem gilt es, den gleichen Anspruch auf Respekt durchzusetzen wie bei jedem anderen Menschen auch.
Was können werdende Mütter tun, wenn ihnen wider eigenen Willen nahegelegt wurde, ihr Kind mit Trisomie 21 nicht zur Welt zu bringen?
Das wäre völlig inakzeptabel, wenn ein Arzt oder eine Ärztin eine werdende Mutter dazu drängen würde, eine Schwangerschaft mit einem Kind mit Down-Syndrom abzubrechen. Das wäre unzulässig und ist bei uns auch kein reales Thema. Ganz wichtig ist, zunächst in oder vor einer Schwangerschaft sich darüber klar zu werden, ob man das wirklich wissen will. Auch das Recht auf Nichtwissen ist ethisch und rechtlich garantiert. Und niemand kann und darf unter Druck gesetzt werden, eine vorgeburtliche Untersuchung durchzuführen. Immer wieder geraten Elternpaare durch den Befund eines Herzfehlers im Ultraschall in eine Situation, in der sie klären wollen, was die Ursache des Herzfehlers ist. Denkbar sind drei Ursachen: ein isolierter vorgeburtlicher Herzfehler, ein Herzfehler assoziiert mit Trisomie 21 und ein Herzfehler in Zusammenhang mit einer nicht überlebensfähigen anderen Chromosomen-Störung.
Welche anderen Chromosomen-Schäden können das sein?
Ein vorgeburtlicher Herzfehler kann bei einer Trisomie 13 vorkommen. Diese Chromosomen-Störung ist in aller Regel nicht mit einem längeren Überleben des Kindes nach der Geburt vereinbar. Das ist eine völlig andere Situation als bei Trisomie 21.
Inwiefern wird auf schwangere Frauen, die ein Kind mit Beeinträchtigung gebären möchten, auch sozialer, gesellschaftlicher Druck ausgeübt?
Hier muss man zwischen dem sozialen Klima und den individuellen Gegebenheiten unterscheiden. Eine Frau – und da kann ich zumindest im Saarland für alle sprechen –, der vorgeburtlich die Diagnose Down-Syndrom gestellt wird, wird nicht allein gelassen. Ärztinnen und Ärzte werden mit ihr sprechen. Im Übrigen ist eine genetische Beratung im Zusammenhang mit einer vorgeburtlichen Untersuchung verpflichtend. Auch ist der Weg zu erfahrenen Eltern nicht weit. Die Möglichkeit ist gegeben, dass sich Eltern eines werdenden Kindes mit Down-Syndrom mit Eltern eines vorhandenen Kindes mit Down-Syndrom über ihre Erfahrungen austauschen.
Wird dieser Austausch am UKS vermittelt, also findet eine Vernetzung mit Vereinen statt?
Genau. Der Verein „Saar 21 Down-Syndrom Saarland“, in dem ich selbst Mitglied bin, ermöglicht einen Austausch mit betroffenen Eltern.

Ist trotzdem ein gesellschaftlicher Druck spürbar?
Das ist ein wenig paradox. Man erlebt schon seit langer Zeit, dass ein geborenes Kind mit Down-Syndrom durchaus akzeptiert ist. Seine Lebensperspektiven nach der Geburt sind viel besser als vor 50 Jahren. Umgekehrt ist das gesellschaftliche Klima gegenüber zu erwartender Behinderung negativ. Leider werden Eltern eines Kindes mit Down-Syndrom oft mit dem Vorwurf konfrontiert, warum sie diese Behinderung nicht vermieden hätten. Das halte ich für zynisch.
Wer richtet den Vorwurf an die Eltern von Kindern mit Down-Syndrom?
Die Aggression richtet sich eher unspezifisch aus der Gesellschaft heraus an die Eltern des Kindes. Den Vorwürfen begegnet man eher im Alltag, zum Beispiel auf dem Parkplatz vor einem Supermarkt.
2012 äußerten Sie die Befürchtung, dass der Blut-Test auf Trisomie 21 zu einem Paradigmenwechsel in der Pränataldiagnostik führen könnte. Ist die Befürchtung eingetreten?
Ein Stück weit ist die Befürchtung eingetreten. Wir haben in jeder Schwangerschaft den Katalog der empfohlenen, schwangerschaftsbegleitenden Maßnahmen. Der nicht-invasive Pränataltest am Blut der Schwangeren ist kein Gegenstand der allgemein empfohlenen Mutterschaftsrichtlinien. Inzwischen ist er dennoch eine normale kassenärztliche Leistung. Da sehe ich nun ein Problem: Es muss klar abgegrenzt werden, dass das eben keine Leistung ist, mit der man etwas versäumt, wenn man sie nicht in Anspruch nimmt.
Wie begründen Sie die Tatsache, dass viele schwangere Frauen den Blut-Test in Anspruch nehmen?
Ganz allgemein: Was in der Medizin nichts kostet, macht man halt. Oft wird dabei zu wenig über die Konsequenzen nachgedacht. Wenn ich noch einmal auf die Trisomie 13, also eine Chromosomen-Störung mit geringer Überlebensperspektive, zurückkomme: Die ethische Schwierigkeit, sich für einen Schwangerschaftsabbruch zu entscheiden, scheint nicht so groß wie beim Down-Syndrom. Es ist fast paradox: Je schwerer die Schädigung ist, desto leichter fällt die ethische Entscheidung.
Inwiefern hat teilweise dieser Blut-Test auf Trisomie 21 Ihrer Einschätzung nach zu einem Paradigmenwechsel in der Pränataldiagnostik geführt?
Die Hemmschwelle gegenüber einer vorgeburtlichen Untersuchung auf das Down-Syndrom ist zurückgegangen. Bevor es diesen Test gegeben hat, war eine vorgeburtliche Untersuchung auf Chromosomen-Störungen – das Down-Syndrom ist nur eine davon – immer mit einem Eingriff verbunden. Weil die Fruchtwasseruntersuchung mit einem gewissen Komplikationsrisiko einhergeht, haben viele Eltern davor zurückgeschreckt. Ab dem Zeitpunkt, wo ein kostenloser, risikoloser Blut-Test zur Verfügung steht, nimmt die Inanspruchnahme logischerweise zu. Doch nicht alle Eltern sind auf die möglichen Ergebnisse vorbereitet.
Wie erklären Sie sich unseren Hang, den menschlichen Genen Prädikate wie „gut“ und „schlecht“ zuzuschreiben?
In meinen Vorlesungen fasse ich das in einem Satz zusammen: Je mehr man von Genetik versteht, desto weniger ist man von der beschriebenen Macht der Gene überzeugt. Das, was einen als Persönlichkeit ausmacht, ist nur zu einem geringen Teil von den Genen bestimmt. Der Mensch neigt generell dazu, auf schwierige Fragen eine einfache Antwort zu bekommen. Das ist auch die Quelle des Populismus in der Politik.
Was braucht es, um die Toleranz und Akzeptanz gegenüber genetischem Anderssein, insbesondere Menschen mit Down-Syndrom, zu steigern?
Zuallererst das Wissen, dass wir alle nicht genetisch perfekt sind. Es gibt einen ebenso plumpen wie richtigen Genetiker-Spruch: Such nur lang genug, dann findest Du bei jedem irgendwas. Ganz viel an unserer Zukunft ist – gesundheitlich gesehen – in imperfekten Genen angelegt. Doch was man selbst nicht hat, darf man von anderen nicht einfordern. Im sozialen Miteinander ist Offenheit angesagt – sowohl aufseiten der Betroffenen als auch der Nicht-Betroffenen. Auf jeden Fall sollten wir eine Spirale der sozialen Verunsicherung vermeiden. Wir brauchen gelebte Inklusion, Kinder mit Down-Syndrom sollten in Kindergärten mit anderen Kindern betreut werden und selbstverständlich am öffentlichen Leben teilhaben.