Pflege gehört zum Alltag vieler Menschen und bleibt dennoch oft unsichtbar. Die strukturellen Probleme sind bekannt, doch politische Lösungen kommen nur zögerlich. Dabei wächst der Handlungsdruck mit jedem Jahr.
Ob in der Familie, im Beruf, im Ehrenamt oder in der öffentlichen Debatte – Pflege begegnet Menschen in den verschiedensten Zusammenhängen. Sie ist fürsorglich und fordernd, lebensnah und systemrelevant. Vielerorts gelingt sie im Stillen, getragen von Fachkräften, Angehörigen und engagierten Netzwerken. Gleichzeitig wird sie zunehmend zum Prüfstein gesellschaftlicher Solidarität – und damit zu einer der zentralen sozialen Fragen der Gegenwart.
Deshalb steht Pflege aktuell an einem entscheidenden Wendepunkt. Die politischen, gesellschaftlichen und demografischen Entwicklungen der vergangenen Jahre haben deutlich gemacht, dass die bisherigen Strukturen an ihre Grenzen geraten sind – sowohl bei der Finanzierung als auch in der Organisation der Versorgung. Der diesjährige Tag der Pflege fällt daher in eine Zeit grundlegender Weichenstellungen: Mit dem Regierungswechsel in Berlin verbindet sich nicht nur symbolisch, sondern ganz konkret die Hoffnung auf strukturelle Reformen, die über politische Ankündigungen hinausgehen.
Die Herausforderungen sind vielschichtig. Sie betreffen die Rahmenbedingungen in Pflegeeinrichtungen, den zunehmenden Mangel an Fach- und Lehrkräften, die finanzielle Stabilität der Pflegeversicherung, die Durchlässigkeit im Ausbildungssystem und nicht zuletzt die Frage, wie Pflege in Zukunft wohnortnah, gerecht und qualitativ hochwertig organisiert werden kann. Parallel dazu wächst die Zahl der Pflegebedürftigen kontinuierlich – und damit auch der Druck auf stationäre und ambulante Einrichtungen, auf Kommunen und nicht zuletzt auf pflegende Angehörige. Das Pflegesystem befindet sich damit in einem Spannungsfeld zwischen steigender Nachfrage, begrenzten Ressourcen und einem Reformbedarf, der sich nicht mehr ignorieren lässt. Die neue Bundesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag zwar zentrale Projekte wie das Pflegekompetenz- und Fachassistenzgesetz, die Einführung der Advanced Practice Nurse und die Weiterentwicklung der Krankenhausstruktur benannt. Doch entscheidend wird sein, ob diese Vorhaben auch mit dem nötigen Tempo und in ausreichender Tiefe umgesetzt werden.
Das Thema der Pflege ist dabei nicht nur eine Frage der Finanzierung oder der Versorgung, auch ist es Ausdruck des gesellschaftlichen Umgangs mit Alter, Krankheit, Verantwortung und Teilhabe. Die politische Gestaltung der Pflege berührt grundlegende Werte: Wie werden Sorgebeziehungen organisiert? Welche Rolle spielt der Staat – und welche Rolle spielen Kommunen, Zivilgesellschaft und Familien? Welche Ansprüche haben Pflegebedürftige in einer alternden Gesellschaft – und wie wird diesen Ansprüchen Rechnung getragen?
Weichen stellen für morgen
Diese Fragen bilden den Ausgangspunkt für das Thema der Woche dieser FORUM-Ausgabe. Im Zentrum stehen Stimmen aus Wissenschaft, Praxis und Berufsverbänden, die mit Blick auf aktuelle Entwicklungen Einschätzungen geben und Handlungsspielräume aufzeigen.
Im politischen Auftakttext geht es um die Erwartungen an die neue Bundesregierung, unter der Leitung von Gesundheitsministerin Nina Warken (CDU). Darin werden die aktuellen Gesetzesvorhaben, Reformblockaden der Vergangenheit sowie neue Ansätze für eine zukunftsfähige Pflegeversorgung analysiert. Besonderes Augenmerk liegt auf den Fragen, wie sich Bürokratie abbauen, Versorgungsqualität sichern und die Pflegeversicherung stabilisieren lassen – insbesondere im Hinblick auf die absehbar steigenden Eigenanteile und Beitragssätze.
Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Studie „Pro-Pflegereform“, erarbeitet unter der wissenschaftlichen Leitung von Prof. Dr. Heinz Rothgang (Universität Bremen). Die Studie plädiert für eine tiefgreifende Neuordnung der Pflegeversicherung und schlägt vor, die Sektorentrennung zwischen ambulanter und stationärer Versorgung aufzuheben, um eine bedarfsorientierte, leistungsunabhängige Pflege zu ermöglichen. Ziel ist unter anderem die Begrenzung des monatlichen Eigenanteils auf maximal 700 Euro – bei gleichzeitiger Vereinfachung der Finanzierung und Förderung alternativer Wohnformen.
Ein strukturpolitischer Blick auf die Pflege folgt im Gespräch mit Reiner Feth, Ehrenmitglied im Paritätischen Wohlfahrtsverband. Er betont die Rolle der Kommunen bei der Organisation wohnortnaher Pflegeangebote. Themen wie Caring Communitys, Sozialraumorientierung und die Integration von Pflege in die kommunale Daseinsvorsorge rücken in den Fokus. Dabei wird deutlich: Ohne die gezielte Stärkung der Kommunen bleiben viele Reformvorhaben Stückwerk.
Auch das Thema Ausbildung und Fachkräftebedarf nimmt einen wichtigen Platz ein. Im Interview mit Carsten Drude, Leiter der Franziskus Gesundheitsakademie Münster, werden Herausforderungen und Strategien rund um die Pflegeausbildung diskutiert. Der Zugang zur Pflegeausbildung für Personen ohne Schulabschluss, der Mangel an qualifizierten Lehrkräften und die Notwendigkeit, neue Bildungswege zu schaffen, machen deutlich: Die Pflege der Zukunft beginnt in der Ausbildung – und diese braucht Mut zu Reformen.
Ergänzt wird unser Thema der Woche durch einen Blick auf Karrierewege und Professionalisierung in der Pflege. Welche Möglichkeiten bestehen, sich im Beruf weiterzuentwickeln? Welche Rolle spielt akademisierte Pflege? Und wie kann der Beruf Pflege langfristig attraktiver gestaltet werden, ohne die Anschlussfähigkeit zu anderen Berufsgruppen zu verlieren?
Das Titelthema zeigt in seiner Breite: Pflege ist mehr als ein Politikfeld – sie ist ein Querschnittsthema, das Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur gleichermaßen berührt. Die Stimmen verdeutlichen nicht nur die Komplexität der Aufgaben – sie machen auch deutlich, wie viel Fachwissen, Engagement und Gestaltungswillen bereits vorhanden ist. Entscheidend ist, dass aus dieser Vielfalt an Expertise endlich politische Konsequenzen folgen. Der Tag der Pflege liefert dafür nicht nur den Anlass, sondern eine notwendige Erinnerung.