Neben klassischen, stoffgebundenen Abhängigkeiten zählen auch Verhaltenssüchte wie Spielsucht oder Sexsucht zu den Suchterkrankungen. Dr. Julia Arnhold, Diplom-Psychologin und Psychotherapeutin, sprach mit FORUM über Arten, Biologie und Therapie.
Frau Dr. Arnhold, was genau sind Verhaltenssüchte?
Von einer Verhaltenssucht sprechen wir, wenn eine bestimmte Aktivität oder ein bestimmtes Verhalten im Alltag so viel Raum einnimmt, dass andere wichtige Lebensbereiche oder Verpflichtungen vernachlässigt werden und Betroffene das Ausmaß und die Intensität der Beschäftigung mit der Aktivität nicht mehr kontrollieren können, sodass schädliche Konsequenzen entstehen. Betroffene erleben einen starken Drang, der Aktivität nachzugehen, den sie nicht mehr steuern können.
Welche Süchte zählen zu den Verhaltenssüchten?
Es gibt nach heutigem Kenntnisstand sechs Verhaltensbereiche, die zur Sucht werden können: Im Internet unterwegs sein, dazu gehört alles vom Streaming über Surfen bis zur Nutzung sozialer Medien; Sexualität, also Sex mit einer anderen Person haben oder Pornografie konsumieren sowie Masturbation; Kaufen, online oder vor Ort im Geschäft; Arbeiten; Sport treiben; und Spielen, klassisches Glücksspiel, Sportwetten und Online-Gaming.
Fast jeder von uns kauft über oder nutzt das Internet, arbeitet, treibt Sport. Ab wann wird das zur Sucht?
Von einer Sucht sprechen wir, wenn das Verhalten zur wichtigsten Aktivität im Alltag wird und Gedanken, Gefühle und Handlungen davon beherrscht sind, sodass andere Lebensbereiche vernachlässigt werden. Außerdem bekommt das Verhalten im Rahmen der Sucht eine stimmungsregulierende Funktion, wird also ausgeübt, um unangenehme Gefühle zu dämpfen oder Hochgefühle herbeizuführen. Um diesen Effekt auf die Stimmung zu erreichen, werden immer höhere „Dosen“ notwendig. Zum Beispiel müssen die Wetteinsätze höher werden oder die Zeit, die mit Sport verbracht wird, muss gesteigert werden, um etwa Gefühle von Angst oder Einsamkeit zu regulieren. Neben diesem Toleranzeffekt erleben Menschen mit einer Verhaltenssucht auch Entzugssymptome, wenn sie der Aktivität nicht wie gewünscht nachgehen können. Sie werden zum Beispiel nervös oder gereizt oder schlafen schlecht. Versuche, das Verhalten zu reduzieren oder sein zu lassen, scheitern in der Regel im Ansatz. Es besteht keine Kontrolle mehr darüber, in welchem Ausmaß und in welcher Intensität dem Verhalten nachgegangen wird. Darüber hinaus führt das Verhalten zu Problemen und Konflikten mit anderen Menschen.
Ist Sucht eine Krankheit?
Ja. Die stoffgebundenen Süchte sind schon lange als psychische Erkrankungen anerkannt und definiert. Bei den Verhaltenssüchten sind am besten die Spielsucht und die Sexsucht erforscht, weshalb auch sie inzwischen international als anerkannte Krankheiten gelten. Die Internetsucht wurde jüngst als Störungsbild definiert und in das amerikanische Diagnosesystem aufgenommen, allerdings mit dem Hinweis, dass noch weitere Forschung notwendig ist. Bei den anderen Verhaltenssüchten besteht sogar noch mehr Forschungsbedarf, weshalb sie noch nicht verbindlich definiert sind in den Diagnosesystemen. In der Praxis sehen wir aber denselben Leidensdruck und dasselbe Erscheinungsbild auch bei Kaufsucht, Sportsucht und Arbeitssucht.
Neigen einige Menschen mehr zu Verhaltenssüchten als andere?
Ja. Wir gehen davon aus, dass es sowohl neurobiologisch als auch psychologisch prädisponierende Faktoren gibt, die die Anfälligkeit für eine Verhaltenssucht erhöhen.
Wovon ist das abhängig?
Wir nehmen an, dass es bei vielen Betroffenen eine gewisse Anfälligkeit auf biologischer Ebene gibt. Das sogenannte Belohnungssystem im Gehirn von Menschen mit stoffgebundenen Süchten oder Verhaltenssüchten scheint Besonderheiten aufzuweisen.
Was heißt das genau?
Unser Belohnungssystem reagiert im Alltag auf angenehme oder verlockende Reize oder auf deren Aussicht. Wenn es aktiviert ist, wird der Botenstoff Dopamin ausgeschüttet und das fühlt sich gut an. Dies passiert etwa, wenn wir einem geliebten Menschen begegnen oder dessen Stimme hören, ein vertrautes Musikstück hören, ein Stück Kuchen in der Auslage sehen oder eine Prämienzahlung in Aussicht gestellt wird. Dann sind wir für einen gewissen Moment glücklich oder beschwingt, erleben ein Hochgefühl. Normalerweise wird das Dopamin dann zeitnah abgelöst von seinem hemmenden Gegenspieler Gamma-Aminobuttersäure (GABA), sodass unsere Gefühlswelt sich wieder einpendelt in einen weniger aufgeregten Zustand.
Was ist der Unterschied zu Menschen mit einer wie zuvor genannten Anfälligkeit?
Bei Menschen, die zu Abhängigkeit neigen, scheint es so zu sein, dass das Belohnungssystem im Alltag weniger leicht aktivierbar ist, sodass grundsätzlich weniger Hochgefühle erlebt werden als bei Menschen mit einem sensitiveren Belohnungssystem. Die Versuchung liegt nahe, nachzuhelfen und sich mehr Reize, mehr Stimulation zu verschaffen.
Häufig kommen dann noch prägende Erlebnisse in Kindheit und Jugend hinzu. Betroffene haben zum Beispiel wenige Möglichkeiten erlernt, sich angenehme Gefühle auf gesunde Weise zu verschaffen oder auf hilfreiche Weise mit schmerzhaften Gefühlen umzugehen oder eigene Impulse zu regulieren.
Oder aber es gab wiederholte negative Erlebnisse mit wichtigen Bezugspersonen in dem Sinne, dass die zentralen emotionalen Grundbedürfnisse, zum Beispiel nach Bindung, Autonomie und Kompetenzerleben, immer wieder nicht erfüllt beziehungsweise frustriert worden sind. Das ruft bei Kindern und Jugendlichen schmerzhafte Gefühle hervor, die dann irgendwie reguliert werden müssen. Kinder und Jugendliche können das nur so gut, wie es ihrem Alter und den Umständen entsprechend eben geht, insbesondere, wenn erwachsene Bezugspersonen keine orientierende Anleitung geben.
So kann es dann sein, dass der ganz junge Mensch sich in Fantasien oder bestimmte Aktivitäten flüchtet, um negative Gefühle weniger zu spüren. Das kann der Nährboden sein für eine spätere Verhaltenssucht, die dann die Funktion der Emotionsregulation übernimmt.
Wie geht es dann weiter?
Für die Aufrechterhaltung spielen dann neben dem Fehlen alternativer Bewältigungsstrategien auch Konditionierungsmechanismen eine Rolle. Wenn ich wiederholt die Erfahrung mache, dass negative Gefühle durch die Aktivität gedämpft werden beziehungsweise unangenehme Gefühle von Langeweile oder Leere durch ein Kickgefühl ersetzt werden können, dann steigt die Auftretenswahrscheinlichkeit des Verhaltens. Wir nennen das in der Verhaltenstherapie Verstärkungslernen oder instrumentelle Konditionierung. Außerdem können durch den Mechanismus der klassischen Konditionierung ursprünglich bedeutungslose neutrale Reize, die beim Ausüben der Aktivität und dem Erleben der angenehmen Wirkung anwesend sind, in Zukunft selbst das Verlangen nach der Aktivität oder das Sich-der-Aktivität-Hingeben auslösen, zum Beispiel das Klackern eines Spielautomaten den Drang zu spielen, der Anblick eines Werbeplakats den Drang zu kaufen oder ein Einrichtungsgegenstand oder eine Musik, die einfach nur „dabei“ war, wenn Betroffene dem Suchtverhalten nachgegangen sind.
Ist die Biologie der Sucht bei nicht stoffgebundenen Süchten anders als bei Drogensucht?
Nicht im Hinblick auf das Belohnungssystem. Diesbezüglich gehen wir von identischen Mechanismen aus. Auch die Lernmechanismen sind die gleichen.
Die körperliche Abhängigkeit, die wir bei stoffgebundenen Süchten sehen, gibt es bei der Verhaltenssucht allerdings nicht, da sie auf der Zuführung des Stoffes beruht. Der Körper gewöhnt sich quasi an den Stoff, der immer wieder zugeführt wird, passt sich der Zuführung von beispielsweise Alkohol oder Amphetaminen an. Man kann sich das so vorstellen, dass der Körper die Zufuhr irgendwann „braucht“ wie Essen und Trinken. Wenn die Zufuhr dann ausbleibt, streikt der Körper und reagiert mit heftigen Symptomen, also dem Entzugssyndrom.
Gibt es bei Verhaltenssüchten Unterschiede zwischen Männern und Frauen?
Es gab in der Vergangenheit gewisse Hinweise darauf, dass Männer eher von Spielsucht und Frauen eher von Kaufsucht betroffen sind, beides konnte bis dato aber nicht verlässlich nachgewiesen werden.
Sind Verhaltenssüchte gut therapierbar?
Betroffene wie auch Therapeuten und Therapeutinnen sind sehr herausgefordert, aber ich bin tief davon überzeugt, dass die Therapie gut möglich ist, wenn einige Grundprinzipien beachtet werden. Behandler und Behandlerinnen müssen sich im Klaren sein, dass Betroffene eine große innere Ambivalenz gegenüber Veränderung mitbringen. Das gehört dazu und ist zu erwarten. Die Leute haben durch ihre Sucht immense subjektive Vorteile mit großer motivationaler Zugkraft. Die Wirkung des Dopamins und der Konditionierung, die ich beschrieben habe, ist nicht zu unterschätzen. Es ist also zu erwarten, dass die Therapie länger als bei anderen Problemen die Arbeit mit der unsicheren Motivation im Fokus hat. Wenn wir damit professionell umgehen und die Ambivalenz als problemimmanent annehmen, den Betroffenen aber dennoch wertschätzend und wohlwollend auf Augenhöhe begegnen, also immer wieder die Kosten und Nutzen des aktuellen Verhaltens offen besprechen und abwägen, den Betroffenen Zeit lassen und auch kleinste Schritte mitgehen, dann halte ich die Sucht für gut therapierbar. Irgendwann ist der Punkt gekommen, an dem die Schritte konkreter werden – oder aber Patienten und Patientinnen sich nach reiflicher Abwägung entscheiden, dass sie (noch) nicht so weit sind, tatsächliche Veränderungen vorzunehmen.
Auch ist es enorm hilfreich für beide Seiten, die individuellen Hintergründe und die Funktion der Sucht zu verstehen. Nur dann ist seitens des Therapeuten oder der Therapeutin echte Empathie möglich und seitens der Betroffenen echtes Selbstmitgefühl. Beides dient dann als Vehikel, alternative Verhaltensmöglichkeiten zu entwickeln und zu erproben, sodass das Suchtverhalten langsam weniger nötig wird.
Ein ganz zentraler Punkt für den nachhaltigen Therapieerfolg ist auch die Auflösung der schon beschriebenen Kopplungen von Auslösereizen und Verhalten. Das kann aufwendig und langwierig sein, ist aber unerlässlich, damit das Suchtverhalten nicht irgendwann quasi urplötzlich wieder ausgelöst wird, wenn Betroffene an einer Sportsbar vorbeigehen oder ein bestimmtes Musikstück hören.
Wie genau geht man hier bei der Therapie vor?
In der Therapie steht zu Beginn das individuelle vertiefte Verständnis der Hintergründe und Aufrechterhaltung der Probleme, das Fallkonzept. Wie sieht die Geschichte der Person aus in Bezug auf Gefühle und emotionale Bedürfnisse und in Bezug auf die Suchtentwicklung. Der Behandlungsplan sieht dann zu Beginn Aufklärung und Information über die spezifische Sucht vor.
Wie geht es danach weiter?
Es wird dann an den zugrunde liegenden emotionalen Strukturen gearbeitet. Betroffene werden darin unterstützt, auch die unangenehmen Empfindungen zu erleben, zuzuordnen und dahinter liegende emotionale Bedürfnisse angemessen zu versorgen.
Das ermöglicht Schritt für Schritt die Reduktion des suchtartig ausgeübten Verhaltens. Dazu kann es notwendig sein, sich für eine Weile komplett von dem kritischen Verhalten zu distanzieren oder klare Regeln hinsichtlich Zeit und Anlass des Verhaltens einzuhalten. Auch ist es manchmal nötig, den Zugang entsprechend zu begrenzen. Zum Beispiel bestimmte Internetseiten zu sperren, generell den Zugang zum Internet zu begrenzen, Kreditkarten zu deaktivieren oder Ähnliches.
Was ist das Ziel einer Therapie?
Langfristiges Ziel wäre bei der Spielsucht die Abstinenz, bei allen anderen Verhaltenssüchten ein „kontrolliertes Verhalten“, das nicht mehr die stimmungsregulierende Funktion erfüllt und in einem angemessenen Rahmen passiert: Kaufen nur noch, wenn eine Anschaffung notwendig ist, Sport im Umfang, den die Weltgesundheitsorganisation als gesundheitsförderlich empfiehlt, und so weiter.
Sehr wichtig ist es auch, wie schon erwähnt, Konditionierungen zu entkoppeln, also sich bisher auslösenden Reizen auszusetzen, ohne dem Verhalten nachzugehen. Vor einem Spielautomaten oder einem Computer sitzen, ohne sie zu benutzen, eine Pornoseite im Internet anschauen, ohne sexuell aktiv zu werden, Werbespots für Schnäppchen anschauen, ohne zu kaufen, und so weiter. In Einzelfällen kann eine medikamentöse Begleitbehandlung erwogen werden.