Vor 60 Jahren gründete der Teenager Vincent Damon Furnier in Detroit eine Band, die die Menschen verstören sollte. Heute kennt man ihn als Alice Cooper. Vom 76-jährigen Pastorensohn erfuhren wir, wie er den Punk vorwegnahm, Frank Zappa verwirrte und David Bowie inspirierte.
Alice Cooper, Ihr aktuelles Studioalbum „Road“ haben Sie mit Ihrer Tourband aufgenommen. Einer der Songs darauf heißt „White Line Frankenstein“. Wer ist das?
Einige Leute dachten, mit der weißen Linie sei Kokain gemeint. Nein. Wenn man auf Tournee ist, hat man 20 Fahrer für die Busse und LKW. White Line Frankenstein ist die Übertreibung einer Figur, die auf der Straße lebt. Wenn eine Tournee vorbei ist, geht er direkt auf die nächste Tournee. Sie kennen ja die weißen Linien auf der Straße, das ist alles, was er jemals sieht. Aber er liebt es, der König der Straße zu sein.
Apropos Frankenstein: Sind Sie eigentlich fasziniert von der Idee des künstlichen Menschen?
Viele Leute sehen KI als gefährlich an. Ich sehe durchaus die Gefahr in ihr. Ich traue KI eigentlich nur Paul McCartney zu, denn wer will nicht ein neues Beatles-Album hören. Wenn ich jetzt zur KI sagen würde: „Ich möchte, dass du einen Song über Olaf (unser Autor, Anm.d.Red.) und mich schreibst, wie wir gemeinsam den Mount Everest besteigen“. In zehn Minuten wäre der da. Und er wäre irgendwie auch ziemlich gut. Das ist schon seltsam. Wir schauen immer auf unsere Zukunft, aber was passiert, wenn dieses KI-Ding entscheidet, dass wir Menschen gar nicht notwendig sind?
Sie arbeiten bereits an Ihrem nächsten Studioalbum, Ihrem insgesamt dreißigsten. Wieder mit Bob Ezrin als Produzent?
Ja, und es ist auch schon fertig. Wir werden wahrscheinlich bald mit der nächsten Platte beginnen. Ich bin einer dieser Typen, die es lieben, Songs zu schreiben und aufzunehmen. Ich versuche immer, eine neue Geschichte oder neue Aspekte zu finden, über die ich schreiben kann. Aber es wird immer hart klingen. Alice Cooper ist einfach gitarrenlastiger Hardrock. Bob Ezrin und ich besitzen einen wirklich dunklen Sinn für Humor. Es ist immer großartig, diese dunkle Komik von Alice Cooper auf einem Album zu haben.
Musikhistoriker sagen, dass die ursprüngliche Alice Cooper Band lauter und viel aggressiver spielte als die anderen harten Bands, mit denen sie damals auftrat – wie The Stooges oder The MC5. Stimmt es, dass Sie ein Vorläufer des Punkrock waren?
Ich glaube, viele Leute assoziieren uns mit Punkrock, weil wir direkt aus einer Garage kamen. Jede wirklich gute Band hat dort angefangen und Songs von Chuck Berry, den Beatles, den Stones, den Yardbirds, The Who oder The Kinks gespielt. Der einzige Ort, an dem wir als Kids auftreten konnten, waren Clubs, in denen man vier Stunden pro Nacht spielen musste. Erst dann wird eine Band richtig gut. Gleichzeitig waren wir noch keine richtigen Musiker, wir waren Punks, die ihre Instrumente noch lernten. Jetzt sind wir natürlich Profis, aber wir lieben immer noch diese Zeit unseres Lebens. Der Grund, warum ich die Hollywood Vampires zusammenstellte, war, dass ich wieder eine Bar-Band haben wollte.
Mit einem Überraschungs-Gig in einer Kneipe namens Alice Bar haben Sie Ihre diesjährige Australientour beendet. Werden Sie solche Geheimgigs eventuell auch in Deutschland oder anderswo spielen?
Hin und wieder machen wir solche Shows an einem freien Tag oder sogar nach einem regulären Konzert. Meine Band nennt sich selbst The Green Squad. Sie spielen all diese 60er- und 70er-Jahre-Songs. Diese Bar in Brisbane hieß lustigerweise The Alice Bar, und ich bin dort einfach mit ihnen aufgetreten. Wir haben „Back in the U.S.S.R.“ und andere Cover-Songs gebracht. Ich liebe es, die Musik anderer Leute zu spielen. Und meine Live-Band ist zufällig wirklich gut darin. Wenn sie an einem freien Abend eine Bar findet, weiß ich, dass sie dort sein wird. Und ich tauche einfach auf, sie wissen das nicht einmal.
Hatten Sie auch für die aktuelle „Too Close for Comfort“-Tour etwas mitgebracht, das die Fans überrascht?
Ja, eine ganz neue Show, eine neue Inszenierung, alles ist neu. Europa hat dies noch nicht gesehen. In gewisser Weise ist diese Show auch ein wenig eingeschränkt, weil wir bestimmte Songs einfach spielen müssen. Es gibt mindestens 15 Hits, die ich in jedem Konzert bringen muss, sonst würde sich das Publikum betrogen fühlen. Das ist aber eine gute Sache. Gleichzeitig gibt es auch Leute, die von mir Songs hören wollen, die weniger bekannt sind. Wir versuchen, einige davon zu spielen. Aber den Alice zu geben ist das Schlimmste an diesem Abend, denn er ist einfach ein schrecklicher Mensch (lacht).
Der ehemalige Sänger der Sex Pistols, John Lydon alias Johnny Rotten, bezeichnet Sie als seinen „absoluten Favoriten“. Überrascht Sie das?
Nein. Ich glaube, das liegt daran, dass ich anfangs in England so viele Leute verärgert habe, und er hat erkannt, dass, je mehr Leute man verärgert, desto mehr wollen einen sehen. Hören Sie sich mal die Alben der Sex Pistols an, die sind wirklich gut. Sie haben alles richtig gemacht. Als sie nach Amerika kamen, gingen sie nicht gleich nach New York City, Los Angeles oder San Francisco, sondern nach Texas, um in Cowboy-Bars zu spielen. Natürlich haben sie es damit in die Nachrichten geschafft! Denn die Cowboys warfen mit Flaschen nach ihnen. Es war so schlau, was diese Band tat.
Die jungen Punks bezeichneten Rockmusiker wie Sie frech als „Boring old farts“. Hat Sie das damals geärgert?
Nein! Zunächst einmal: In diesem Geschäft sollten Sie sich ein dickes Fell zulegen. Die Leute werden dich entweder hassen oder lieben. Aber du musst lernen, dass es nur ihre Meinung ist. Manchmal ist es auch nur die Meinung einer einzigen Person, der deine Show oder dein Album nicht gefallen hat.
Frank Zappa gab Ihnen 1968 Ihren ersten Plattenvertrag. Hat er Ihnen auch gute Ratschläge gegeben?
Als wir zum Vorspielen zu ihm kamen, hörte er sich die Songs für unser erstes Album „Pretties for you“ an – sie waren durchschnittlich zwei Minuten lang und wiesen 20 Breaks auf. Anschließend sagte Zappa zu mir: „Alice, ich kapiere eure Musik nicht!“ Und ich sagte: „Nun, ist das gut oder schlecht?“ Er: „Nein, es ist großartig! Natürlich werde ich euch aufnehmen und produzieren, denn ich verstehe nicht, was ihr tut!“ (lacht) Wenn man also Frank Zappa verwirren kann … Er war einfach fasziniert von der Tatsache, dass er die Theatralik und das, was wir musikalisch taten, nicht verstehen konnte.
Zappas ursprünglicher Plan war, die Alice Cooper Band in einen kompletten Gimmick-Comedy-Act zu verwandeln, der sich „Alice Cookies“ nannte, und Zappa wollte, dass Ihr Album auf Vinyl in Keksgröße in Blechdosen erscheint.
Das ist genau das, was wir nicht wollten. Wir wollten ernst genommen werden, weil wir bereits als das nächste große Ding in Amerika angesehen wurden. Wir haben zehn Stunden an der Musik und eine Stunde an der Show gearbeitet. Das Theatralische war für uns ganz natürlich, das war der einfache Teil. Wenn man aber ins Fillmore oder in diese anderen großen Konzertsäle wollte, in denen Bands wie The Grateful Dead, The Doors, The Who und Led Zeppelin spielten, musste man so gut sein wie sie. Und das ist uns auch gelungen.
Im Netz findet man historische Konzertplakate wie „Frank Zappa & Alice Cooper in Fullerton, 15.3.1969. Tickets: 2,50 Dollar“. Wie erinnern Sie Ihre Auftritte mit Zappa und seinen Mothers of Invention?
Es hat wirklich Spaß gemacht, weil wir die gleiche Luft geatmet haben. Frank und seine Band waren so gut, er hat musikalisch einige der unwirklichsten Dinge gemacht. Er war der größte Gitarrist aller Zeiten. Aber nur Musiker wissen, wie gut er wirklich war. Seine Arrangements waren eigentlich unmöglich zu spielen, aber seine Musiker haben es getan. Wenn du mit solchen Leuten auf der Bühne stehst, solltest du besser gut sein. Wir glaubten sehr an das, was wir taten, denn wir wussten, dass es niemanden gab, der musikalisch oder theatralisch so war wie wir.
Damals begannen Sie, mit immer ausgefalleneren und schockierenderen Bühnenauftritten zu experimentieren. David Bowie soll sich das angesehen haben, lange bevor er seine berühmte Figur Ziggy Stardust erfand.
Ja, er kam immer zu unseren Konzerten. Das war vor dem ganzen David-Bowie-Hype. Damals war er noch ein Pantomime oder so etwas in der Art. Als er dann seine Band The Spiders from Mars hatte, kam er zu unseren Konzerten und sagte: „Das ist es, was wir machen sollten!“ Die Sache war die, dass alle wollten, dass es eine Art Fehde zwischen Bowie und mir gibt. Aber ich sah es so, dass der eine von uns Dalí und der andere Picasso war. Das sind zwei verschiedene Dinge. Bowie war der Kerl im Weltall, und Alice Cooper war das Phantom der Oper. Wir hatten beide unsere eigene Rolle, aber sie ergab sich aus dem, was wir zuerst gemacht haben.
Wie erklären Sie sich, dass die Musikszene in den späten 60er- und frühen 70er-Jahren so kreativ war?
Das Tolle an dieser Ära war, dass die Plattenfirmen wollten, dass Alice Cooper Alice Cooper ist. Bowie sollte Bowie sein, und Elton sollte Elton sein. Wir waren alle einmalig. Und was dann in den 80er-Jahren passierte, war: Bon Jovi kamen mit ihren Hits, ihrer großartigen Arbeit und ihrer eigenen Theatralik daher, die einfach glamourös war. Und dann wollte jede Plattenfirma einen eigenen Bon Jovi auf ihrem Label haben. Und dann kam Mötley Crüe, und das Ganze wiederholte sich. Am Ende gab es eine Menge Bands, die nichts als Kopien der Originale waren. Das Musikgeschäft wurde zu einem Konzern, und die ganze Kunst war verschwunden.
Brauchen wir eine neue musikalische Revolution mit umstürzlerischem Potenzial à la Punk?
Ja, das bräuchten wir wirklich. Was wir damals gemacht haben, war sehr subversiv. Aber wir sahen auch den Humor darin. Ich ging mit schwarzen Lederhosen oder dem Slip meiner Freundin auf die Bühne. Und da war überall Blut drauf. Ich war geschminkt und hatte eine echte Schlange dabei. Das war in den Jahren 1969/70. Die Leute begriffen erst viel später, dass Alice einen Schurken spielte. Er war ein Spiegel der Gesellschaft, wie jemand, der einem zeigt, wie absurd die Dinge sind. Aber die Musik stand bei uns immer an erster Stelle, wir brauchten Songs wie „I’m Eighteen“, „School’s Out“ oder „Poison“, um uns voranzutreiben. Ohne sie wäre es bloß ein Puppentheater gewesen.