Millionen Menschen leiden in Deutschland an Schlafstörungen. Nun soll Daridorexant, ein verschreibungspflichtiges Schlafmittel mit einem völlig neuem Wirkmechanismus Abhilfe schaffen, ohne körperlich abhängig zu machen.
Mit allen gängigen Schlafmitteln, die in der medizinischen Fachsprache als Hypnotika bezeichnet werden, zur Gruppe der Psychopharmaka zählen und von denen die meisten als Narkosemittel das Gehirn nachts einfach komplett herunterzufahren, hat der neuartige Arzneistoff Daridorexant so gut wie nichts gemein. Er gehört zur Gruppe der sogenannten Orexin-Antagonisten oder Orexin-Rezeptor-Antagonisten und wird umgangssprachlich auch Weckhemmer genannt. Dass durch eine völlig neue Substanzklasse das pharmakologische Areal dermaßen erweitert wird, kommt nicht gerade häufig vor.
Es mag sicherlich reiner Zufall sein, dass die wesentlichen Entwicklungsschritte in der Schlafmittel-Forschung in einem zeitlichen Rhythmus von 30 Jahren abzulaufen scheinen. In den 1960er-Jahren wurden die Benzodiazepine, die heute wegen ihrer erheblichen Nebenwirkungen kaum mehr eingesetzt werden, durch stark wirkende Barbiturate abgelöst. In den 1990er-Jahren kamen dann die sogenannten Z-Substanzen auf den Medizin-Markt. Ihren Namen verdanken sie dem Sachverhalt, dass die Stoffe allesamt mit dem Buchstaben „Z“ beginnen und die trotz einer anderen Struktur und der Zugehörigkeit zu einer anderen Substanzgruppe ein ähnliches Wirkungsprofil wie die Benzodiazepine, aber ein etwas niedrigeres Abhängigkeitspotenzial aufweisen.
Und nun taucht nach der im April 2022 erfolgten Zulassung von Daridorexant als Hypnotikum zur Behandlung erwachsener Patienten mit schweren Schlafstörungen (Insomnien) durch die Europäische Kommission die Substanzklasse der Orexin-Rezeptor-Antagonisten erstmals auch in Europa auf. In den USA (Suvorexant unter dem Handelsnamen „Belsomra“ seit 2014 und Lemborexant unter dem Produktnamen „Dayvigo“ seit 2019) und in Japan ist eine vergleichbare Substanz schon seit einigen Jahren erhältlich. Auch in den USA wurde Daridorexant seit 2022 ebenfalls zugelassen und wird dort wie in Europa unter dem gleichen Handelsnamen „Quviviq“ von dem Schweizer Pharmaunternehmen Idorsia Pharmaceuticals als verschreibungspflichtige Filmtabletten mit 25 oder 50 Milligramm Wirkstoff-Inhalt vertrieben. Die Tabletten werden etwa eine halbe Stunde vor dem Zubettgehen eingenommen und die Betroffenen sollten mindestens sieben Stunden Schlaf bis zum Aufwachen einplanen. Zusätzlich hat der Hersteller in der Gebrauchsinformation darauf hingewiesen, dass sich der Beginn der Wirksamkeit verzögern kann, wenn die Patienten das Medikament mit oder kurz nach einer Mahlzeit einnehmen sollten.
Geradezu auffällig war, wie nüchtern die medizinische Fachpresse über Daridorexant berichtete. Keinerlei Wertungen positiver oder auch negativer Art durch Experten waren darin enthalten. Vermutlich, weil es hierzulande viel zu wenige Fachleute gibt, die sich intensiv mit dem Thema Schlafmedizin befassen. „Die neuropsychiatrische Schlafmedizin führt in Deutschland ein ‚Stiefmütterchendasein‘. Bis auf schlafbezogene Atemstörungen gibt es nämlich für die wesentliche Diagnostik keine Abrechnungsmöglichkeit. Die sogenannte Polysomnographie (diagnostisches Verfahren zur Messung physiologischer Funktionen und als solches die optimale Methode zur Untersuchung des Schlafes, Anm. d. Red.) wird in Deutschland also anders als in Frankreich, der Schweiz, den USA und vielen anderen Ländern nicht bezahlt. Wir sind hierzulande die einzige Klinik, die sich eigen finanziert schwerpunktmäßig überhaupt noch mit diesen Ein- und Durchschlafstörungen aus dem psychiatrischen und neurologischen Bereich beschäftigt.“ Dieses Zitat stammt aus einem Interview, das der Privatdozent Dr. Dieter Kunz, Chefarzt der zur Charité gehörenden Klinik für Schlaf- und Chronomedizin im Berliner St. Hedwig-Krankenhaus, schon Ende 2021 dem Berliner Sender RBB zum Thema Orexin-Antagonisten gegeben hatte.
St. Hedwig-Krankenhaus, Berlin - Foto: Alexianer St. Hedwig Kliniken Berlin GmbH
Dr. Kunz war denn auch der einzige hiesige Experte, der die Wirkungsweise dieser neuen Substanzgruppe einfach und allgemein verständlich erklären konnte und darüber hinaus die Innovation entsprechend einordnete. Dabei konnte er davon profitieren, dass er in seiner Klinik neben der von ihm bevorzugten Verabreichung des Schlaf-Wach-Rhythmus regulierenden Hormons Melatonin und den Z-Substanzen schon mal seinen Patienten im sogenannten Off-Label-Use die schon früher in den USA zugelassenen Weckhemmer testweise in Pillenform zukommen ließ. „Melatonin stärkt niedrig dosiert und zur richtigen Zeit angewendet das System an inneren Uhren und verbessert den Schlaf qualitativ zum geeigneten Zeitpunkt“, so Dr. Kunz gegenüber dem RBB. Und weiter sage er: „Richtig eingenommen, kenne ich so gut wie keine Nebenwirkungen. Die Z-Präparate wirken unmittelbar im Gehirn ähnlich wie ein körpereigener Botenstoff, das sogenannte Gaba. Sie docken an Reizempfängern im Gehirn an, dämpfen dort die Aktivität und fördern so den Schlaf. Leider werden Z-Substanzen gerne mit Benzodiazepinen gleichgestellt und ihnen wird heute oft die Entstehung einer Abhängigkeit nachgesagt.“ Allerdings haben die Z-Substanzen wie auch die gängigen Benzodiazepine laut Dr. Kunz einen ganz entscheidenden Nachteil, weil sie nur gegen die Symptome, nicht aber gegen die Ursachen der Schlafstörung wirken.
Das wird sich dank Daridorexant zumindest für eine große Gruppe von Patienten laut Dr. Kunz grundlegend ändern. Schließlich leiden hierzulande schätzungsweise mindestens zehn Prozent der Bundesbürger an behandlungsbedürftigen Schlafstörungen, bei rund 4,8 Millionen Deutschen sind sie laut Angaben der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin sogar chronisch: „Die Schlafmedizin steht vor einer neuen Zeitrechnung“, so Dr. Kunz gegenüber dem RBB. „Auch wenn bisher noch kein Schlafexperte wirklich bis ins Letzte verstanden hat, was das Gehirn nachts eigentlich tut, werden wir bald besser auf Störungen des Schlafs reagieren können. Es laufen nachts diverse Programme im Gehirn ab. Klar ist: Wenn wir bisher von Schlafmitteln sprechen, meinen wir Narkosemittel. Sie greifen nicht spezifisch in die verschiedenen komplexen Teilprozesse ein, die im Gehirn nachts ablaufen. Die meisten fahren das Gehirn einfach komplett runter. Das führt häufig dazu, dass man sich morgens zerschlagen fühlt. Derzeit verfügbare Schlafmittel heilen nicht, sondern wirken ausschließlich symptomatisch.“ Das wird bei Daridorexant künftig ganz anders sein. „Das neue Medikament ist eine Revolution“, so Dr. Kunz gegenüber der Zeitung „Die Welt“. „Denn eigentlich ist es gar kein Schlafmittel.“
Rund 4,8 Millionen Deutsche leiden an chronischen Schlafstörungen
Diese Aussage wird nur verständlich, wenn man sich die Wirkungsweise von Daridorexant und vergleichbaren Orexin-Rezeptor-Antagonisten vergegenwärtigt. Sie greifen direkt in das sogenannte Orexin-System ein. Bei Orexinen handelt es sich um Neuropeptide, die im Hypothalamus gebildet werden und in Gestalt der Orexine A und B an der Regulation des Schlaf-Wach-Rhythmus, indem sie den Wachzustand fördern, und des Appetits beteiligt sind. Da Daridorexant als dualer Antagonist die Rezeptoren der beiden Orexine und damit auch das ganze Orexin-System blockiert, kann der Schlaf ganz entscheidend befördert und ungewollte nächtliche Wachphasen können reduziert werden. Laut Angaben des Herstellers Idorsia soll Daridorexant, das vom Körper rasch innerhalb einer Stunde bis zur maximalen Konzentration absorbiert werden kann, „nicht allgemein sedieren“, sondern lediglich die „übermäßige Wachsamkeit verringern“. Nächtliche Signale, die zum Aufwachen führen könnten, werden durch Daridorexant reduziert und ein besseres Durchschlafen wird vom Hersteller garantiert.
Die üblichen Hangover-Effekte anderer Schlafmittel wie Benzodiazepinen und Z-Substanzen bleiben bei Daridorexant aus. Zudem konnte durch eine Langzeitstudie nachgewiesen werden, dass sich der Wirkstoff auch im Unterschied zu den bislang gängigen starken Präparaten, die meist maximal nur vier Wochen lang geschluckt werden dürfen, zur längeren Einnahme eignet, ohne dass sich dabei eine bei anderen Schlafmitteln bekannte Abhängigkeit, unter der laut dem Suchtreport der Bundesregierung inzwischen rund 1,5 Millionen Deutsche leiden, entwickeln kann. Insgesamt verfügt Daridorexant über ein gutes Sicherheitsprofil, an Nebenwirkungen konnten in klinischen Studien vor allem Kopfschmerzen, Schläfrigkeit, Müdigkeit, Schwindel und Nasopharyngitis, eine kombinierte Entzündung der Nase und des Rachens, ermittelt werden.
Dr. Kunz zeigte sich jedenfalls gegenüber dem RBB von der neuen Substanzklasse hellauf begeistert: „Orexin-Antagonisten tun das, was gängige Schlafmittel nicht können: Sie beeinflussen konkret einen Teilprozess des Schlafes, sie blockieren spezifisch den Weckvorgang.“ Schon vor 20 Jahren habe man in Tierversuchen die Entdeckung gemacht, dass der zentrale Botenstoff Orexin beim Menschen das Wachsein und den Appetit befördern könne. Danach habe man ermitteln können, dass bei Menschen, die an Schlafsucht oder Narkolepsie erkrankt waren, ursächlich keine Orexin-Produktion stattgefunden hatte. Daraus hätten Wissenschaftler laut Dr. Kunz folgenden naheliegenden Schluss gezogen: „Wenn das Gehirn mit dem Botenstoff Orexin wacher ist, könnte es für den Schlaf zuträglich sein, wenn man den Botenstoff unterdrückt. Tatsächlich hat die Blockade des Neurotransmitters die Wirkung, dass Wachsignale ausbleiben. Viele Patienten mit einer diagnostizierten Ein- und Durchschlafstörung profitieren daher von Orexin-Antagonisten.“ Allerdings gebe es nach derzeitigem Kenntnisstand bis zu 100 verschiedene Ursachen von Ein- und Durchschlafstörungen. Von daher könne das Medikament nur den Betroffenen helfen, deren Beschwerden Orexin-bedingt seien. Da es aus Sicht von Dr. Kunz keine gravierenden Nebenwirkungen gibt, könne der Arzt nach dem Trial-and-Error-Prinzip durch eine vierwöchige Testphase schnell herausfinden, ob das Medikament bei dem jeweiligen Betroffenen anschlägt.
Ausschlaggebend für die Zulassung von Daridorexant/Quiviviq waren zwei klinische Phase-3-Studien aus dem Jahr 2020, in denen der Hersteller Idorsia an 156 Zentren in 17 Ländern über drei Monate die einmal tägliche Einnahme von Daridorexant doppelblind gegen Placebo unter der Mithilfe von knapp 1.900 erwachsenen Probanden untersuchen ließ. In der ersten Studie erhielten die unter Schlaflosigkeit leidenden Probanden Dosen von 50 oder 25 Milligramm Daridorexant und die Kontrollgruppe Placebos. Bei der zweiten Studie wurden den Studienteilnehmern Dosen von 25 oder zehn Milligramm Daridorexant oder wieder auch Placebos verabreicht. Dabei konnte ermittelt werden, dass Daridorexant im Vergleich zu Placebos sowohl in Dosierungen mit 25 als auch 50 Milligramm ganz signifikante Verbesserungen bei Einschlafdauer, Durchschlafzeit und Gesamtschlafdauer erzielen konnte. Die Dosierung von zehn Milligramm erwies sich allerdings als zu gering zum Erzielen positiver Effekte. Die schon genannten Nebenwirkungen wurden bei diesen beiden Studien ermittelt. Rebound-Effekte oder Entzugserscheinungen konnten nach Absetzen der Therapie nicht festgestellt werden. In einer Ende 2022 veröffentlichten Langzeitstudie mit 550 Teilnehmern ermittelte man über einen Zeitraum von 40 Wochen die beste Wirksamkeit des Medikaments bei einer Dosis von 50 Milligramm. Relevante Nebenwirkungen waren auch bei dieser zeitlich deutlich längeren Studie nicht aufgetreten. Zudem konnten keine Abhängigkeiten der Probanden von dem Medikament festgestellt werden.