Mit der neuen Ausstellung „Einhorn. Das Fabeltier in der Kunst“ widmet sich das Museum Barberini in Potsdam einem mystischen Wesen, das seit Jahrhunderten fasziniert.
Es ist eine stille, fast überirdische Szene: Eine junge Frau sitzt auf einer Lichtung, in sanftes Licht gehüllt. Ihr Blick ist ruhig, beinahe entrückt. In ihren Armen hält sie ein Einhorn, das mythische Wesen – ein Sinnbild vollkommener Unschuld und Wahrhaftigkeit? Es schmiegt sich an sie, als erkenne es in ihr jene Seele, der allein es sich zu nähern wagt. Das Gemälde „Jungfrau mit Einhorn“, um 1467/68 entstanden und dem venezianischen Maler Dario di Giovanni zugeschrieben, zeigt Caterina Corner, die spätere Dogaressa von Venedig – als Allegorie der Keuschheit. Giovanni, bekannt für seine religiösen Werke, hat hier mehr geschaffen als ein Porträt: Er hat ein Ideal gemalt. In dieser zarten Verbindung von Frau und Tier verschmelzen Würde und Sanftmut, Mensch und Symbol, Wirklichkeit und Allegorie. Es ist nicht nur ein Bild von einer Frau mit einem Fabelwesen. Es ist ein stilles Zeugnis jener Zeit, in der Tugend und Schönheit noch als göttliche Zwillinge galten – und in der die Menschen noch an Einhörner glaubten.
Das Einhorn kommt in vielen Kulturen vor
Das Einhorn, jenes Tier, das niemals gefangen wurde und doch in allen Kulturen Spuren hinterließ, ist das Leitmotiv der neuen Ausstellung im Museum Barberini in Potsdam. Noch bis zum 1. Februar 2026 werden unter dem Titel „Einhorn. Das Fabeltier in der Kunst“ 140 Werke aus über 80 internationalen Museen gezeigt, darunter Gemälde, Zeichnungen, Druckgrafiken, illuminierte Manuskripte, Plastiken und Tapisserien. Die Ausstellung wird von einem vielfältigen Begleitprogramm aus Führungen, Workshops, Vorträgen, Gesprächen, einer Lesung, einem Konzert und einem Filmprogramm ergänzt. Die Schau entstand in Zusammenarbeit mit der Réunion des musées nationaux – Grand Palais (Rmn-GP) und dem Musée de Cluny in Paris, wo sie vom 13. März bis 12. Juli 2026 als zweite Station zu sehen sein wird.
Im Barberini zu sehen ist unter anderem das große Horn des Einhorns aus Saint-Denis – im Mittelalter berühmt und Ziel vieler Pilger. Daneben stehen alte Apothekengefäße für das sagenumwobene „Einhornpulver“. Um 1533 malte Hans Baldung Grien das Einhorn im Paradies, 1650 ließ Paulus Potter es in der Legende von Orpheus auftreten. Reiseberichte erzählen von angeblichen Sichtungen, Naturforscher wie Conrad Gessner suchten nach Beweisen. Prunkvolle Gefäße aus Elfenbein und Silber feierten im 16. und 17. Jahrhundert das schöne Tier.
„Das Einhorn ist magisch“, sagt Michael Philipp, Chefkurator des Museums und Kurator der Ausstellung. „Das mythische Wesen ist ein vielschichtiges Zeichen, von dem eine besondere assoziative Energie ausgeht. Es ist in keinem Zoo als lebendes Tier zu sehen, aber zugleich allgegenwärtig – in der Popkultur, als Werbung oder in den Kinderzimmern.“
Wie kaum ein anderes Fabelwesen hat das Einhorn die menschliche Vorstellungskraft über Jahrtausende beschäftigt. Seine Spur führt zurück bis zu 4000 Jahre alten Steintafeln aus Mesopotamien, wo ein einhörniges Tier als Zeichen königlicher Macht erscheint. Von Indien aus wanderte die Vorstellung weiter nach Persien, China und Japan, bevor sie in der Antike Eingang in das westliche Denken fand. Jede Kultur passte das Motiv ihrer eigenen Symbolsprache an – mal als Gazelle, mal als Ziege, mal als majestätisches Pferd. Erst in Europa erhielt es seine bis heute vertraute Gestalt: schneeweiß, pferdeähnlich, mit der schraubenförmig gedrehten Stirnspitze.
Im 15. Jahrhundert erlebte das Einhorn seine Blüte in der Kunst der christlichen Welt. Die eingangs beschriebene „Jungfrau mit Einhorn“ steht exemplarisch für jene Zeit, in der das Tier als Allegorie der unberührten Seele verstanden wurde. Das Einhorn konnte nur von einer Jungfrau gezähmt werden – eine Deutung, die aus der spätantiken Schrift Physiologus stammte. Dort hieß es, das wilde Tier komme nur in ihrem Schoß zur Ruhe: das Symbol Christi, gebändigt von Maria. So wurde das Einhorn zu einer Allegorie des göttlichen Mysteriums, der Menschwerdung Gottes, und damit zu einem der zentralen Bildmotive mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Frömmigkeit.
Faszination bleibt trotz Entzauberung
„Das eine Horn auf der Stirn, das kein anderer Vierfüßer trägt, gilt als Zeichen der Auserwähltheit“, erklärt Michael Philipp. „Es zeigt das Einhorn als etwas Außergewöhnliches, das einer anderen Welt als der alltäglichen angehört. Dieser übernatürliche Status, seine ferne Vertrautheit, macht es zu einer Projektionsfläche für Sehnsüchte und Idealvorstellungen, die sich aus überlieferten Geschichten und Bildern speist.“
So durchzieht das Einhorn Jahrhunderte der Kunstgeschichte – von der Verkündigungsszene in gotischen Tapisserien über die Jagddarstellungen der Renaissance bis hin zu den Emblemen barocker Kunstkammern. Im Mittelalter stand es für Reinheit, im 16. Jahrhundert für Macht und Seltenheit, im 18. Jahrhundert für das Staunen der Naturwissenschaft. Das vermeintliche Horn, das man in Kirchenschätzen aufbewahrte, stellte sich später als Zahn des Narwals heraus. Doch die Entzauberung nahm dem Fabelwesen nichts von seiner Faszination. Im Gegenteil: In der Aufklärung wurde das Einhorn zum Sinnbild des Wunders, das sich der Vernunft entzieht. Im 19. Jahrhundert kehrte es in die Kunst zurück – als Symbol der Sehnsucht, als Gegenbild zur entzauberten Welt. Künstler wie Arnold Böcklin oder Gustave Moreau malten das Einhorn als Träumer zwischen den Zeiten, als Boten einer verlorenen Einheit von Mensch und Natur. Im 20. Jahrhundert wird es frei von religiösen Deutungen. „Die intensive wissenschaftliche Recherche und die im Katalog versammelten Textquellen eröffnen neue Impulse für die kunsthistorische Forschung und belegen, wie das Fabelwesen als Projektionsfläche für kollektive Vorstellungen und kulturelle Narrative diente“, sagt Ortrud Westheider, Direktorin des Museums Barberini. „Damit leistet die Ausstellung einen wegweisenden Beitrag zur Erforschung mythischer Motive in der Kunst und ihrer Rezeption durch die Jahrhunderte.“
So wie das Einhorn im 15. Jahrhundert für die Reinheit der Seele stand, wird es im 20. Jahrhundert zum Symbol des Unbewussten. In René Magrittes Gemälde „Der Meteor“ von 1964, einer Leihgabe aus einer Privatsammlung, verwandelt sich das Tier in ein Rätsel der Moderne. Sein Horn besteht nicht aus Elfenbein, sondern aus Architektur – ein schlanker, turmartiger Aufsatz, als habe jemand eine Burg auf seine Stirn gesetzt. Magritte hält das Einhorn in lakonischer Ruhe: der Körper weich und lebendig, das Horn fest und steinern, ein Zwitter aus Natur und Konstruktion. Es ist, als hätte sich das Fabelwesen selbst in ein Denkmal verwandelt – ein Lebewesen, das zur Säule wird, ein Traum, der Festungscharakter annimmt.
Dieses Bild fasst die lange Geschichte des Einhorns zusammen: von den Steintafeln der Antike bis zu den Leinwänden des Surrealismus, vom Sinnbild göttlicher Reinheit bis zum Symbol des Unbegreiflichen. Das Einhorn hat über Jahrtausende hinweg seine Form gewandelt, aber nie seine Kraft verloren. Es bleibt ein Wesen der Zwischenwelt – zu wild, um gezähmt zu werden, zu schön, um nicht geglaubt zu werden. Und vielleicht ist es gerade das, was seine Magie bewahrt: die Ahnung, dass irgendwo zwischen Wirklichkeit und Traum ein Tier lebt, das nur darauf wartet, wieder gesehen zu werden.