Alles am Glacier Express ist aufregend: der hohe Komfort, der kühne Streckenverlauf und die verschneite Berglandschaft, die an den riesigen Panoramafenstern vorbeizieht. Wie gut, dass der legendäre Luxus- kein Schnellzug ist.
Zu feiern gab es für die Rhätische Bahn in jüngster Vergangenheit so einiges: Erst im Juni 2024 wurde der neue Sechs-Kilometer-Tunnel auf der von der Unesco zum Welterbe geadelten Albulalinie eröffnet. Im Jahr zuvor, 2023, stieß man auf „50 Jahre Bernina Express“ an, dessen Streckenverlauf ins italienische Tirano ebenfalls den Welterbetitel trägt. Ja, und 2022 sorgte ein spektakulärer Rekord für Aufsehen, als man den mit 1.910 Metern längsten Personenzug der Welt durch Graubünden rollen ließ. Was sich die Marketingleute in der Churer Zentrale wohl für das nächste Großereignis ausdenken? 2030 jährt es sich nämlich zum 100. Mal, dass der von Rhätischer und Matterhorn-GotthardBahn betriebene Glacier Express durchgängig zwischen St. Moritz und Zermatt verkehrt – und damit zwischen den Gletschern des Engadins und des Wallis. „Eine Erfolgsgeschichte, die mit der Eröffnung des Furka-Basistunnels 1982 und dem dadurch ermöglichten ganzjährigen Betrieb zusätzlich Fahrt aufnahm“, erzählt Frank Niggemann, der für den Spezialanbieter Bahnurlaub.de schon etliche Bahnreisegruppen durch das Zug-Dorado namens Schweiz begleitet hat. In den kommenden Tagen wird er immer wieder in gut verdaulichen Portionen von baulichen Etappen, wirtschaftlicher Entwicklung und den Vorzügen des laut Eigenwerbung „langsamsten Schnellzuges der Welt“ berichten. Rein organisatorisch stechen schon einmal diese heraus: „Bahnfahrer können nicht nur aus drei Klassen wählen, sondern auch aus unterschiedlichen Streckenabschnitten. Nur vorher reservieren ist Pflicht.“
Die Wahl zwischen drei Klassen im Zug
Das haben wir getan – wenn auch nicht ab St. Moritz, sondern „erst“ etwas später ab Chur, der ältesten Stadt der Schweiz. Dadurch verpassen wir zwar den mondänen Jet-Set-Ort im Engadin ebenso wie die Fahrt durchs Albulatal und über das legendäre Landwasserviadukt, doch es gab Gründe: ein Termin beim – kein Witz – Humorfestival im nahen Arosa, das immer Anfang Dezember zum kollektiven Lachen auf 2.000 Meter Höhe lädt. Premiumkabarett mitten im Skigebiet, einmalig. Aufgrund des persönlichen Terminplans kommen wir ferner in den Genuss einer Nachtwächtertour durch die autofreien Gassen von Chur und eines Besuchs des ebenso ehrwürdigen wie ultramodernen Bündner Kunstmuseums (das aus zwei Teilen besteht). Dann aber heißt es um 11.56 Uhr: Bahn frei für den GEX, wie der Glacier Express abgekürzt wird. Koffer werden verstaut, Plätze im Panoramawagen bezogen, die in sechs Sprachen zur Verfügung stehenden Audioguides ausprobiert, an Aperitifs genippt. Kaum rollen wir durch das breite Tal des Alpenrheins, geht die Vorstellung auch schon los. So lässt sich das wirklich beschreiben, denn diese Zugfahrt ist wie 3D-Kino, vor allem bei solch strahlend blauem Himmel in atemberaubender Berglandschaft. Überdimensionierte Panoramascheiben, die auch nach schräg oben Durchblick gewähren, bilden dabei die rollende Großbildleinwand für einen dramatischen Naturdokumentarfilm. In den Hauptrollen der nächsten sechs Stunden: Gipfel-Skylines, Wasserläufe, Bergdörfer. „Mit etwas Glück erspäht man sogar Steinböcke und Gämsen“, meint Frank.
Vorbei an dem Grand Canyon der Schweiz
Wir sehen zwar keine, dafür aber, während am Tisch Kürbissuppe serviert wird, einen viel größeren Hingucker: die von Föhren umrahmte und von bizarren Gesteinsformationen geformte, tief eingeschnittene Vorderrheinschlucht, Beiname „Swiss Grand Canyon“. Großes Kino! Wir lauschen abwechselnd den Ausführungen aus den Kopfhörern und denen von Frank. Sein Spezialtipp: „Zwischen erster und zweiter Klasse gibt es ein Schiebefensterchen, groß genug, das Kameraobjektiv hindurchzustecken und in manch langer Kurve ohne spiegelnde Scheiben Fotos zu schießen.“ Ah! Der rot-weiße Zug macht in der weißverschneiten Berglandschaft aber auch wirklich was her. Für den Extrakick sorgt die angenehme Luft im Zug, ebenso der Espresso nach dem Hauptgang, bei dem Geschnetzeltes mit Spätzle und Gemüse aufgetragen wurde.
Wie muss das erst toll von oben aussehen, wenn der Glacier Express die kühnen Bergbahnbauten – insgesamt sind es zwischen St. Moritz und Zermatt 291 Brücken und 91 Tunnel – passiert? Wenn er den Anstieg zum immer stärker verschneiten, baumlosen Oberalppass auf 2.033 Metern meistert. Wenn er in engen Kurven steil hinunter ins Ursental juckelt. Doch auch in den gemütlichen Sitzen bekommen die Fahrgäste viel mit, insbesondere von allem, was vorbeizieht: die Berge, Skilifte, Kloster Disentis und Andermatt, das sich vom 1.600-Einwohner-Ort in den vergangenen 15 Jahren zu einem Top-Resort mit mehr als 3.000 Gästebetten entwickelt hat – inklusive Vier- und Fünfsternehotels, dem neuem Bahnhof „Andermatt Central“ und einem vielprämierten Konzertsaal der Extraklasse. Kurz: In Andermatt fühlt sich eine Klientel wohl, der es auch in der Excellence-Klasse zwei Waggons weiter gut gefallen würde. Statt der wie in der ersten Klasse ohnehin schon noblen Zwei-Eins-Bestuhlung befindet sich hier auf jeder Seite des Ganges nur ein Stuhl, pardon, Hochkomfortsessel, drehbar und mit extra viel Beinfreiheit. In den, wie Frank zitiert, „wohl begehrtesten Sitzplätzen der Schweiz“ schmecken Champagner und exquisites Fünf-Gänge-Menü bestimmt besonders gut.
Station im noblen Skiort Zermatt
Plötzlich wird es in allen Klassen dunkel, zumindest draußen. Der Zug entschwindet bei Realp durch den Furka-Basistunnel dem Kanton Uri, um 15 Kilometer später bei Oberwald im Wallis wieder ans Tageslicht zu kommen. Wobei das auch langsam schwächelt. Hier und da sieht man noch ein paar Langläufer über den Schnee gleiten, dann kommen Brig und Visp, wo aufgrund der tiefen Lage im Rhônetal nur noch vereinzeltes Weiß vorherrscht. Was sich rasch wieder ändert, als es auf dem letzten Teilstück durchs Mattertal steil hinauf geht auf 1.600 Meter Höhe, ins dann wieder mit weißen Schneehauben versehene Zermatt.
Eine Besonderheit des autofreien Kurorts erblicken wir erst morgen – die Lage inmitten 38 imposanter Viertausender –, doch die andere kriegen wir auch jetzt um kurz nach 18 Uhr mit: Edelboutiquen, Uhrengeschäfte, Top-Restaurants und etliche Nobelhotels, die sich rund um die teure Bahnhofstraße gruppieren und den Eindruck verfestigen, dass, wer im Matterhorn-Dorf seinen Urlaub verbringt, in der Regel keine Geldsorgen hat. Andernfalls müsste er sich welche machen, gehören doch Skipässe und Nebenkosten zu den teuersten der Alpen. Zum Glück gibt es auch das ursprüngliche Zermatt mit wildromantischen, dunklen Holzhäusern und urigen, erschwinglichen Chalets. Ebenfalls urig: Überall stehen Raclette und Fondue auf der Karte, köstlich und kommunikativ. Um die Kalorien wieder abzubauen, hat Frank etwas angeleiert: eine Fatbike-Tour. Nachts! Auf Schnee! „Ein derartiges Angebot existiert nur zweimal in der Schweiz“, erklärt uns Beat Habegger, den wir gegen halb neun in seinem Radlkeller ums Eck treffen. Eigentlich ist er Skilehrer, aber auf superdicken Reifen durch den Schnee zu heizen – und das ohne die verpönte Elektrounterstützung –, findet der 50-Jährige „einfach cool, oder?“
Tief verschneite Hochgebirgslandschaft
Das ist es in der Tat. Mit einem XXL-Aufzug fahren wir samt fettbereifter Bikes eine Dorfetage höher, um dann über einsame, geräumte Fußwege durch den dunklen Wald zu düsen. Eindrücklich der Moment, als Beat alle bittet, die Lampen auszuknipsen und nur den weiß funkelnden Schnee im schwachen Mondlicht zu genießen. Ein paar Straßenanstiege weiter sollen wir uns dann mit den Rädern eine Skiroute hinabstürzen. Bitte? Doch wer sich einmal überwunden hat, kreischt vor Vergnügen. Beats Tipp: „Laufen lassen, bloß nicht bremsen!“ Klappt oft gut, wobei manch wagemutige Manöver in einem weichen Schneehaufen enden. Zurück im Hotel strahlen wir und unsere roten Backen um die Wette …
Am nächsten Tag wartet dann ein weiterer feiner Zug, die Gornergratbahn. Noch so ein Kandidat, der jüngst Jubiläum gefeiert hat. Zum 125. spendierte man 2023 einen neuen Anstrich in Signalbraun, mit blauem und silbernen Streifen. Zudem wurden drei vergoldete Loks aus den Anfangsjahren der berühmten Zahnradbahn aufgestellt: eine im Ort Täsch, wo heutzutage Auswärtige ihre Autos parken und auf Züge umsteigen müssen, eine im Herzen von Zermatt und eine oben an der Endhaltestelle auf über 3.000 Metern Höhe. Dort hinauf geht es nun, viel steiler und weniger komfortabel als im Glacier Express. Kein Wunder, Hauptzielgruppe sind hier Skifahrer und Bergbesucher. Bedienung, Essen, hoher Komfort? Fehlanzeige. Dafür begeistert der – wenn auch immer wieder wolkenverhangene – Ausblick auf die tief verschneite Hochgebirgslandschaft. Herzerwärmend bei den zweistelligen Minusgraden auf der Terrasse ist die benachbarte „Zooom“-Erlebniswelt samt diesmal echtem 3D-Kino und einem virtuellen Gleitschirmflug durch die Zermatter Bergwelt. Plötzlich ruft uns Frank zu, rasch rauszukommen. Oja, ein Wolkenloch tut sich auf und gibt endlich den Blick auf das 4.478 Meter hohe Matterhorn frei. Tausendmal auf Bildern gesehen, aber live und in Farbe nochmal so viel schöner. In diesem Moment beschließen wir, erst die nächste Bahn ins Tal zu nehmen und einfach noch ein wenig zu staunen.