Wo einst Goldsucher zum Klondike aufbrachen, berauschen sich heutzutage Paddler an Mehrtagestouren auf dem mächtigen und doch leicht zu befahrenden kanadischen Fluss. Für Kick sorgen auch Tier- und Polarlichtsichtungen sowie der Reiz des Wildcampens.
Das Yukon Territory ist Kanada wie aus dem Bilderbuch: weit, wild, wenig los. Noch einmal 125.000 Quadratkilometer größer als Deutschland, dafür leben in der nordwestlichsten Ecke des Landes gerade einmal 43.000 Einwohner – und davon über die Hälfte in Whitehorse. Hier landen die Flieger, hier decken sich Outdoorfans mit Verpflegung ein, hier ist der Ort des ersten Kontaktes. In unserem Fall mit Stephan Bardubitzki, unserem Guide der kommenden Tage, und mit dem Yukon River, der „lange Zeit neben Pferden und Schlittenhunden die Verkehrsader Nummer eins in den unwegsamen Norden darstellte“.
„Einst ein Synonym für Reichtum“
Ah, beim Willkommensdinner im Restaurant „Joe’s Wood fired Pizza“ gibt es von Stephan gleich eine Geschichtslektion, gut so! „Insbesondere nach dem Goldfund von George Carmack 1896“, fährt der vor 30 Jahren aus Brandenburg ausgewanderte Kanu-Experte fort. „Wo die Tr’ondëk Hwëch’in Hän Nation seit rund 15.000 Jahren lebten und Karibus jagten, sorgten von heut auf morgen schiere Massen für den größten Goldrausch der amerikanischen Geschichte.“ Tausende Boote verkehrten in der Folge zwischen Whitehorse und Dawson City, dem Neu-Dorado im subpolaren Nirgendwo. Allein mehr als 500 Schaufelraddampfer transportierten in all den berauschenden Jahren Menschen, Waren, Träume – und Gold. „Einst war der Yukon in der ganzen Welt ein Synonym für Abenteuer, Reichtum und eine unbeschwerte Zukunft“, fasst Stephan zusammen.
Heute ist die Natur der größte Schatz der Provinz, die Weite des Landes und vor allem der Fluss, der in der Paddel-Community als Goldstandard gilt. Klar, man kann die 720 Kilometer von Whitehor Canyon, nach Dawson City komplett auf dem Fluss zurücklegen, was Verrückte beim Yukon River Quest, dem weltlängsten jährlichen Kanurennen, auch machen – in rund 50 schlaflosen Stunden!
Gemütlichere Naturen veranschlagen eher 20 Tage. Beim Platzhirsch Ruby Range Adventure stehen aber auch kürzere Touren im Angebot. Eine sehenswerte Dreitageoption führt von Carmacks nach Minto. Sie beginnt nach einer zweistündigen Autofahrt in dem mit 500 Einwohnern größten Ort zwischen Whitehorse und Dawson City. Eine Flussbiegung stromaufwärts der Brücke – es ist eine von gerade mal drei, die den mit 3.120 Kilometern fünftlängsten Strom Nordamerikas überspannen – parkt Stephan am „Coal Mine Campground“den Bus samt Anhänger. Jetzt heißt es Abladen, allen voran die vier Kanus, die hier trotz Heimvorteil nicht Kanadier heißen. Schon wieder etwas gelernt!
Sich erst mal an die Strömung gewöhnen
Nächste Überraschung: Stephan zählt stolze 72 Jahre. Gut, da sind einerseits die langen schneeweißen Haare, die aus einem orangenen Bandana bis über die Schulter wallen, und der ebenso weiße Vollbart – andererseits aber ein Ausmaß an Agilität in sämtlichen Handgriffen, das zu einem viel jüngeren Mann zu gehören scheint. Das zeigt sich etwa bei der Einführung. Wild malt Stephan mit einem Zweig immer wieder in den sandigen Boden und erklärt, wie man mit dem Kanu ab- und anlegt („Nase gegen den Strom“) und wie der J-Schlag geht. Wobei der „Draw“, also das Ranziehen mit dem Paddel, zum Korrigieren noch wichtiger sei – falls es mal schnell gehen muss, sogar über Kopf. „Generell gilt: immer einigermaßen Linie halten. Sich querstellen sollte man nie.“
Sicherheitshalber wird das gesamte Gepäck per Seil verbunden, das man im Fall des (Um)Falls schnell lösen kann, damit die Fracht separat schwimmen kann und das Boot nicht untergeht. Steuermann, aufgepasst, denn hier liegt seine Hauptverantwortung, mehr noch aber über das Lenken. Der Job des Vornesitzenden: Paddeln. Und zwar immer auf einer Seite. „Der Motor“, wie Stephan meint. Der ruft jetzt zum Beladen auf. Boote werden zu Wasser gelassen, mit Essen, Kocher, Geschirr, Zelten, Grill, Privatkram und Co. beladen und eben mit allerlei Strippen versehen. Dann stoßen wir uns beherzt vom Steg ab. Erst mal den an dieser Stelle locker 80 Meter breiten Fluss queren und sich an die Strömung gewöhnen. Wie schnell die werden kann, zeigt sich schon nach wenigen Minuten, als Stephans Nachfolger die Linie nicht so gut halten und vor einer der immer wieder auftauchenden Inseln in den falschen Flussarm „gesaugt“ werden. Die Insassen paddeln wie besessen, doch der Sog wird stärker und stärker, bis sie lieber in dem an dieser Stelle seichten Wasser aussteigen als abgetrieben zu werden. Was für eine Lehre! Egal, wie zahm der Yukon manchmal aussehen mag: Er kann genauso seine ungestüme Seite zeigen. Höchste Konzentration gilt vor allem, wenn sich das Wasser kräuselt, etwa beim nahenden Brückenpfeiler. Doch einmal fokussiert, lassen sich solch seltene Gefahrenstellen gut meistern. Wir kommen in den Paddelflow und lernen mit jeder weiteren Flussbiegung. Nämlich, dass der Yukon nicht nur eine solide Geschwindigkeit hat, die einen durchaus mal zum Treibenlassen animiert, sondern auch manch kleine Strudel. Aber im Großen und Ganzen lässt er sich prima befahren, leichter jedenfalls als die meisten Nebenflüsse wie Big Salmon und Little Salmon, Teslin und Beaver.
Dennoch sagt Stephan: „Es ist schon alles vorgekommen, gekenterte Boote, weggetriebene Tonnen, verletzte Paddler.“ Solange nichts Derartiges passiert, kann man die Szenerie genießen. Und wow: Es gibt nur ganz wenige Anzeichen von Zivilisation. Höchst selten taucht mal ein Haus auf, oder man hört eine Straße, dafür wechselt die Szenerie der Landschaft überraschend oft. Mal wird es hügeliger, mal bewaldeter, mal dominieren Birken, mal Weiden, mal kleinwüchsige Fichten. Immer wieder kreisen Krähen und Weißkopfseeadler über dem Wasser.
Zähneputzen mit dem Flusswasser
Die Sonne sinkt, die Stimmung steigt: Zeit fürs erste Lager! Die Kanus werden, Nase voran, aufs Kiesbett gelenkt, Zelte in dem ausgewählten Wäldchen aufgebaut, Holz gesammelt. Spätestens jetzt wird auch dem Letzten klar, dass er seine Komfortzone weit hinter sich gelassen hat. Zähneputzen und Waschen ist nur mit dem eiskalten Flusswasser möglich, die Handys haben schon lange keinen Empfang mehr. Wer auf die Toilette muss, der nimmt einen Spaten und gräbt sich hinter den Büschen ein Loch. Stephan zaubert derweil Salat und Hot Dogs mit Bison- und Elk-Wurst, wobei er erklärt: „Elk bedeutet Hirsch und Moose Elch.“ Alles klar, oder?
Nach einem Powerfrühstück mit Müsli und Trockenfrüchten stimmt Stephan die Gruppe auf die bevorstehenden Five Finger Rapids ein und gibt Extratipps. Mit der Kennzeichnung als Wildwasserstufe eins respektive zwei (je nach Pegel) handelt es sich schließlich um die schwierigste Stelle des Yukon, zumindest wo wir paddeln. Und bald tauchen sie auf, die vier schroffen Sandsteinfelsen, die den Strom in fünf Finger teilen. Für die Raddampfer im 19. und 20. Jahrhundert stellten sie ein großes Hindernis dar, das mit Winden und Stahlseilen überwunden werden musste. Durch Felssprengungen wurde dieses Hindernis entschärft und kann dadurch nun, bei normalem Wasserstand, auch von Kanuten problemlos überwunden werden. Dennoch erinnert Stephan: „Nicht quer kommen, das wäre der Anfang vom Ende.“ Klappt aber alles bestens, auch im Hunderte Meter langen Kräuselwasserauslauf. Leicht schaukelnde Boote, strahlende Gesichter, „Noch mal“-Rufe! Doch das geht strömungsbedingt nicht, stattdessen geht die Gruppe an Land, an einer Stelle, an der früher Lachs zum Trocknen aufgehängt wurde, alte Holzgestänge zeugen davon. „Heutzutage ist das mit dem Lachs ja recht traurig“, meint Stephan, „der Rückgang ist immens, von einst über 20.000 gefangenen Fischen auf unter hundert“. Keine Frage, es gibt heiterere Themen: die Brotzeit, ein Sonnenbad in der Wiese und dann – natürlich – wieder das Paddeln. Fotos werden geschossen, Kanus aneinander gebunden und nach zwei weiteren Stunden gibt es eine „Pinkelpause mit Historie“, wie Stephan meint. Er deutet dabei auf die morschen Überreste eines alten Hauses, an dem einst die Pferde Richtung Dawson gewechselt wurden.
Zauberhafte Polarlichter
Blicke auf Uhr und die detaillierte Flusskarte führen zu dem Entschluss, die zweite Nacht bei Merrice Creek zu verbringen, was sich als Volltreffer erweist: eine erhöhte Lage mit Blick auf eine weite Flussbiegung, ein guter Einstieg zum Baden (wenngleich das angesichts von elf Grad Wassertemperatur schnell erledigt ist) und viel Feuerholz. Merke: Es muss noch lange nicht dunkel sein, um mit dem Feuerzauber zu beginnen. Schließlich fungiert es nicht nur als Steakbrutzelort, Moskitoschutz und Wärmequelle, sondern auch als sozialer Treffpunkt. Man steht oder sitzt – „wie einst die Vorfahren“ – stundenlang drumherum, ratscht, lacht und tauscht Buchtipps. Stephan etwa schwärmt von Bill Mason, dem „Godfather of Canadian Paddeling“, ein anderer von der Survival-Bibel „How to shit in the woods“.
Hätte ich mal diese Lektüre gehabt, hätte ich die folgende Aktion wohl nicht gemacht: nämlich ohne Bärenspray nachts durchs Gestrüpp runter zum Kiesstrand stolpern. Was, wenn gerade ein Grizzly nach Steakresten geschaut hätte? Und Grizzlys leben im Yukon einige! Und dann zählt auch nicht, dass der Grund für solch unüberlegtes Handeln ein zauberhafter war: aufziehende Polarlichter über dem Yukon, und das nicht im Winter, sondern Anfang September. Ein starkes Erlebnis, selbst wenn die Aurora borealis noch vergleichsweise schwach ausgeprägt ist. Wobei das sicher auch am hellen Mond liegt. Der sorgt dafür ebenfalls für viel Magie!
Magisch auch das Dahingleiten tags drauf auf dem Fluss. Und dann tauchen sie doch noch auf: erst die lange vermissten Elche – O-Ton Stephan: „Die sind mitunter gefährlicher als Grizzlys, so eine aufgebrachte Elchkuh kann dir gar das Gesicht zertrümmern!“ – wenig später ein Schwarzbär am Ufer und gegen frühen Nachmittag die wenigen Häuser von Minto, der Endstation. Jetzt heißt es, sich noch mal ins Zeug zu legen, denn hinter der Fähre, die hier die beiden Ufer verbindet, muss man nach einem U-Turn ufernah gegen die Strömung anlanden.
Hui, das ist echter Sport zum Finale eines Trips, der sich ins Gedächtnis des Lebens einbrennt. Auch wenn eigentlich gar nicht so viel passiert beim Paddeln, bleiben doch dieser besondere Geruch des Yukons, das Prasseln der Kiesel unter dem Kanu, die vom Fluss mitgetragen werden, lange präsent. Als würde man die Tour im Kopf fortführen, immer weiter bis nach Alaska, und am Ende in die eisigen Weiten der Beringsee.