Derzeit regiert eine rot-grüne Minderheitsregierung unter Kanzler Scholz. In den Bundesländern sind Regierungen von Ministerpräsidenten ohne Mehrheit gar nicht so selten. In Thüringen und Sachsen wird dieses Modell gerade neu aufgelegt. Es kann funktionieren.
Bislang gilt eine Regierung ohne eigene Mehrheit, egal ob in den Landesparlamenten oder dem Bundestag, als parlamentarischer Betriebsunfall und damit als zeitlich begrenzte Übergangslösung. Eine ähnliche Situation wie derzeit im Bundestag gab es bereits schon drei Mal in der 75-jährigen Geschichte des Parlaments. 1966 versuchte Kanzler Ludwig Erhard (CDU), fünf Wochen allein zu regieren, und wurde dann durch die erste Große Koalition abgelöst. 1972 regierte Willy Brandt (SPD) über vier Monate bis zu den Neuwahlen ohne Mehrheit, um dann wieder gewählt zu werden. Zehn Jahre später war es sein Nachfolger und Parteifreund Helmut Schmidt, der allerdings bereits nach zwei Wochen durch das konstruktive Misstrauensvotum von Helmut Kohl (CDU) abgelöst wurde.
Parlamentarischer Betriebsunfall
Ähnliche Konstellationen gab es in den Ländern immer wieder, nur zweimal wurde ganz bewusst eine Landesregierung ohne Mehrheit gebildet, 1975 im Saarland für zwei Jahre und zuletzt in Thüringen 2020. Thüringen ist ein Sonderfall: Gleich drei Koalitionspartner (Linke, SPD, Grüne) regierten ohne Mehrheit, gestützt von der CDU, erfolgreich die gesamte Legislatur durch und sind derzeit immer noch geschäftsführend im Amt. Für den Noch-Ministerpräsidenten Bodo Ramelow (Linke) ist das im FORUM-Gespräch der Beweis: „Minderheitsregierungen sind besser als ihr Ruf und keineswegs ein Hort der politischen Instabilität, wie landläufig immer wieder suggeriert wird.“
So wie es aussieht, wird Thüringen zukünftig wieder von einer Dreiparteienkoalition (CDU, BSW, SPD) ohne eigene Mehrheit, dann unter Tolerierung der Linken, regiert werden. Auch im Nachbarland Sachsen soll es eine Minderheitenregierung aus CDU und SPD werden, nachdem die Koalitionsverhandlungen mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht gescheitert sind. Für den Noch- und sehr wahrscheinlich auch neuen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU) würde sich dann eine völlig neue Mehrheiten-Vielfalt auftun. Er wird zwar versucht sein, irgendwie mit dem BSW seine Gesetze im Parlament durchzukriegen, aber könnte auch bei der Linken und den Grünen für die nötigen Mehrheiten hausieren gehen. Parteipolitisch ein recht farbenfrohes Experiment, das in den Diskussionen bereits auch auf die Bundespolitik abstrahlt.
Zusammensuchen und anschließend verhandeln
In Zeiten von absehbaren Neuwahlen zum Bundestag hat die derzeitige rot-grüne Minderheitsregierung natürlich nur begrenzte Chancen auf wechselnde Bündnisse. Aber der Blick der politisch Agierenden im Berliner Regierungsviertel geht längst über den anberaumten Wahltag am 23. Februar hinaus. Nach den derzeitigen Trends könnte die Union die Wahl gewinnen, wäre aber auf mindestens einen Koalitionspartner (SPD, Grüne) oder sogar beide zusammen angewiesen. Für den von der Union im aufziehenden Wahlkampf propagierten „Politikwechsel“ jetzt nicht gerade eine überzeugende Aussicht. Aber auch eine Situation wie nach den Landtagswahlen in den drei ostdeutschen Bundesländern ist nicht ausgeschlossen. Und dort zeichnen sich eben Minderheitsregierungen ab, die sich je nach Fall ihre Mehrheiten zusammensuchen und verhandeln müssen.