Das deutsche Schiedsrichterwesen rückt aufgrund der Nominierung von Daniel Siebert und Felix Zwayer für die Heim-EM erneut in den Vordergrund. Manuel Gräfe äußert sich kritisch – und legt damit erneut einige Probleme offen.
Im April wurde es öffentlich: Die DFB-Schiedsrichter Daniel Siebert und Felix Zwayer gehören zum internationalen Team für die Fußball-EM in Deutschland im kommenden Sommer. Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) teilte mit, dass die beiden Berliner unter den 18 nominierten Uefa-Schiedsrichtern für das Turnier seien. Außerdem wurden Jan Seidel, Rafael Foltyn, Stefan Lupp und Marco Achmüller als Schiedsrichterassistenten sowie Bastian Dankert, Christian Dingert und Marco Fritz als Videoassistenten berufen. Der 39 Jahre alte Daniel Siebert wird mit der Nominierung nach der EM 2021 und der WM 2022 zum dritten Mal bei einer Endrunde eines großen Turniers dabei sein. Für den 42 Jahre alten Zwayer wird die Europameisterschaft in Deutschland dagegen eine Premiere. „Wir freuen uns über das Vertrauen der Uefa in unsere Schiedsrichter, auch in unsere Arbeit mit den Schiedsrichtern, und wir nehmen das sehr dankbar auf“, sagte der Chef der DFB-Schiedsrichter Lutz Michael Fröhlich. „Alle Nominierten haben hart dafür gearbeitet und sich dieses Highlight in ihrer Karriere redlich verdient“, fügte er an. Eine Nominierung für ein großes Turnier – noch dazu im eigenen Land – sorge für „Gänsehautfeeling“ und sporne zusätzlich an. „Gänsehautfeeling“ sicherlich – aber waren diese Nominierungen auch wirklich redlich verdient? Manuel Gräfe, der in den vergangenen Jahren als Chefkritiker des deutschen Schiedsrichterwesens aufgetreten war, äußerte sich nun erneut und legte dabei den Finger in die Wunde.
Gräfe ist selbst nicht unumstritten
Als Referee war Gräfe ein Ausnahmekönner. Trotz seiner exzellenten Leistungen polarisierte der mittlerweile 50-Jährige durch seine offene Kritik am Schiedsrichterwesen und seinen Vorgesetzten. Bereits 2005 trug er maßgeblich zur Aufklärung des Wettskandals um seinen Berliner Schiedsrichterkollegen Robert Hoyzer bei, indem er den DFB informierte. Nach Erreichen der damals geltenden Altersgrenze von 47 Jahren verklagte Gräfe 2021 den DFB wegen Altersdiskriminierung und erhielt in erster Instanz vom Landgericht Frankfurt Recht. Ihm wird oft vorgeworfen, er sei der Chefkritiker, dabei will er so gar nicht gesehen werden: „Die Unterstellung, ich würde mich so sehen oder gar eine persönliche Agenda verfolgen, ist genauso unzutreffend wie die Behauptung einzelner Journalisten, ich würde über Schiri-Entscheidungen oder die Führung poltern oder wüten. Ich analysiere auf Basis meiner 30-jährigen Tätigkeit und Innensicht Sachverhalte im Schiedsrichterbereich. Wer mich wirklich kennt, weiß, dass ich ein sehr geselliger Typ bin. Meine Motivation war und ist eine andere als häufig unterstellt wird“, sagte Gräfe in einem Interview mit dem „Kicker“. Und diese Motivation stellt er nun unmissverständlich klar: „Ich war selbst ein ambitionierter Fußballer und habe bis zur höchsten Jugendspielklasse gespielt, unter anderem mit Robert Kovac. Ich wollte gewinnen und hatte mit Schiedsrichtern sogar eher meine Probleme wegen ihrer meist distanzierten, oft auch arroganten Art. Irgendwann habe ich dann spontan nach einer Radiowerbung den Schiedsrichter-Schein gemacht, später noch die Trainer-B-Lizenz. Hauptsache, dem Fußball verbunden bleiben. Das ist heute noch mein Antrieb: Ich fühle mich mehr dem Fußball verpflichtet als Verbänden, Funktionären, Strukturen oder auch der Schiedsrichterei. Fehler beziehungsweise Fehlentwicklungen im Schiedsrichterbereich spreche ich an, weil sie dem Fußball schaden. Das lässt sich an den Reaktionen der Spieler, Trainer, Manager und Medien fast wöchentlich festmachen.“
Gräfes harte Kritik an Zwayer
Auch deshalb fühlt er sich jetzt auch wieder verantwortlich, in einem großen Interview seine Meinung kundzutun. Denn auch für den gemeinen Fußballfan war es durchaus überraschend, dass Felix Zwayer und Daniel Siebert bei der Heim-EM für Deutschland an den Start gehen werden. Bei beiden sieht Gräfe nicht die Leistung als entscheidendes Kriterium für ihre Nominierung, sondern ihre Beziehungen: „Wenn ich nüchtern auf die Leistungen schaue, stelle ich fest: Zwayer ist sicher nicht der schlechteste Schiedsrichter der Bundesliga – aber auch nicht der beste. Im Bereich Persönlichkeit, aber besonders auch bei Zweikampfbeurteilung und Spielmanagement finden sich bei ihm nach wie vor limitierende Faktoren für einen Topschiedsrichter.“ Auch Siebert kommt bei Gräfe eher schlecht weg: „Angesichts seiner Fehler in den letzten zwei Jahren in der Ersten und Zweiten Liga sowie gerade auch international kommt die Nominierung doch überraschend. Zwayer war im vergangenen Jahr sogar der etwas Bessere von beiden. Aber, wie kürzlich beim Spiel Leverkusen gegen Stuttgart, auch oft nicht frei von teils massiven Fehlern. Top waren leider beide nicht.“ Gräfe betont dabei jedoch, dass nicht Zwayer und Siebert das Problem sind und er beiden Schiedsrichtern „viel Erfolg“ für die EM wünscht. Auch, wenn er sich sicher ist, „dass beide nicht wirklich viele Spiele leiten werden.“ Das Hauptproblem liegt für Gräfe bei den für die Schiedsrichter verantwortlichen Chefs, die seit 14 Jahren im Amt sind. „Es wurde versäumt die richtigen zu befördern“, sagt er.
Die Richtigen sind für Gräfe nicht Siebert oder Zwayer, Letzterer vor allem nicht, weil er im Jahr 2005 selbst in den Hoyzer-Skandal verwickelt war. „Weil es um die Vorbildfunktion in seiner Rolle als Schiedsrichter geht. Überhaupt nicht um Felix als Person. Doch wenn ein Richter Geld annimmt, um einen kleinen Gangster laufen zu lassen – glauben Sie, er wird dann noch mal Richter am Bundesgerichtshof? Sicher nicht."
Zwayer wurde vom eigenen Verband erst gesperrt und dann wegen Annahme von Geld sowie verspäteter Meldung verurteilt. Erst durch die Verspätung waren weitere Manipulationen Robert Hoyzers wie die im Pokalspiel Paderborn gegen den HSV möglich.“ Dass Zwayer selbstständig diese Manipulation offenlegte, streitet Gräfe ab: „Zwayers Mitteilung an mich kam auch nicht proaktiv. Sondern erst, als ich ihm sagte, dass ich Hoyzer definitiv dem DFB melden werde. Lediglich gemäß Zwayers Lügenkorsett beziehungsweise laut dem Sprech der aktuellen DFB-Schiedsrichterführung ist er nur aufgrund einer Aussage-gegen-Aussage-Situation zwischen ihm und Hoyzer vom DFB verurteilt worden.“
Gräfe kenne die medialen Aussagen Zwayers sowie die Aussagen in den Akten und sagt deshalb: „Deshalb ist es mit meinen Wertevorstellungen und denen vieler anderer Schiedsrichter national wie international nicht vereinbar, dass er als oberster Repräsentant aller deutschen Schiedsrichter eine EM pfeifen soll. Aufgrund der eigentlich strikten Zero-tolerance-Strategie bei Uefa und Fifa zu Match Fixing wurden Schiedsrichter aus anderen Ländern schon lebenslang gesperrt, die nur einen einzigen Anwerbeversuch nicht gemeldet hatten.“
Hoffnungen ruhen auf Knut Kircher
Doch nicht nur mit den großen Entscheidungen scheint das Schiedsrichterwesen öfter mal danebenzuliegen, sondern auch mit der Nachwuchsförderung. „Bestes Beispiel ist doch VAR-Chef Jochen Drees. Er kam erst mit 35 Jahren in die Bundesliga. Heute wird Schiedsrichtern mit 23 in der Landesliga gesagt: Du bist zu alt für den Aufstieg, wir nehmen einen Jüngeren. Diesbezüglich bekomme ich viele Nachrichten aus allen Landesverbänden. So nimmt man vielen Talenten eine Perspektive, die sich vielleicht etwas später entwickeln oder später angefangen haben. Auch das führt zum enormen Verlust an Schiedsrichtern. Heute hören viele frustriert auf, weil sie mit Anfang, Mitte 20 schon als zu alt gelten, um noch weiterzukommen. Das alles sorgt für eine Gemengelage, in der seit Volker Roths Abschied vor 14 Jahren die Zahl der Schiedsrichter von 80.000 auf unter 50.000 gesunken ist“, sagt Gräfe.
Doch wo gibt es nun Hoffnung? Für Manuel Gräfe ist es Knut Kircher, ehemaliger Bundesliga-Schiedsrichter und Manager bei Mercedes-AMG, der nun Chef der deutschen Schiedsrichter wird: „Ex-DFB-Präsident Reinhard Grindel fragte mich bei Fandels Ende als Chef nach geeigneten Nachfolgern. Da nannte ich Kircher und Fröhlich. Unter Lutz lief es aus genannten Gründen leider nicht gut, Knut hat als Manager aus der freien Wirtschaft sicher einen anderen Führungsansatz. Sein Eingangsstatement, es solle wieder mehr um Leistung, Klarheit und Transparenz gehen, war vielversprechend.“ Die Frage ist: Kann ein Einzelner das Schiedsrichterschiff wieder von innen stabil auf Kurs bringen oder wird er politisch ausgebremst? Das Thema bleibt jedenfalls spannend.