Zur Halbzeit der Legislaturperiode sind drei Viertel des SPD-Regierungsprogramms umgesetzt beziehungsweise auf den Weg gebracht, obwohl seit Regierungsantritt die Rahmenbedingungen durch eine ganze Reihe von Krisen schwieriger geworden sind, sagt Regierungschefin Anke Rehlinger. Im Strukturwandel gebe es auch Rückschläge, am Ende komme es darauf an, „was wir daraus machen“.
Frau Rehlinger, wo steht das Land nach zweieinhalb Jahren SPD-Alleinregierung aus Ihrer Sicht?
Wir leben in einer sehr herausfordernden Zeit. Die letzten zweieinhalb Jahre waren geprägt von Krisen: Corona und die Folgen, Angriffskrieg in der Ukraine, das Ausbleiben russischer Gaslieferungen, Energiepreiskrise, Inflation, Terror und Krieg im Nahen Osten. Eine Liste von Krisen in kürzester Zeit, vieles gleichzeitig, die wir in der Nachkriegsgeschichte in Deutschland noch nicht erlebt haben. Die saarländische Landesregierung macht in dieser schwierigen Zeit verlässlich ihre Arbeit. Wir liefern und wir halten Wort. Wir haben jetzt schon zur Halbzeit drei Viertel aus dem SPD-Regierungsprogramm umgesetzt beziehungsweise auf den Weg gebracht. Und man darf nicht vergessen, dass diese Vorhaben formuliert worden sind vor Ukrainekrieg, vor Inflation, vor hohen Energiekosten. Und trotzdem ist es uns gelungen, wesentliche Punkte zu realisieren, die unser Land nach vorne bringen: Wir schaffen die Kitabeiträge ab, wir haben wichtige Ansiedlungen wie Vetter, Wolfspeed und Fricke hinbekommen, die Arbeitsplätze schaffen und auch unsere Wirtschaft breiter aufstellen abseits der großen Unternehmen, die schon hier sind. Keine Landesregierung zuvor hat so viel investiert in diesem Land. Und noch nie hat eine Landesregierung so viele Fördergelder aus Berlin und Brüssel ins Saarland geholt – 3,5 Milliarden Euro in dieser Legislaturperiode. Auch beim Ausbau der Erneuerbaren Energien kommen wir gut voran: Plus 58 Prozent Leistung in der Photovoltaik und plus acht Prozent in der Windkraft, das sind teilweise Spitzenplätze in Deutschland. Eines aber haben wir nicht geliefert: Streit. Und das unterscheidet uns von anderen, zum Beispiel in der Bundesregierung. Kein einziges Mal hat diese Landesregierung öffentlich gestritten. Die SPD-Landesregierung bietet klare Führung und schnelle Entscheidungen und dafür brauche ich als Koalitionspartner nur die Saarländerinnen und Saarländer.
Die Opposition sieht das anders und hat der SPD-Alleinregierung ein ziemlich vernichtendes Zeugnis attestiert.
Na, es ist wohl auch die Aufgabe der Opposition, zu kritisieren, das machen sie sehr eifrig. Es wäre aber auch Aufgabe der Opposition, eigene Vorschläge zu machen, da ist weit und breit nichts zu sehen. Und ich finde ein bisschen lustig, dass die CDU kritisiert, dass wir unsere für die gesamte Legislaturperiode gesteckten Ziele zur Halbzeit noch nicht erreicht haben, etwa 4.000 zusätzliche Pflegekräfte oder 2.900 Planstellen bei der Polizei. Unter der CDU ist da 23 Jahre gar nichts passiert und jetzt geht ihnen alles nicht schnell genug. Oder Wohnungsbau. Da mussten wir früher jedes Jahr viele Millionen an den Bund zurückgeben, weil einfach nicht genug gebaut wurde – jetzt geht das voran. Ich habe den Eindruck, je weniger sie selbst auf der Pfanne haben, umso lauter schreien sie im Landtag rum. Aber ich will auch sagen, dass es natürlich Rückschläge gab, die unfaire Entscheidung von Ford gegen das Saarland ist sicher zu nennen. Und natürlich sind noch nicht alle Ziele erreicht, auch weil die Umstände völlig andere geworden sind. Aber wir arbeiten weiter an den Dingen und verbessern Schritt für Schritt: mehr Pflegekräfte, mehr bezahlbare Wohnungen, mehr Polizistinnen und Polizisten, mehr Lehrerinnen und Lehrer.
Zu den Umständen: ZF plant Stellenabbau, ähnliche Meldungen gibt es von anderen großen Unternehmen. Was bedeutet das für den Strukturwandel und die Transformation? Und welche Handlungsmöglichkeiten hat die Landesregierung, wenn die Entscheidungen woanders fallen?
Der Strukturwandel ist keine Perlenkette entweder positiver oder negativer Ereignisse. Es gibt gute und schlechte Nachrichten. Und es ist und bleibt sehr anstrengend. In dem Wandel stecken aber Chancen, die wir ergreifen, wenn wir mutig die Industrie umbauen wie mit der Mega-Investition der Stahlindustrie oder die mittelständische Wirtschaft fördern und neue Unternehmen ansiedeln in Branchen, die es bei uns bislang nicht gab. Nehmen wir noch mal Ford. Das war eine herbe Enttäuschung und wir haben für etwas anderes gekämpft. Aber wenn ich heute sehe, dass Ford beim vermeintlichen „Gewinner“ Valencia noch immer nichts macht und es uns hier gelungen ist, mit Vetter eine Ansiedlung auf den Röderberg zu holen mit bis zu 2.000 Arbeitsplätzen in einer völlig neuen Branche am Standort, dann zeigt mir das, dass selbst in Rückschlägen noch Chancen stecken. Es hängt wesentlich davon ab, was wir daraus machen. Bei ZF wird das ähnlich sein. Wir kämpfen darum, dass neue Produkte an diesen Standort kommen, damit Arbeitsplätze gesichert werden. Das können wir als Landesregierung nicht entscheiden, aber wir können versuchen, andere zu beeinflussen, damit die Rahmenbedingungen besser werden, Stichwort Kaufanreize für Elektrofahrzeuge. Ich bin der Meinung, dass die Bundesregierung wieder Kaufprämien ausbringen sollte, um die E-Mobilität hochzufahren. Wenn wir viele Tausend Arbeitsplätze verlieren, kostet das viel mehr, als die Kaufprämien die Bundesregierung kosten würden.
Bei der Ansiedlung von SVolt hat sich starker Widerstand formiert. Deutet sich da an, dass die Stimmung für große Industrieansiedlungen auch im Saarland kritischer wird als früher?
Das Saarland hat nach wie vor eine positive Einstellung zur Industrie – auch im Vergleich zu anderen Regionen. Das hat auch die Abstimmung zur Erweiterung Lisdorfer Berg gezeigt. Es gibt immer laute Stimmen direkt vor Ort, ich stelle aber nicht fest, dass es eine allgemeine Stimmung gegen Ansiedlungen gibt. Was mir mehr Sorge macht, ist ein gesellschaftliches Klima, in dem jede Form von Veränderung grundsätzlich für schlecht gehalten wird, weil man sagt: „Arbeitsplätze ja, aber doch bitte nicht bei mir hier.“ Mal geht es um das Fällen von Bäumen, mal um das Baurecht für eine Neuansiedlung, mal um Krach auf dem Kinderspielplatz. Ich würde mir wünschen, dass wir alle miteinander mehr das Ganze sehen und das Gemeinwohl. Dafür ist wichtig, dass man klar sagt, wofür man das macht, dass man ein transparentes, offenes Verfahren wählt und konstruktive Einwendungen einbezieht. Am Ende des Tages dürfen es aber nicht die wenigen Lauten sein, die den Kurs bestimmen, auch für die, die etwas leiser unterwegs sind. Als verantwortliche Politik müssen wir das ganze Land langfristig im Blick haben.
Insgesamt ist die Stimmungslage rauer geworden, was sich nicht nur an Wahlergebnissen auch im Saarland ablesen lässt.
Wie kann man dem begegnen?
Mein Anspruch ist, dass wir aus diesen aufgeregten Zeiten gestärkt hervorgehen. Dafür arbeite ich Tag für Tag. Das wird dann gelingen, wenn wir die Dinge anpacken, die die Menschen am Abendbrottisch besprechen, die mir bei meinen Marktgesprächen berichtet werden oder beim Einkaufen. Das meine ich mit meiner Koalition mit den Saarländerinnen und Saarländern. Ich sage übrigens auch nicht Sätze wie „Das steht nicht zur Diskussion“. Themen sind nicht igitt, weil zum Beispiel die AfD sie mal angesprochen hat. Wenn etwas die Menschen bewegt, haben wir uns darum zu kümmern. So ist das auch beim Thema Migration. Die breite Mehrheit erwartet, dass wir das begrenzen und der Staat seine Handlungsfähigkeit beweist. Das ist richtig und deshalb schieben wir im Saarland zum Beispiel deutlich mehr ab als früher. Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass es nicht nur ums Begrenzen geht, sondern auch darum, die Integration derer, die schon hier leben, zu verbessern. Das kommt mir in vielen Debatten zu kurz. Wie bringen wir die Menschen schneller und zielgenauer in Arbeit, wie schaffen wir es, dass Lehrerinnen und Lehrer sich bei dieser schwierigen Aufgabe nicht überfordert fühlen, fühlen müssen, wie schaffen wir es, dass Konkurrenzen um bezahlbares Wohnen erst gar nicht entstehen? Wenn wir an diesen Themen arbeiten, erklären, was wir tun und warum, und die Menschen dabei mitnehmen, dann wirkt das. Verantwortliche demokratische Politik muss machen statt motzen. Denn das unterscheidet uns von Populisten, die nur motzen und an Lösungen gar nicht interessiert sind.
Also mehr über Integration und weniger über Zurückweisung reden?
Beides. Im Moment habe ich aber den Eindruck, wir reden nur noch über Zurückweisung. Und die Frage, wie wir mit Menschen umgehen, die schon hier sind, gerät dabei in den Hintergrund. Wir brauchen Humanität und Ordnung, beides gleichzeitig. Wer unsere Hilfe braucht, bekommt sie, und das muss auch funktionieren. Wer unsere Hilfe nicht braucht oder sie sogar missbraucht, der muss gehen oder gegangen werden – und auch das muss funktionieren! Vieles davon läuft bei uns im Saarland besser als anderswo, was aber nicht heißt, dass wir nicht noch besser werden wollen.
Menschen äußern oft den Eindruck, nichts funktioniert mehr, und fühlen sich überfordert. An zu viel Bürokratie kann Politik was ändern – an dem Gefühl der Überforderung auch?
Modernisierung und Entbürokratisierung hört sich nicht so sexy an als politisches Programm. Aber ganz viele haben das Gefühl, der Staat funktioniert nicht mehr so richtig. Und an vielen Stellen haben sie auch ehrlicherweise recht. Das, finde ich, ist brandgefährlich, denn darunter leidet das Zutrauen in den Staat. Das müssen wir ändern, und das haben wir uns als saarländische Landesregierung auch vorgenommen – wo immer wir die Dinge denn ändern können. Wir sind zum Beispiel dabei, einen großen Rückstand bei der Digitalisierung aufzuholen. Wir haben eine Situation übernommen, wo wir bundesweit mit Abstand Letzter waren. Das müssen wir jetzt mit Siebenmeilenstiefeln aufholen. Wir werden uns auch auf den Aufbau neuer Infrastruktur konzentrieren, etwa bei Wasserstoff oder schnelles Internet oder Stromnetze. Alles das ist notwendig, um in Zukunft als Wirtschaftsstandort wettbewerbsfähig zu sein. Eine der wichtigsten Entscheidungen in der ersten Hälfte der Legislatur ist die zum Umbau der Stahlwirtschaft. Dieser Umbau zieht Investitionen in die Wasserstoffinfrastruktur nach sich. Und wenn der Kraftwerkspark umgebaut wird, müssen Netze ertüchtigt werden auch für die Elektrifizierung vieler Bereiche. Das hat unsere volle Aufmerksamkeit erfordert, und deshalb ist auch viel über große Betriebe und Industrie gesprochen worden. Das macht nicht die gesamte Wirtschaft aus im Saarland, aber ohne das wird es für die anderen Bereiche noch schwieriger. Am Ende funktioniert der Standort Saarland nur, wenn wir beides machen: Wir brauchen eine starke Industrie in diesem Land, wir brauchen aber genauso einen großen und starken Mittelstand.
Das nimmt ein wenig die Frage nach den Schwerpunkten für die zweite Hälfte vorweg. Wenn drei Viertel aus dem Regierungsprogramm schon bearbeitet sind, was kommt dann jetzt noch? Wie soll das Land in zweieinhalb Jahren dastehen?
Wir haben noch einiges vor. Zum Beispiel das riesige Innovationspotenzial im Land noch besser nutzen. Ich nenne das Cispa, aber auch das Helmholtz-Institut für Pharmazeutische Forschung, wo wir mit der Neuansiedlung Vetter, aber auch mit Fresenius und den vielen Mittelständlern in der Lage wären, ein schlagkräftiges Pharma- und Gesundheitscluster zu bilden. Das passiert nicht von einem auf den anderen Tag. Aber wir haben jetzt die Chance, uns breiter aufzustellen und neben Stahl und Automobil andere Branchen und den Mittelstand zu stärken. Das Thema Arbeitsmarkt und Fachkräfte wird uns in der zweiten Hälfte noch mehr beschäftigen, als es ohnehin jetzt schon der Fall ist. Wir werden sicherlich Fachkräfte von außen gewinnen wollen, auf der anderen Seite, ich habe es schon angesprochen, leben hier auch ganz viele Menschen, die wir zu Fachkräften machen können. Ein anderes Thema ist die Gesundheitsversorgung, das Thema Krankenhauplanung ist aktuell. Ich würde mir sehr wünschen, dass die Rahmenbedingungen seitens des Bundes schnell geklärt werden und wir nicht immer mit einsamen Entscheidungen von Krankenhausträgern konfrontiert werden, sondern eine abgestimmte Planung machen können.