Oleksandr Denysenko und seine Frau Viktoriya flüchteten mit ihren vier Kindern von Kiew nach Berlin. Die Familie ist überwältigt von der Hilfsbereitschaft, mit der sie empfangen wurde. Doch die Sorge um das Wohlergehen der Zurückgebliebenen bleibt.
Wollten sie es wagen, ihre Flucht aus dem kleinen Ort im Nordwesten von Kiew mit dem Auto zu versuchen? Man wusste doch, dass die russischen Soldaten auch auf zivile Autos schossen, die für die Evakuierung der Menschen aus den umkämpften Gebieten genutzt wurden. Und wie sicher waren überhaupt noch die Straßen bei einer Frontlinie, die sich ständig veränderte? Bekannte waren dieses Risiko eingegangen, das Auto geriet unter Beschuss der Angreifer. Die Eltern, die vorne saßen, überlebten, ihre drei Kinder auf dem Rücksitz nicht. Oleksandr Denysenko (47) und seine Frau Viktoriya (48) haben sich in Kiew kennengelernt. Eine große Liebe, sie gehen zärtlich miteinander um, sie himmeln sich an bis heute. Die Familie zusammenhalten, die Kinder schützen, darum ging es ihnen. Nach langem Zögern beschlossen sie, mit ihren vier Kindern für ihre gemeinsame Flucht einen Zug zu nutzen. Das war am 3. April letzten Jahres. „Wir nehmen den Zug“, das klingt nach Normalität, aber es herrschte das Chaos. Der Bahnhof war mit Menschen verstopft, kein Fahrkartenschalter war in Betrieb, kein Schaffner weit und breit zu sehen, sich widersprechende Gerüchte und Ansagen. Schreiende und weinende Menschen, Alte und Kinder. Welcher Zug? Wann? Auf welchem Gleis? In welche Richtung? Nach stundenlangem Warten war das alles plötzlich egal, Hauptsache raus aus Kiew.
Dicht gedrängt auf dem Boden im Zug konnten sie flüchten
Die Familie Denysenko hatte Glück. Sie blieb tatsächlich zusammen und erreichte, dicht gedrängt auf dem Boden sitzend, nach zwölf Stunden Lemberg. Hier wurden sie von zahlreichen Freiwilligen empfangen, es wurde heißer Tee ausgeschenkt, Sandwiches und Süßigkeiten verteilt. Nach fünf Stunden Wartezeit ging es weiter, vor der Grenze erneut 15 Stunden Aufenthalt, bis sie schließlich im polnischen Rzepin strandeten. Von dort brachte sie ein Freund mit einem Kleinbus nach Berlin.
Wenn Oleksandr am sorgfältig gedeckten Kaffeetisch, flankiert von Frau und Kindern, von der Flucht erzählt, so scheint er selbst noch ein wenig verwundert, dass sie alle unversehrt in Deutschland angekommen sind und freundlich aufgenommen wurden. Nachdem die sechsköpfige Familie zunächst vorübergehend in einem einzigen Zimmer und danach in einer kleinen Drei-Zimmer-Bleibe untergebracht wurde, konnte sie im August letzten Jahres eine großzügige Vier-Zimmer-Wohnung in einem ruhigen Viertel von Berlin-Pankow beziehen. Von der Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft der fremden Menschen sind die Denysenkos sehr beeindruckt. Denn gerade in den ersten Wochen und Monaten, in denen vieles improvisiert und neu organisiert werden musste – und dies, ohne ein Wort Deutsch zu können – waren es spontane Zusagen und die Hilfsbereitschaft von Nachbarn und neuen Bekannten, die die besten Voraussetzung für eine zügige Integration ermöglichten. Die Kinderbetten, der Fernseher und das Sofa wurden der Familie von den Vermietern geschenkt, das Jobcenter Pankow übernahm vorläufig die Miete und Beihilfen. Die Familie scheint sich bei jeder Gelegenheit für ihre freundliche Aufnahme bedanken zu wollen. Wer sie besucht, wird herzlich aufgenommen und der Tisch wird reichlich gedeckt, wie es in der Ukraine üblich ist.
Oleksandr, der in Kiew Rechtswissenschaft studiert hat, ist heute bei Green Wind, einem Unternehmen im Bereich der grünen Energie, beschäftigt. Dort arbeitet er in der Abteilung Managementsysteme, seine Arbeit erledigt er mithilfe von Online-Übersetzern und all die hilfsbereiten Kollegen sprechen gutes Englisch. Seine Frau, eine gelernte Grundschullehrerin, besucht – wie alle anderen Familienmitglieder auch – Deutschkurse, engagiert sich ehrenamtlich bei der Tafel, arbeitet zwei Stunden in einem Kindergarten und singt in dem Chor Niederschönhausen. Auch alle vier Kinder – Nadia (19), Angelina (12), Artem (10) und Andriy (8) – finden sich Schritt für Schritt in ihrer neuen Umgebung zurecht. Während Nadia ihr Fernstudium an der Universität Kiew fortsetzt, besuchen die anderen drei Willkommensklassen und schließen langsam neue Bekanntschaften.
Die Kinder mögen die Atmosphäre in ihrer Schule, vor allem die Lehrer seien gegenüber den Schülern freundlicher und sanfter als in der Ukraine. Über das Internet bleiben sie parallel dazu mit ihren Schulen und Freunden in der Heimat verbunden. Und natürlich gibt es ein Problem: Da nun auch zahlreiche ukrainische Kinder an der Schule sind, sprechen sie alle Ukrainisch, wenn sie unter sich sind. Ihre Deutschkenntnisse entwickeln sich deshalb langsamer als erhofft. Noch lange werden sie in zwei verschiedenen Welten zurechtkommen müssen, sie vermissen ihre Schulkameraden, vor allem aber die Katze Karamelka und den Hund Lassie, die sie nicht mitnehmen konnten. Wenn sich die Familie von den täglichen Problemen ablenken will, fahren sie gemeinsam mit dem Fahrrad durch die Gegend. Auch die Räder wurden ihnen geschenkt.
Die Nachrichten aus ihrer Heimat bleiben beunruhigend, ihr Wohnort wurde mittlerweile evakuiert. So gut es geht, halten sie engen Kontakt zu Freunden und Familienmitgliedern, aber die Sorgen um das Wohlergehen der Zurückgebliebenen bleiben. Was wird aus Oleksandrs älterem Bruder, der in der ukrainischen Armee gegen die russischen Soldaten kämpft? Davor war der Bruder Gemeinderat und hat sich an der Revolution auf dem Maidan beteiligt.
Oleksandr selbst wurde nicht eingezogen, denn nach ukrainischem Recht unterstehen Eltern, die drei oder mehr minderjährige Kinder zu versorgen haben, nicht der Wehrpflicht. So fällt es ihm leichter, seine Familie zu schützen, statt an der Front zu kämpfen. Aber der Krieg spaltet eben auch die Familie. Oleksandrs Schwester lebt in Russland, sie verurteilt den russischen Angriff. Sein Neffe Yuri hingegen gibt den USA die Schuld. „Die russische Propaganda hat also ihre Aufgabe erfüllt“, sagt Oleksandr.
Den Kontakt zum Neffen hat er deshalb abgebrochen. Überhaupt hat Oleksandr Schwierigkeiten, die Haltung des Westens gegenüber Russland nachzuvollziehen. Der Krieg habe bereits 2014 begonnen, auch wenn er in weiten Teilen des Landes nicht zu spüren gewesen sei. Die zögerlichen Reaktionen der Nato-Staaten habe Putin als stillschweigende Zustimmung des Westens verstanden, die Ukraine der Einfluss-Sphäre Moskaus zuzuschlagen. Und „der neue Zar im Kreml“ will noch mehr, davon ist Oleksandr überzeugt.
Die Familie ergreift vielfältige Initiativen
Vor dem Krieg hatte niemand in der Familie daran gedacht, nach Deutschland zu gehen. Ja, es gebe in der Ukraine Korruption und Oligarchen, aber die Entwicklung seiner Heimat sei positiv: Meinungsfreiheit, faire Wahlen, ein relativ guter Lebensstandard und ein hohes Niveau in Bildung und Wissenschaft. Und dann über Nacht die Flucht nach Westen. Hatten Sie Vorurteile, was wussten sie über Deutschland? Man sagt, und Oleksandra lacht dabei, die Deutschen seien eher verschlossen, stets pünktlich und alles sei bis ins Kleinste geregelt. Nun wisse er nicht, wie sich das Verhalten und die Mentalität der Menschen in anderen Teilen des Landes anfühle, aber Berlin? Da seien die Leute großzügig, fröhlich und hilfsbereit. „Und sie versuchen immer zu verstehen, was wir ihnen sagen wollen, auch wenn sie kein Wort Ukrainisch können.“ Das Deutsche habe überhaupt einen schönen Klang, viel weicher und angenehmer, als immer behauptet würde.
Was Oleksandrs allerdings überhaupt nicht versteht, ist die mangelnde digitale Entwicklung. Während man in der Ukraine über ein Smartphone sämtliche Informationen erhalten und Dienstleistungen bestellen könne, brauche man hierzulande viel Papier für Werbematerial und Verpackungen, ganz viele unterschiedliche Formulare und noch mehr Termine. Warum würden Dokumente nicht einfach auf ein persönliches elektronisches Konto hochgeladen und digital signiert, fragt er sich.
Wenn man so will, sind die Denysenkos eine Vorzeigefamilie in Sachen Integration. Sie ergreifen vielfältige Initiativen, sie packen an, sie lassen sich auf deutsche Verhältnisse ein. Ihre Verbindung zur Heimat halten sie durch das Internet und durch Gespräche mit Freunden und Bekannten in der Ukraine aufrecht. Aber sie haben auch das Gefühl, dass in Deutschland nicht wirklich offen über die Fragen zu Krieg und Frieden diskutiert wird, und sie verstehen die vermeintliche Zurückhaltung nicht.
So lange zu Hause in der Ukraine Krieg herrscht, wollen sie nicht zurück. Und sie haben Fragen an ihr Gastland: Wird Deutschland alle geflüchteten Menschen nach dem Kriegsende sofort wieder zurück in die Ukraine schicken? Aber sie haben auch Fragen an sich: Werden wir wirklich zurückkehren, wenn das alles vorbei ist? Wird man uns dort brauchen, vielleicht als Spezialisten für den Wiederaufbau? Sie sind hin und her gerissen. Aber vielleicht ist es ja schlicht noch zu früh, auf diese Fragen zu antworten.