Die Erwartungshaltungen gegenüber der neuen Bundesregierung sind „riesig“, sagt Annegret Kramp-Karrenbauer, ehemalige CDU-Vorsitzende und Verteidigungsministerin. Das gelte sowohl im Land selbst als auch für die europäischen Nachbarn. Gefordert sei jetzt „politisches Handwerk, das Ergebnisse zeigt“.

Frau Kramp-Karrenbauer, vor dem Hintergrund der globalen Veränderungen steht die Forderung im Raum: „Europa neu denken“. Wenn man auf die Anfänge vor 75 Jahren zurückblickt mit dem sogenannten Schuman-Plan, bräuchte man sich doch eigentlich nur daran zu orientieren?
Ich würde sagen teils-teils. Im historischen Kontext ist das, was Schuman gedacht hat, natürlich neu gewesen. Insofern braucht es auch heute den Mut, in dieser Art neu zu denken. Der Ansatz von Schuman – große Vision und gleichzeitig Anleitung zur pragmatischen Umsetzung – ist sicherlich ein Erfolgsrezept, auf das man sich zurückbesinnen sollte.
Der französische Präsident Emmanuel Macron hatte schon bei der ersten Amtszeit von US-Präsident Trump (sinngemäß) gesagt: Eigentlich ein Glücksfall für Europa, dann wachen wir endlich auf. Um wie viel mehr gilt das jetzt für Trump 2.0?
Viele haben bei der ersten Präsidentschaft gedacht, das ist jetzt einmal passiert. Danach kam dann ja auch mit Präsident Biden wieder das vermeintlich gute alte Amerika zurück. Trump 1 war ein anderes Kaliber als Trump 2.0, weil er damals vergleichsweise schlecht vorbereitet in das Amt ging. Die Republikaner standen nicht gänzlich unter seiner Kontrolle, und um ihn herum waren auch Personen, die in entscheidenden Momenten Widerstand leisten konnten und das auch getan haben. Daraus hat er seine Lehren gezogen, er hat sich sehr gut vorbereitet. Die Republikaner stehen unter seiner Kontrolle und er hat sich mit Loyalisten umgeben. Ein Kommentator in den USA hat gemeint: Trump 1 war noch Administration, Trump 2.0 hat die Struktur eines Hofstaates. Da ist etwas dran.
Trump hat nach seinen ersten hundert Tagen gesagt, er sehe sich als Herrscher der USA – und der Welt. Beschreibt so ein Satz die Herausforderungen?
Das beschreibt, was er auch sehr offen gesagt hat, nämlich dass es ihm darum geht, das Regime, wie er es nennt, also das System zu verändern. Und das meint er nicht nur bezogen auf die Vereinigten Staaten selbst. Dort drückt sich das aus in den Konflikten mit den Verfassungsorganen, zum Beispiel der unabhängigen Justiz, und den ganzen brachialen Umgestaltungen durch seine Administration. Er will aber auch das Regime der internationalen Ordnung ändern. Eine Ordnung, die ja gerade auch durch Amerika nach dem Zweiten Weltkrieg mit aufgebaut worden ist und die er jetzt, Beispiel Freihandel, zerstören will, weil er der Meinung ist, sie diene nicht den Interessen der Amerikaner. Insofern ist sein Blick nicht nur auf Amerika gerichtet, sondern darüber hinaus. Hinzu kommt, dass Amerika als Supermacht der Welt so groß und wichtig ist, dass bei allem, was dort passiert, das immer auch Auswirkungen auf die internationale Gemeinschaft und andere Länder hat.
Nun weisen viele darauf hin, dass Europa – ich sage bewusst nicht „die EU“ – keinen Grund hat, sich zu verstecken.
Ja, in einigen Punkten sind wir gut aufgestellt. Wir haben eine Marktmacht von 500 Millionen Menschen, die wir auch einsetzen können. Wir haben in den letzten Jahren auch Hausaufgaben gemacht, wir haben Freihandelsabkommen, die jetzt auch schützen, und wir haben Innovation auch in Europa. Da findet zwar im Moment vieles in den USA und China statt, trotzdem haben wir auch vieles, das wir vorantreiben. Eine unserer großen offenen Flanken ist das Thema Sicherheit, weil wir da im Nato-Verbund – und darauf konnten wir uns in der Vergangenheit immer verlassen – von den Amerikanern sehr stark abhängig sind. Da müssen wir unsere Hausaufgaben machen, damit die Lastenverteilung besser und gerechter wird, damit wir aber auch, falls die Amerikaner ihre Versprechungen in der Nato nicht mehr einhalten sollten, in der Lage sind, besser auf eigenen Beinen stehen zu können.
Über Fehler und Versäumnisse der Vergangenheit zu diskutieren, ist eigentlich müßig. Die Frage ist, wie es weitergeht. Die EU hat erstmals in der neuen Kommission einen eigenen Verteidigungskommissar. Geht das in die richtige Richtung?
Es geht in die richtige Richtung. Wir stehen jetzt möglicherweise vor entscheidenden Wochen. Es geht um die aktuellen Entwicklungen in der Ukraine, darum, ob es zu Friedensgesprächen kommt, und was das für die Unterstützung der Amerikaner bedeutet. Wir haben die Frühjahrstagung der Nato, wo es darum geht, wie auf Grundlage der Bedrohungsanalyse der Etat für die Zukunft aussieht, wer vor diesem Hintergrund was macht. Und wir haben auch in Europa Grundlagen gelegt, insbesondere nach dem Einmarsch der Russen in die Ukraine, die wir stärker nutzen sollten und müssen, wenn es darum geht, welche Waffensysteme wir brauchen, wie wir was entwickeln, wo wir kaufen, und dass wir das Europäische gemeinsamer tun, als wir es bisher getan haben.

Treibende Kräfte in Europa ist derzeit mit dem Vereinigten Königreich ausgerechnet ein Nicht-EU-Land, zusammen mit Frankreich, auch Polen macht sich deutlich stärker vernehmbar, wird auch mehr gehört als in der Vergangenheit. Welches Signal kommt von der neuen Bundesregierung, namentlich von Bundeskanzler Friedrich Merz und Verteidigungsminister Boris Pistorius?
Die Erwartungshaltung ist riesig. Es gab zunächst einmal eine große Erleichterung insbesondere mit Blick auf die Vereinbarung zum Verteidigungsetat. Viele auf der internationalen Ebene haben gesagt: Deutschland ist zurück und will ein aktiver Player sein. Die Erwartungshaltung ist ganz klar, dass insbesondere die Zusammenarbeit zwischen Frankreich, Polen und Deutschland unter Einbeziehung der Briten vorangetrieben wird. Italien sollte und darf man nicht außen vorlassen. Italien hat zurzeit sicherlich mit den besten Draht ins Weiße Haus. Insofern ist die Erwartungshaltung da und es wächst auch die Ungeduld, weil viele sagen, es wird jetzt Zeit, dass Deutschland endlich wieder eine handlungsfähige Regierung hat und die auch loslegt.
Und Friedrich Merz wird dann auch mit etwas Zeitverzögerung auf Macrons Vorstöße antworten?
Es deutet sich ja an, dass die beiden ein enges und gutes Verhältnis haben. Das sah man schon in den ersten Begegnungen, jedenfalls deutlich besser als das Verhältnis zwischen Emmanuel Macron und Olaf Scholz. Friedrich Merz steht in der europäischen Tradition derer, die vor ihm im Kanzleramt saßen, insbesondere von Konrad Adenauer und Helmut Kohl. Er weiß um die Bedeutung Europas gerade jetzt. Und er weiß, dass dabei die deutsch-französische Freundschaft eine besondere Rolle spielt.
Inwieweit spricht die Aufstellung der neuen Bundesregierung für eine stärkere europäische Orientierung?
Man sieht es daran, wie er sein Team im Kanzleramt aufbaut, und dass in dieser historischen Situation zum ersten Mal seit Jahrzehnten Kanzleramt und Auswärtiges Amt in Händen von Unionspolitikern sind. Die Außen- und damit auch die Europapolitik wird ein ganz großer Schwerpunkt sein, weil jedem klar ist, dass die Rahmenbedingungen, unter denen wir uns bewegen, enormen Einfluss haben auf die nationale Situation, auch auf die wirtschaftliche Situation: Und die werden im internationalen Kontext, im transatlantischen Verhältnis und in Europa gebaut. Deshalb ist das Chefsache, Kanzlersache.

Wir wissen, dass ein Nationaler Sicherheitsrat, der mehr ist als der bisherige Bundessicherheitsrat, im Kanzleramt angesiedelt wird, unter Federführung des Kanzleramtes. Deshalb ist das ein ganz klares Signal, dass auch Europapolitik im Kern des Handelns von Kanzler Friedrich Merz stehen wird. Das ist angesichts der Situation, die wir in Europa, aber auch im transatlantischen Verhältnis derzeit haben, absolut richtig so.
Sie haben von einem Zeitfenster gesprochen, das es jetzt gibt, auch vor dem Hintergrund von Wahlterminen. Das zielt auf Frankreich und die Präsidentschaftswahl 2027?
Das betrifft auch Frankreich. Deshalb ist es wichtig, dass Aktionen jetzt schnell erfolgen. Das betrifft aber auch Deutschland. Wir sehen ja die Umfragen mit den Ergebnissen für die AfD. Ich habe den Eindruck, dass viele Menschen sagen: Wir haben jetzt diese Regierung gewählt, haben ihr einen Vertrauensvorschuss gegeben. Aber wir sind skeptisch und wollen jetzt sehen, dass das Vertrauen auch gerechtfertigt ist. Das heißt, dass sie jetzt schnell Ergebnisse durch Regierungshandeln erwarten. Das wird in Frankreich nicht anders sein und insgesamt auf der europäischen Ebene. Im Übrigen: Wenn Donald Trump das Tempo der ersten hundert Tage beibehält, werden wir uns mit einem Tempo auseinandersetzen müssen, das uns zwingt, schnell auf diese Herausforderungen zu reagieren.
Die Erwartungshaltung der Menschen richtet sich ja nicht nur auf das Thema Sicherheit, sondern eigentlich auf alle Politikfelder, Stichwort: Es muss wieder alles gut funktionieren im Land.
Ja, das beschreibt die Herausforderung. Viele hadern, haben vielleicht auch das Vertrauen ein Stück weit verloren. Sie sehen zum Beispiel, dass sie steigende Beiträge zur Krankenkasse, zur Pflege leisten müssen, gleichzeitig erleben sie aber, dass sie länger auf Termine warten müssen, dass Leistungen nicht mehr so vorhanden sind. Das löst natürlich Fragen aus. Das Thema Infrastruktur ist ein Dauerthema, und vieles andere mehr. Was die Leute nicht wollen ist, dass sich die Streitigkeiten der Ampel fortsetzen. Was die Leute wollen, ist gutes politisches Handwerk, das Ergebnisse zeigt. Ergebnisse in Fragen der Sicherheit, aber auch Ergebnisse in den Bereichen, die sie täglich in ihrem Leben spüren. Da gibt es viele Herausforderungen. Ich hoffe sehr, dass alle Beteiligten, und damit meine ich nicht nur meine Partei, sondern wirklich alle in dieser Regierung, wissen, wie groß die Herausforderung ist und was die Stunde geschlagen hat.