Juventus Turin steckt mitten im Umbruch – sportlich wie finanziell. Nach der gescheiterten Ära von Thiago Motta soll nun Igor Tudor den Traditionsclub in den letzten Saisonspielen stabilisieren.

Mit alten Geschichten und Erinnerungen stellte sich vergangene Woche ein wohlbekanntes Gesicht bei Juventus Turin vor. Igor Tudor nahm seine erste Pressekonferenz als Cheftrainer des italienischen Erstligisten zum Anlass, um über seine Vergangenheit zu sprechen – über seine Zeit als Spieler in den 2000er-Jahren und später als Co-Trainer in der Saison 2020/21. Dabei erinnerte er sich an Zinédine Zidane, dem er aus Respekt den Vortritt lassen wollte, der dies jedoch ablehnte. Ebenso sprach er von Alessandro Del Piero, der ihm einst riet, seine Socken nicht falsch herum auszuziehen, um es dem Zeugwart beim Waschen zu erleichtern. Auch seine ehemaligen Trainer erwähnte Tudor, darunter den damals noch jungen Carlo Ancelotti, Fabio Capello und Marcello Lippi, der ihn einst von Split nach Italien holte. „Wenn ich an ihn denke, denke ich an Juve“, sagte Tudor über Lippi: „Ich liebe ihn.“
Tudor sprach von der Vergangenheit

Doch Tudor blickte nicht nur zurück, sondern stellte auch seine Vision vor: „Ich wünsche mir eine mutige Mannschaft, die niemals aufgibt. Ich greife gerne an und bringe viele Spieler in die Offensive, aber ich will keine Gegentore kassieren“, erklärte er seinen bevorzugten Spielstil. Dabei betonte er, worauf er besonderen Wert lege: „Die Priorität ist, dem Team Freiheit und Unbeschwertheit zu verleihen, ohne dabei an Intensität und Kampfgeist einzubüßen. Wir müssen auf allen Ebenen arbeiten – taktisch, mental und körperlich –, stets im Bewusstsein unserer Identität. Ich habe mich stets Herausforderungen gestellt und wünsche mir Spieler mit derselben Mentalität, die den Wert ihres Trikots erkennen und bereit sind, Verantwortung zu übernehmen. Vorbilder sind essenziell“, wird der frühere Verteidiger, der mit Juventus 2003 das Champions-League-Finale erreichte, auf der Vereinswebseite zitiert.
Tudor ist sich jedoch bewusst, dass Veränderungen nicht über Nacht geschehen. Deshalb mahnt er zur Geduld, auch wenn er weiß, dass diese in der aktuellen Lage schwer einzufordern ist. „Wir wissen, dass wir eine schwierige Phase durchleben und wenig Zeit für Veränderungen bleibt, aber es darf keine Ausreden geben“, forderte er von seinen Spielern.
Fehler bei der Kaderplanung

Wie schnell ein Trainer einen Verein für sich gewinnen kann, lässt sich nicht messen. Doch Tudor könnte mit seiner emotionalen Pressekonferenz neue Maßstäbe gesetzt haben. Seine Erinnerungen an frühere Zeiten waren ein Teil seines ersten Auftritts, doch er scheute sich nicht, auch die gegenwärtigen Herausforderungen offen anzusprechen. Schließlich sitzt er nicht ohne Grund auf dem Trainerstuhl: Er soll in den verbleibenden Spielen eine Saison retten, die als Neuanfang geplant war, nun aber droht, den Club um Jahre zurückzuwerfen.
Um das ganze Ausmaß zu verstehen, muss man einen Blick zurückwerfen. Im vergangenen Sommer wurde nicht nur ein neuer Trainer präsentiert, sondern ein revolutionärer Plan für Turins Zukunft. Thiago Motta stand mit seinen Ideen für einen modernen Fußballstil, geprägt von Elementen großer Trainer der Vergangenheit. Sein Erfolg mit dem FC Bologna, mit dem er sensationell die Champions League erreichte, machte ihn beinahe zum Guru in der Fußballwelt. Turin wollte ihm die Bühne für seine Visionen bieten – der Club wurde radikal umgebaut. Mit Verpflichtungen wie Teun Koopmeiners für über 50 Millionen Euro von Atalanta Bergamo wurde der Kader neu geformt, während verdiente Spieler wie Federico Chiesa kurzerhand abgegeben wurden. Mottas öffentlich vorgetragene Liste an unerwünschten Spielern sorgte für Aufsehen. Doch im Nachhinein zeigt sich: Bereits zwei Monate nach seinem Amtsantritt deutete sich sein Scheitern an.

Lange hielt man ihm spielerische Defizite zugute, da man auf einen Entwicklungsprozess setzte. Auch wenn es Rückschläge gab, wurde dies durch Siege wie gegen Manchester City in der Champions League ausgeglichen. In der heimischen Liga blieb Juventus zwar ohne Niederlagen, jedoch mit zahlreichen Unentschieden und einer wenig überzeugenden Offensive. Intern brodelte es jedoch bereits im Winter. Als Motta das Vertrauen wichtiger Spieler wie Dusan Vlahovic verlor, spiegelte sich das auch auf dem Platz wider. Das Champions-League-Aus gegen Eindhoven, das Pokal-Aus gegen Empoli, eine 0:4-Niederlage gegen Atalanta Bergamo und ein 0:3 gegen AC Florenz – eine solche Negativserie übersteht kaum ein Trainer. Laut Medienberichten folgten daraufhin intensive Gespräche zwischen Manager Cristiano Giuntoli und Motta, die beide als Verlierer aus der Situation hervorgingen.
Finanzielle Probleme weiter verschärft
Motta wurde zum Symbol einer Trainer-Generation, die für ihre Kompromisslosigkeit bekannt ist. Er versuchte, seine Vision ohne Rücksicht durchzusetzen, anstatt sich anzupassen. Doch Genie allein reicht in einem Topclub nicht aus – insbesondere dann nicht, wenn der Verein vollständig umgestaltet werden muss, um eine Philosophie umzusetzen. Es ist gut möglich, dass Motta in Turin seine beste Gelegenheit verpasst hat, sich als Top-Trainer zu etablieren. Beim Abschied ließ man es sich nicht nehmen, ihm eine kleine Spitze mitzugeben: Der FC Bologna steht ohne ihn erneut auf Rang vier der Tabelle – vor Juventus. Auch Juventus hat Fehler gemacht. Giuntoli ließ zu, dass nach dem eigenwilligen, aber erfolgreichen Massimiliano Allegri erneut nicht der Verein, sondern der Trainer die Richtung vorgab. Das dürfte sich nun ändern – zunächst unter Tudor, einem leidenschaftlichen, aber bislang wenig erfolgreichen Trainer, der immerhin die Liga bestens kennt. Langfristig wird Juventus jedoch eine neue Lösung suchen, möglicherweise nach der Club-WM im Sommer. Ob es Cesc Fàbregas wird, dem in Italien derzeit viele Trainerposten nachgesagt werden, oder doch Antonio Conte, der aktuell mit Napoli um den Titel kämpft, bleibt abzuwarten.

Das Misstrauen gegenüber Trainern, die ihre eigenen Konzepte kompromisslos durchsetzen wollen, wächst jedoch nicht nur in Turin, sondern auch anderswo in Europa. Dies ist das Vermächtnis der kurzen Ära Thiago Motta.
Apropos Erbe der Ära Motta: Die Entlassung des Trainers hat die finanziellen Probleme von Juventus Turin weiter verschärft. Die Holding Exor, Hauptaktionär des börsennotierten Clubs, kündigte eine mögliche Kapitalerhöhung von 15 Millionen Euro an. Motta, der einen Vertrag bis 2027 besitzt, erhält weiterhin sein üppiges Gehalt – eine zusätzliche Belastung für den ohnehin verschuldeten Verein. Aufgrund unvorhersehbarer Ereignisse, darunter auch Mottas Entlassung, wichen die Finanzzahlen erheblich von den Erwartungen ab. Eine endgültige Entscheidung über die Kapitalerhöhung soll nach Saisonende getroffen werden.
In den vergangenen fünf Spielzeiten häufte Juventus Verluste von insgesamt 882 Millionen Euro an, allein in der Spielzeit 2023/24 – ohne Teilnahme an der Champions League – beliefen sich diese auf 199 Millionen Euro. Der Verein steht an einem kritischen Punkt – sportlich wie finanziell.