Eine Region, zwei Sprachen, drei Kulturen – so wird der Peipussee im Osten von Estland beworben. Durch den dünn besiedelten Landstrich verläuft die Zwiebelroute und lädt zu Begegnungen mit interessanten Menschen und deutsch-baltischem Erbe ein.
Die Pianoklänge sind verhallt, die Gäste sind mit Autos und Fahrrädern davongefahren. „Gute Nacht! Vielen Dank! Bis zum nächsten Mal!“ Ergo-Hart Västrik, der Hausherr, hat ihnen nachgewinkt. Jetzt ist es wieder still in Turgi Talu. Nur der Wind ist zu hören, der durch die Kronen der alten Bäume streift. „Das Leben umzukrempeln und hierher zu ziehen, war unsere Rettung“, sagt Västrik. Rund 30 Jahre lang war er Dozent für Ethnologie im nahe gelegenen Tartu, Estlands zweitgrößter Stadt. Mit der Zeit habe ihn der Beruf ausgelaugt. „Burn-outs, Bluthochdruck, Übergewicht. Und unsere Ehe stand auch vor dem Aus“, erzählt der hochgewachsene, schlanke Mann mit den wasserblauen Augen. 2020, als die Corona-Pandemie das Leben lähmte, hat er gemeinsam mit Ehefrau Veinika den Neuanfang gewagt – auf Turgi Talu. Das Gehöft liegt nur wenige Kilometer vom Westufer des Peipussees entfernt, der mit seinen 3.555 Quadratkilometern etwa siebenmal größer als der Bodensee ist. Weil die Grenze zu Russland durch das riesige Binnenmeer verläuft, gibt es hier keinen nennenswerten Schiffsverkehr. Der „Peipsi“, wie ihn die Esten nennen, ist ein verträumtes Freizeitrevier mit sandigen Badebuchten und schilfgesäumtem Ufern. In dieser Umgebung gibt Textil-Designerin Veinika nun Workshops an den Webstühlen unter dem Dach des alten Bauernhauses. Ihr Ehemann hat sich auf gluten- und zuckerfreie Speisen spezialisiert und verwöhnt Gäste mit fantasievollen Buchweizen-, Gemüse-, Pilz- und Kräuterkreationen.
Kreative zieht es in diese Gegend
Auch Raul Oreškin und Kaili Kask haben sich in diesen Landstrich verliebt. Das Paar aus Tartu ist mit seiner Galerie von der Stadt ins 170-Seelen-Dorf Varnja gezogen. Stammkunden halten ihnen die Treue. „Die meisten machen hier aber nur wegen unseres Garten-Cafés Halt“, sagt Oreškin, als er an diesem heißen Spätsommertag frischgebackene Waffeln und hausgemachte Limonade aus dem Fenster reicht.
Neben den jüngst zugezogenen Kreativen aus der Stadt bewohnen Angehörige einer konfessionellen Minderheit die winzigen Dörfer am See. Es sind Nachfahren jener Russen, die aus religiösen Gründen im 17. Jahrhundert aus dem Zarenreich flüchteten. Die vom russischen Patriarchen angeordneten Änderungen im Ritus der russisch-orthodoxen Kirche lehnten die sogenannten Altgläubigen ab. Deshalb drohten ihnen in ihrer alten Heimat drastische Strafen. In ihren neuen Siedlungen am Peipussee etablierten die Altgläubigen den Zwiebelanbau in großem Stil, der noch heute typisch für diese Gegend ist. Gelegenheit, Zwiebelkuchen in etlichen Variationen zu verkosten, bietet sich beim Zwiebelmarkt Ende August und an einem Sonntag im September. Dann laden die Höfe entlang der „Zwiebelroute“ zum Schlemmen ein. Es gibt Deftiges vom Grill, saure Gurken, Kaffee, Schnaps und Zwiebelkuchen, der auf jedem Hof nach einem anderen Rezept gebacken wird.
Etwa fünf Kilometer vom Seeufer entfernt liegt Schloss Alatskivi – eine Touristenattraktion. Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich Baron von Nolcken den stattlichen Landsitz errichten lassen. Seine Familie gehörte dem deutschstämmigen Adel an, der sich nach den Eroberungen des Deutschritterordens im Mittelalter als Oberschicht im Baltikum etablierte. war das Agrarland zu fast 100 Prozent im Besitz dieser Adelsfamilien, während sich der Großteil der estnischen Bevölkerung als besitzlose Landarbeiter verdingen musste. Die Verhältnisse änderten sich erst, als es im Zuge der Freiheitskämpfe 1920 zur Enteignung kam. „Natürlich kann man die deutsch-baltische Vergangenheit sehr kritisch sehen. Aber sie ist Teil unserer Geschichte“, sagt Külli Must. Die pensionierte Lebensmittelchemikerin hat sich als Hobbyhistorikerin durch das Archiv von Schloss Alatskivi gearbeitet. Angeregt durch historische Einblicke nahm die Estin Kontakt auf mit den Nachfahren des einstigen Schlossherrn auf, dessen Familie nach der Enteignung nach Deutschland übergesiedelt war. Im Laufe der Zeit hat sich eine Brieffreundschaft entwickelt. Irgendwann haben beide Seiten festgestellt, dass sie eine Leidenschaft teilen – Obstweine. Inzwischen betreibt Külli Must die Herstellung von Obstweinen professionell, bietet diverse Sorten, die den Vergleich mit „echten“ Weinen nicht zu scheuen brauchen, in ihrem Häuschen nahe des Schlosses zur Verkostung und zum Verkauf. „Vor ein paar Jahren haben die von Nolcken das Schloss besucht und wir haben uns endlich auch persönlich kennengelernt“, sagt die Endsechzigerin und ihre Augen leuchten. „Die Begegnung war wunderbar. Wir haben viel geredet, viel gelacht und jede Menge Zwetschgenwein getrunken.“